11
Der Komikon selbst trug mich in dieser Nacht zu meiner Stallbox zurück und legte mich in meine Hängematte. Nicht etwa, weil er die Kluft erspürt hätte, die sich zwischen Dono und mir aufgetan hatte, sondern in der Hoffnung, dass mich eine göttliche Inspiration treffen und ich das Lied des Drachen entschlüsseln würde, solange ich noch unter der unmittelbaren Wirkung des Giftes stand.
Das jedoch geschah nicht.
Sobald ich in meiner Hängematte lag, fiel ich in eine Ohnmacht, die rasch in einen fiebernden Schlaf überging. Einmal wachte ich auf und sah den Drachenmeister ungeduldig neben mir stehen; er wartete auf meine Enthüllungen; das zweite Mal stand Dono dort und beobachtete mich mit unverhohlenem Widerwillen. Ganz offenbar hatte der Komikon ihm befohlen, Wache zu halten.
Als ich das dritte Mal aufwachte, beugte sich ein Inquisitor über mich.
Hände mit Haut von der Farbe verblichener Knochen griffen nach mir. Ich starrte sie an, verständnislos zunächst, bis ich schrie und mich blitzartig aufrichtete.
Dono stand auf der anderen Seite der Hängematte. Sein Gesicht lag in undurchdringlichem Schatten. Hinter ihm scharten sich Drachenjünger, deren schillernde, türkisfarbene Roben wie vom Tau benetzte Orchideen im flackernden Licht der Fackeln glänzten, die sie in den Händen hielten.
»Du bist angeklagt, unkeusche Handlungen mit einer Bestie vollzogen zu haben«, dröhnte der Inquisitor. »Hiermit wirst du zu lebenslanger Haft verurteilt.«
Meine Furcht entzündete das Gift, das ich bei Einbruch der Dunkelheit vom Reittier des Komikon aufgenommen hatte; ich warf mich auf den Inquisitor, kämpfte wie eine Raubkatze mit Klauen und Zähnen, wand mich wie eine Schlange.
»Dono!«, kreischte ich. »Hol den Drachenmeister!«
Der Inquisitor besaß jedoch unnatürliche Kraft. Er drückte mich nieder, band mir Hände und Füße und warf mich dann wie einen Sack über seinen Rücken. Umringt von dem Kreis aus Drachenjüngern, während Dono schweigend am Eingang meiner Box stehen blieb, wurde ich in den Hof hinausgeschleppt.
Drei geflügelte Drachen warteten unruhig in der Mitte des Hofs. Ihre freien Schwingen wirbelten gewaltige Staubwolken auf. Rechts von ihnen, in respektvollem Abstand, stand Eidon und stritt mit einem Tempelakolythen. Hinter ihm brüllte Eierkopf nach dem Drachenmeister, der jedoch nirgends zu sehen war. Ringus rannte soeben durch das Sandsteintor in den benachbarten Hof. Tempelwächter bedrohten die restlichen Schüler derweil mit ihren Lanzen, befahlen ihnen, still zu stehen, während sich ein Akolyth an Ringus’ Verfolgung machte.
Ich drehte den Kopf, und meine Wange kratzte über die nach Weihrauch duftende Robe des Inquisitors. Dono stand immer noch auf der Schwelle meiner Stallbox. Seine Augen glühten wie geschmolzener Zinn.
Er hatte mich an den Tempel verraten.
Wütend, weil ich sein Angebot ausgeschlagen hatte, mit ihm zur Küste zu fliehen, zutiefst gekränkt, weil ich die Zunge eines Drachen seinem Phallus vorzog, erbost, weil ich lieber den Tod riskierte, indem ich in den Stallungen des Drachenmeisters blieb, statt irgendwo anders seine Roidan Yin zu werden. Deshalb hatte Dono den Tempel über meine Taten mit der Drachenkuh des Komikon informiert. Und der Tempel hatte die Gelegenheit sofort ergriffen.
Verzweiflung überkam mich, ihr folgten Trauer und das Gefühl eines Verlustes. Durch Donos Verrat schien ich meine Kindheit erneut zu verlieren. Ich war eine Ausgestoßene, ich war verloren.
Der Inquisitor warf mich über einen der Drachen. Vier Akolythen sprangen vor, um mich festzuhalten.
»Nein!«, heulte ich, während mir Tränen über die Wangen strömten; der Drache schüttelte sich aufgeregt und stampfte unruhig unter mir auf den Boden. »Dono, du weißt nicht, was du da tust!«
Vielleicht wusste er es doch.
Wie die meisten Malacariten hatte ich die Gerüchte über die Frauengefängnisse des Tempels gehört. Ich hatte aufgeschnappt, dass die Frauen dort kaum mehr als Kiyu waren, Sexsklavinnen für die Wächter, welche Türen und Fenster der Gefängnisse bewachten. Ich wusste, dass diese Wachen selbst Kriminelle waren, die ihre Strafe in dem Gefängnis absaßen, das jeweils neben dem Frauengefängnis lag. Jeder Verurteilte, der Frömmigkeit an den Tag legte und Reue über seine Verbrechen zeigte, wurde mit Wachdienst in einem Frauengefängnis belohnt.
Donos harte, funkelnde Augen verrieten mir, dass er sehr genau wusste, was er tat, dass er genau wusste, welches Schicksal mich von diesem Moment an erwartete.
Ich warf mich schluchzend herum, bockte und biss wahllos um mich. Die Tempelakolythen packten meine Arme und Beine und banden mich an Hand-und Fußgelenken an den Sattel des Drachen, während der Inquisitor hinter mir aufstieg.
Der Mann beugte sich über mich, und sein Gewicht drückte mich tief auf den Drachen, da er die halb liegende Position eines Drachenreiters einnahm.
»Nein!«, kreischte ich. Dann verschwand der Boden unter mir mit einem solch gewaltigen Ruck, dass ich einen Augenblick glaubte, der Inquisitor hätte mir mit seiner Klinge den Kopf vom Rumpf abgetrennt.
Ich flog.
Gewaltige Schwingen peitschten neben uns die Luft, schienen den Himmel herunterzudrücken, trugen uns hinauf. Unter mir arbeiteten die mächtigen Drachenmuskeln. Ich wurde nach vorn und zur Seite geschleudert, hatte das Gefühl, als würde ich jeden Augenblick abgeworfen. Um mich herum waren nur der Lärm und das Wogen des Drachen.
Ich suchte Halt am Hals des Drachen, bekam stattdessen seine knorpelige Haut zu packen und hielt mich aus Leibeskräften daran fest. Ich gab dem Gewicht des Inquisitors nach, so dass ich flach auf das Rückgrat des Drachen gepresst wurde. Doch bei jedem Schwingenschlag ruckte auch der Körper des Inquisitors. Wenn er jetzt fiel und mich mit sich in die Tiefe riss?
»Ich falle!«, schrie ich, aber der Wind verwehte meine Worte. Ich hielt den Atem an und presste meine Wange an den Drachen unter mir.
Plötzlich geschah etwas Seltsames in mir, etwas Brutales rührte sich, als würde eine unsichtbare Faust, die hinter meiner Leber und meinem Zwerchfell verborgen gewesen war, plötzlich nach außen drängen, zu meinem Bauchnabel. Gleichzeitig lief ein eiskalter Schauer über meinen Unterleib, und der Geschmack von Schwefel überzog meine Zunge.
Mutter. Ihr Geist. Ich verließ Brutstätte Re, und dadurch fesselte ich ihren Geist in meiner Psyche.
Ich versuchte, mich aufzurichten. »Nein, nein, wir müssen zurückreiten; halt, halt!«
Der Inquisitor schlug mir mit seiner Handwurzel ins Genick. »Bleib ruhig liegen, sonst stürzen wir beide in den Tod!«
Der Geist tobte in mir. Ich biss die Zähne zusammen, kämpfte gegen dieses aufdringliche Wüten, hielt mich an dem Drachen fest und schloss die Augen, während seine gewaltigen Schwingen die Luft peitschten.
Eine Ewigkeit später hörte der mächtige Flügelschlag auf. Ich öffnete erschreckt die Augen und spannte mich an, in Erwartung des Sturzes.
Ich konnte nichts erkennen; nur kalte, feuchte Dunkelheit, die mir das Mark aus den Knochen zu saugen schien. Ich hob meine Wange ein Stück. Unter den ausgestreckten Schwingen des Drachen sah ich nur Finsternis. Ich drehte den Kopf. Auf der anderen Seite war ebenfalls alles dunkel.
Nein. Da, ein dünnes, silbriges Band, das ich zunächst nicht identifizieren konnte. Dann begriff ich, dass es sich um einen Fluss handelte.
»Lieg still!«, blaffte der Inquisitor und stieß meinen Kopf herab, damit ich wieder flach lag. Dann knallte es neben uns, als die Drachenschwingen erneut die Luft peitschten. Ich klammerte mich verzweifelt an der Drachenhaut fest, als wir heftig schaukelten.
Nach einigen Schlägen glitt der Drache erneut mit reglos ausgebreiteten Schwingen durch die Luft. Der Wind pfiff über meinen Kopf hinweg.
Der schreckliche Flug dauerte an, bis ich vollkommen von feuchtem Nebel bedeckt war und vor Kälte zitterte. Ich hatte jedes Gefühl in meinen Händen und Unterschenkeln verloren.
Der Inquisitor beugte sich vor und zurück, je nachdem, wie er die Zügel hielt, und streckte die Arme schließlich neben dem Hals des Drachen aus.
Der heftig schnaubte.
Ich versteifte mich. Die Kräfte der Drachenkuh erlahmten sichtlich.
Kurz darauf brüllte der Inquisitor seinem Reittier etwas zu, veränderte die Position seiner Beine und beugte die Arme. Der Drache tauchte plötzlich zur Erde hinunter. Wir landeten.
Ich hielt mich an den knorpeligen Buckeln der Haut fest, konnte vor Anspannung kaum atmen und kniff die Augen fest zusammen. Wir sanken so steil, dass ich froh über das Gewicht des Inquisitors war, der mich auf den Drachen herabdrückte. Ich war überzeugt, dass ich sonst von dem Rücken gerutscht wäre und nur noch in den Stricken gebaumelt hätte, mit denen ich an den Drachen gefesselt war.
Wir sanken weiter, und ich bemerkte ein flackerndes Licht unter uns: Ein Signalfeuer auf einer Klippe.
Der Drachen drehte unvermittelt ab und flog auf das Licht zu. Die Schwingen nahmen ihre Arbeit wieder auf. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ein Flug so brutal, solch ein Kampf war. Alles war ständig in Bewegung, ein Chaos aus Lärm und arbeitenden Muskeln. Und dann roch ich den Dschungel, nahm den feuchten, erdigen Geruch von verrottendem Farn wahr, von Pflanzensaft, Blättern, Knospen und Blüten. Die Luft wurde wärmer, da wir uns dem Signalfeuer auf der Klippe näherten.
Die Drachenkuh schlug schnell und heftig mit ihren Schwingen, als sie ihre Position veränderte, Hals und Brust hob und ihre Hinterbeine beinahe senkrecht nach unten streckte.
»Halt dich gut fest! Wir landen!«, brüllte mir der Inquisitor ins Ohr.
Plötzlich gab es eine gewaltige Erschütterung, eine Art von abgefedertem Aufprall, und wir landeten.
Ich sah mich um, zitternd, als hätte ich Schüttellähmung.
Ein Stück von uns entfernt standen Männer mit Fackeln in den Händen. Sie bildeten einen Kreis. Einer von ihnen trat vor und reichte dem Inquisitor seine Fackel. Er trug keine Tempelkleidung, sondern nur eine ausgefranste Tunika aus Hanf, die bis kurz über sein Knie reichte. Er hatte ein rundes, weiches Gesicht und einen recht dicken Bauch. Wie betäubt musterte ich ihn, als er die Fesseln um meine Fuß- und Handgelenke löste.
»Absteigen!«, befahl er mit einer merkwürdig süßlichen, hellen Stimme.
Ein Eunuch. Der Mann war ein Eunuch!
Ich war so erschöpft, dass ich keine Kraft mehr aufbringen konnte, um Gegenwehr zu leisten. Ich gehorchte und stieg ab.
Meine Knie gaben nach, als meine Füße den Boden berührten. Aber ich fiel nicht, sondern sackte nur gegen die bebende Flanke des Drachen. Der Eunuch schnalzte mit der Zunge und richtete mich auf. Der Griff seiner pummeligen Hand, mit der er meinen Oberarm packte, war fest, aber nicht schmerzhaft.
Er schob mich vorwärts, in den Kreis der Fackeln.
Die Männer hatten buschige Augenbrauen und Hakennasen. Streng wirkende Münder in dichten, gepflegten Bärten. Ihr Haar war makellos geölt und zu den vielen Zöpfen geflochten, die einem hohen Tempelwächter anstanden.
Ein Gesicht unter ihnen kam mir bekannt vor, eine unbeteiligte Miene über den zahllosen Hautfalten eines Kinns, darunter ein breitschultriger, korpulenter Leib: der Ranreeb, der Heilige Vorsteher des Brutkollektivs, zu dem auch Brutstätte Re gehörte. Ich kannte ihn von den Mombe Taro-Paraden in meiner Jugend; Mutter hatte ihn mir immer gezeigt.
»Das ist sie«, brummte der Ranreeb. Seine Stimme schien aus seinem gewaltigen Bauch zu kommen, und er starrte mich eindringlich an. »Schafft sie näher zu mir!«
Der Eunuch zerrte an meinem Arm, bis ich direkt vor dem Ranreeb stand.
Die Fackel des Heiligen Vorstehers wärmte meine Wangen und tauchte mich in ihr gelbliches Licht.
Über den Falten seines Kinns erwiderte der Ranreeb gleichgültig meinen Blick, als ich zu ihm hinaufstarrte. Der Geruch von Weihrauch, der ihn umhüllte, war so stark, dass ich den Duft fast schmecken konnte, als würde ich auf einem der gelben Harzkörner kauen.
Er musterte mein Gesicht. Ich hätte den Blick senken sollen, tat es jedoch nicht.
»Dieser Schüler hat die Wahrheit gesagt«, brummte der Ranreeb schließlich. Meine Brust vibrierte unter dem Klang seiner Stimme, als würden Felsbrocken auf meinen Körper herunterprasseln. »Seht ihre Augen. Sie kennt Drachen.«
Der Kreis der Männer zog sich um mich zusammen. Ihre Fackeln zischten und blakten. Der Eunuch packte mein Kinn und drehte meinen Kopf hin und her, damit die Versammelten mich ausgiebig betrachten konnten.
»Drachenaugen«, murmelte einer der Drachenjünger. Er klang angewidert und gleichzeitig zufrieden.
Drachenaugen.
Plötzlich fühlte ich mich in den Drachenkonvent Tieron zurückversetzt, in das Refugium für die ausgemusterten Bullen, denen ich seit meinem zehnten Lebensjahr gedient hatte. Die Konventälteste, die ich Gelbgesicht genannt hatte, wegen der Farbe ihrer von Gelbsucht gezeichneten Haut, stand wieder vor mir, sagte mir Lebewohl, als ich vor dem bevorstehenden Besuch der Tempelinquisitoren aus dem Konvent floh.
»Aber bedenkt«, hatte Gelbgesicht zu mir und Kiz-dan gesagt, während sie mit einer Blase Drachengift herumspielte, die sie mir geben wollte, »es brandmarkt euch. Eure Augen, wisst ihr. Jeder, der etwas von Drachen versteht, wird sehen, wie viel Gift ihr genommen habt, und jeder, der von dem Ritus weiß, wird erraten, wie intim ihr des Giftes teilhaftig geworden seid.«
Drachenaugen. Gelbgesicht hatte sie gehabt. Blutunterlaufene Augen mit unnatürlich kleinen Pupillen. Augen, die starr waren, wenn sie einen ansahen. Augen, die nur langsam blinzelten, und dazu selten. Eben wie die eines Drachen.
Ich schloss die Augen, damit die Umstehenden mich nicht länger anstarren konnten.
Natürlich vergeblich. Sie wussten es.
Dono hatte es ihnen verraten: Ich hatte mich Drachen hingegeben.
Nach einem anstrengenden Marsch über einen ausgetretenen, überwucherten Weg wurde ich in ein Labyrinth aus Stein geführt, dessen Korridore nicht beleuchtet waren. Niemand außer mir und meinen Begleitern benutzte je diese Korridore. In den niedrigen Gängen war kein Laut zu hören, bis auf das Rascheln der Roben, das angestrengte Keuchen des Heiligen Vorstehers und das leise Knistern der Fackeln.
Der Eunuch, der mich immer noch am Arm führte, blieb stehen, fummelte mit einem Bund rostiger Schlüssel herum, der an seiner Hüfte hing, und öffnete schließlich eine Holztür.
Dann packten mich Hände, von hinten, und stießen mich in den Raum. Ein stechender Geruch schlug mir entgegen, wie der einer schon lange nicht mehr benutzten Latrine. Ich wirbelte herum, erhaschte einen letzten Blick auf den Ranreeb, der von dem Kreis fackeltragender Drachenjünger umringt war, dann wurde mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Der Schock betäubte mich einen kurzen Moment. In meinem Gefängnis war es dunkel. Das einzige Licht sickerte durch einen schmalen Spalt unter der Tür herein. Das Holz des Bodens unter meinen Füßen war weich, morsch, aufgeweicht von Fäulnis, und kleine Steine lagen hier und da. Mein Kopf berührte fast die Decke, die ebenfalls aus verrottendem Holz bestand. Ich warf mich gegen die Tür, schlug dagegen. Aber sie gab meinen Fäusten, meinen Nägeln nicht auch nur einen Zentimeter nach.
Ich schrie, als wäre ich verrückt geworden.
Später, viel später, nachdem ich an die Tür gekauert eingeschlafen, wieder erwacht und in eine Ecke meiner Zelle geschlurft war, um zu urinieren, kratzte es an der Tür, als würde sie geöffnet.
Aber sie schwang nicht auf.
Stattdessen tauchte ein Lichtviereck in der Tür auf, etwa in Kinnhöhe. Ein Trinkschlauch aus Leder wurde durch die Öffnung geschoben und noch etwas, danach, ein weißer Block, der mit einem feuchten Schmatzen auf dem Schlauch landete.
Der unverkennbare Geruch von Paak stieg mir in die Nase, gebackenem Eiweiß. Mir lief beinahe schmerzhaft das Wasser im Mund zusammen. Das war der weiße, feuchte Block: Paak. Ich taumelte zu der Stelle an der Tür und hob ihn hastig vom Boden auf.
Das Paak war kalt und viel zu salzig, aber ich verzehrte es gierig. Mit zitternden Händen schraubte ich den Verschluss vom Schlauch und trank.
»Gib den Schlauch zurück, wenn du fertig bist«, bellte jemand auf der anderen Seite der Tür.
»Lasst mich raus«, keuchte ich. »Bitte!«
»Gib den Schlauch zurück!«
Ich wusste instinktiv, dass die Klappe in der Tür sich schließen würde, sobald ich ihn zurückgegeben hatte, und ich wieder im Dunkeln eingesperrt wäre.
»Ich bin noch nicht fertig mit Trinken«, log ich. Mein Schließer antwortete nur mit einem Grunzen.
In dem flackernden Licht, das durch die Öffnung fiel, musterte ich meine hölzerne Zelle.
Es war ein perfekter Würfel, etwa zwei Meter lang, breit und hoch. Es gab weder eine Schlafpritsche noch einen Eimer, in den ich mich hätte erleichtern können. Es gab in dieser Zelle nichts außer mir selbst, dem vermodernden Boden und Wänden, der Dunkelheit und den Spinnen, die darin herumkrabbelten.
Dann bemerkte ich, dass sich die Wände in dem Licht der Fackel zu bewegen schienen. Etwas wimmelte darüber.
Doch halt, nein. Es waren Schriftzeichen. Die Wände waren von groben Hieroglyphen überzogen, die im Licht zu tanzen schienen.
Zitternd las ich die Zeilen direkt neben mir:
Zweiundzwanzig Jahre zähle ich und heiße Bayen Lutche Rits Limia. Ich habe ein unnatürliches Interesse an der alten Literatur Malacars.
Jedenfalls sagte mir das der Inquisitor, der mir auf dem Wai-Bayen-Tempelplatz auflauerte.
Er informierte auch meinen grinsenden Gebieter, dass ich lüsterne Neigungen an den Tag gelegt hätte und dass ich lebenslang eingesperrt werden würde. Mein Gebieter hielt eine Schriftrolle in der Hand, und ich erkannte, obwohl sie zusammengerollt war, mein erbrochenes Siegel. Er hatte meinen letzten Brief an X abgefangen. Ich bete darum, dass X von meinem Schicksal erfuhr und fliehen konnte.
Direkt unter diesen Zeilen stand, von einer anderen Hand ins Holz geritzt, noch ein Text:
Zwei Jahre nach ihrer Einkerkerung verschied Bayen Lutche Rits Limia in den Hütten der Wächter. Ich spreche nun ihren Namen aus und befreie ihren Geist von diesen Wänden.
Mein Herz schlug wie rasend, als ich zu der nächsten Zeile glitt, die in die Wand eingeritzt war.
Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, mein Name ist Bayen Ka Ryns Tak. Während ich von der Kanzel der Dritten Vorlesungshalle in der Ondali Wapar Liru sprach, wurde ich verhaftet und angeklagt, subversive Literatur gelehrt zu haben. Ich hege nicht den Wunsch, lange hier eingesperrt zu bleiben. Jede, die dies liest, muss den Mut und den Glauben aufbringen, dass sie aushalten und fliehen kann.
Doch auch unter diesen Zeilen befanden sich Zeichen, die sich in eine andere Richtung neigten, eine andere Handschrift verrieten und die Geschichte der Frau zu Ende führten.
Sechs Jahre nach ihrer Einkerkerung starb Bayen Ka Ryns Tak in der Hütte der Mediziner, nach ihrer dritten, von den Ärzten herbeigeführten Fehlgeburt. Ich spreche nun ihren Namen aus und befreie ihren Geist von diesen Wänden.
Ich erschauerte, und meine Nackenhaare richteten sich auf. Fast jeder Fleck auf den Wänden meiner Zelle war mit solchen Nachrufen beschrieben.
Das bedeutete zweierlei.
Erstens: Alle, die hier eingesperrt worden waren, waren des Lesens und Schreibens kundig gewesen. Folglich waren es gebildete Frauen aus vornehmen Bayen-Familien gewesen. Trotzdem war auch ihr Leben von der Willkür des Tempels und den Launen mächtiger, missgünstiger Männer bestimmt worden.
Zweitens wurde mir klar, dass alle, die diese Kammer betreten hatten, hier auch gestorben waren.
»Gib den Schlauch zurück!«, knurrte die Stimme auf der anderen Seite der Tür, und ich fuhr zusammen.
»Bitte, schließt die Klappe nicht!«, flehte ich den Mann an.
»Gib ihn zurück, sonst bringen wir dir weder Essen noch Trinken.«
Ich schob den Schlauch durch das Viereck aus Licht, zog aber meine Finger nicht zurück. »Bitte, lasst es offen! Ich kann nichts sehen!«
Ein Bambuszweig sauste pfeifend auf meine Finger herunter. Ich schrie und riss die Hand zurück. Im selben Moment schloss sich die Klappe wieder.
»Nein!«, schrie ich und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. »Macht auf, ich kann nicht atmen, kann nichts sehen; lasst mich nicht hier drin!«
Niemand antwortete.
Die Zeit verschwamm. Die Klappe öffnete sich, Nahrung und Wasser wurden hindurchgeschoben, ich aß und trank, dann schloss sich die Klappe wieder und begrub mich in Gestank und Dunkelheit. Meine Zähne klapperten vor Kälte, meine Beine zitterten unablässig. Meine Füße und Knöchel schwollen an und pulsierten wie eitrige Verletzungen.
Donos Verrat lastete schwer auf mir, und der Gedanke daran zerriss mir immer wieder das Herz, wenn ich aus meinem unruhigen, nervösen Schlaf erwachte.
Der Geist meiner Mutter machte sich bemerkbar; er war in meinem Körper eingesperrt. Jedes Mal, wenn ich schlief, fühlte ich seine pulsierende Präsenz in mir. Ich sah ihn im Schlaf, eingenistet in meinem Bauch, in Form eines Yamdalar Cinaigour, des von Speichel überzogenen Kokons, den ein alter Brutdrache erzeugt, wenn er sich auf seinen Tod vorbereitet. Ich sah, wie Klauen versuchten, diesen Kokon zu zerreißen, damit der Geist ganz in mich eindringen, meinen Körper übernehmen konnte. Nur das Gift, das sich noch in meinem Leib befand, hielt den Geist in diesem Kokon gefangen. Aber mir war klar, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handeln konnte, bevor dieses schwächliche Gefängnis sich auflösen würde, und dann würde sich der Geist immer, wenn ich einschlief, meines Leibes bemächtigen; nach dem Aufwachen müsste ich mir dann den Weg in meinen Körper zurück erkämpfen und diesen fremden Geist unterwerfen, der mein Fleisch kontrollierte und seinem Begehren Stimme verlieh: Waivia.
Denn genau dies war mir zuvor schon einmal widerfahren.
Wenn der Geist dann im Laufe der Zeit an Stärke gewann, würde er mich zunehmend auch während des Wachens beherrschen. Er würde mich kontrollieren, so wie ein Puppenspieler seine Marionetten beherrscht.
Ich fürchtete den Schlaf, denn er bot keine Möglichkeit zur Flucht, sondern stellte nur eine weitere Quelle von Elend und Furcht dar. Also hielt ich mich wach, sang die Geschichten, die in die Wände geritzt waren; auch die wenigen Geschichten, die ich gefunden hatte, die nicht vollendet worden waren.
Nach einer Weile erschien es mir absolut notwendig, auch meinen Namen in die Wände einzuritzen, damit sich mein Los nicht gänzlich unbemerkt vollzog, mein Verscheiden nicht ganz spurlos blieb.
Ich suchte mir einen Stein auf dem schmutzigen Boden aus und fuhr mit den Fingern über die Holzwände, bis ich eine freie Stelle fand.
Es war nicht leicht, Symbole in die Wände zu ritzen, trotz der Weichheit des Holzes. Aber es gelang mir, ich triumphierte bei jedem Symbol, das ich vollendete, hatte das Gefühl, etwas Großes bewerkstelligt zu haben, etwas Wertvolles, trotz meiner eher kläglichen Beherrschung der Schreibkunst. Doch es fiel mir ungeheuer schwer, den Stein aufzunehmen, wenn ich aus einem unruhigen, kalten Schlaf erwachte. Mich aus meiner Verzweiflung zu reißen, zum Handeln zu zwingen, wie gering dieses Handeln auch sein mochte, wurde eine ungeheure Aufgabe.
Manchmal brachte ich es einfach nicht über mich, wiegte mich stattdessen auf dem Boden, den Kopf zwischen den Knien.
Mut ist der Preis, den das Leben fordert, wenn es Frieden gewährt. Jeder, der das nicht weiß, kennt die lebhafte Einsamkeit der Furcht nicht. Und wenn ich den Mut fand, diesen Stein aufzuheben, fand ich, jedenfalls für eine kleine Weile, eine merkwürdige Art von Frieden.
Und das ist es, was ich in diese verrottenden Wände ritzte:
Einige nennen mich Danku Re Darquels Zarq, andere dagegen Zarq-die-Ausgeburt. Beides trifft zu, denn jetzt, mit siebzehn Jahren, bin ich eine Ausgeburt. Ich bin eine Rishi, kann jedoch lesen und schreiben. Ich bin eine Frau, habe jedoch Drachenbullen gedient. Ich bin eine Ausgeburt, weil ich mich einst zu dem Glauben verstieg, eines Tages den Status eines Drachenmeisters zu erlangen.
Dies zu schreiben gab mir ein Ziel, einen Sinn, hielt mich bei Verstand. Es fühlte sich an, als würde ich Donos Verrat begraben, indem ich meine Hand nach den Frauen ausstreckte, die vor mir diese Zelle kennengelernt hatten. Ich träumte von ihnen, kannte sie als liebe Freundinnen. Ich war nicht allein, nicht, wenn ihre Namen ständig über meine Lippen drangen. Nicht, wenn meine Geschichte mit ihrer auf diesen Wänden stand.
Irgendwann in dieser düsteren Ewigkeit dämmerte mir, dass meine Litanei, wenn auch entfernt, der Musik der Drachen ähnelte, der uralten Aufeinanderfolge, die jeden Drachen mit den Toten, den Lebenden und sogar den noch Ungeborenen verband. Der Akt, diese Symbole in das modrige Holz zu ritzen, verband mein Herz und meinen Geist, selbst meinen Atem mit den Frauen, die hier, an dieser Stelle, gestorben waren, und darüber hinaus mit allen Frauen und Männern; denn wir alle mussten eines Tages sterben, ob in einer Zelle oder in einer Hängematte, im Kindbett oder durch ein Missgeschick. Der Tod war ein unbestreitbarer Einiger.
Dann öffnete sich eines Tages die Tür vor mir, zu meinem Schreck, und ich fiel vornüber ins Leben zurück.