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Sonnenuntergang. Ein heißer, erdiger Geruch hing in der Luft, als würde ein gewaltiger Laib aus Schlamm, mit Dschungelpflanzen umwunden, in einem ungeheuren Brennofen backen. Dieser Geruch ist jedoch in der Zeit des Feuers, wenn sich das Zwielicht herabsenkt, charakteristisch für Brutstätte Re.
Ich balancierte gefährlich auf zwei Wänden der Latrine, die ich im Lauf des Tages errichtet hatte, und nagelte einige Bretter quer darauf, um der Latrine mehr Standfestigkeit gegen die Monsun-Regen zu verleihen.
Als sich der Himmel rot färbte, kam ein schmal gebauter, etwas weibisch wirkender Diener in den Hof zurück. Ich hielt in meiner Arbeit inne und beobachtete, wie er sich vor den verbeulten Kessel kniete, der auf der primitiven Kochstelle vor der Hütte der Lehrlinge stand, nicht weit von dem Schlachttisch und einer Reihe von Ställen entfernt. In Letzteren hockten grunzende Renimgars. Der zart gebaute Diener legte seine hohlen Hände vor den Mund, blies in die Glut unter dem Kessel und facht das Feuer an. Mein leerer Magen verkrampfte sich allein bei dem Gedanken an Nahrung. Müde machte ich mich wieder an die Arbeit.
Eine Weile später stolperten die Novizen schweigend in den Hof.
Sie blieben in der Mitte, hielten sich von mir fern. Vor allem ein Novize schlurfte geduckt vorbei, als wäre ich eine Kwano-Schlange, die jeden Moment zuschnappen konnte. Ich hatte mich zuvor ohne Eierkopfs Wissen der Dienste dieses Jungen bemächtigt, als ich ein zweites Paar Hände brauchte, welche die schiefen Wände meiner Latrine hielten, während ich eine provisorische Stütze annagelte. Den jungen Novizen hatte ich mit gezischten Flüchen und Drohungen zwingen müssen, mir zu helfen. Seine Angst vor Eierkopf und die Wut, einer Frau zu gehorchen, noch dazu einer Ausgeburt, wurde nur von seiner Furcht vor dem Himmelswächter übertroffen.
Während die Novizen zu ihrer Hütte schlurften, kehrten die Diener und die Veteranen, die langjährigen Schüler, von ihren Arbeiten zurück, die sie irgendwo in der Stalldomäne verrichtet hatten. Ich spürte ihre Blicke, während ich arbeitete, und trieb die Nägel noch härter ins Holz, ignorierte das Zittern in meinen erschöpften Armen und Beinen, ebenso wie die verkrampften Muskeln. Während meine Hammerschläge nachdrücklich durch die Stallungen hallten, fühlte ich das Staunen der Jünglinge darüber, dass eine Frau über Geschick mit Werkzeug und Holz verfügte, selbst ein so klägliches, wie ich es besaß, wie ein Kribbeln auf meinem Rücken.
Die Reisigbündel unter dem großen Kessel glühten langsam auf, rot wie der Abendhimmel, und der fettige Geruch von Fleischeintopf stieg aus dem Gefäß empor. Der Jüngling, der als Koch eingeteilt war, rührte mit einer großen Holzkelle angestrengt in dem Brei und befahl einem Novizen, Wasser zu holen, einem anderen, mehr von dem Reisig heranzuschaffen, das unter dem Vordach der Hütte gestapelt war. Einen dritten wies er an, die eingesperrten Renimgars zu füttern.
Die Veteranen mit ihren vernarbten, muskulösen Körpern machten es sich auf dem Boden bequem, während die Diener nicht weit von ihnen hockten. Auch wenn ich ihn nicht ansah, wusste ich sehr genau, wo Dono saß; auch er hatte seinen schlanken, langgliedrigen Körper auf dem Boden ausgestreckt.
Trotz der Feindseligkeit, mit der er mir gestern begegnet war, freute ich mich, ihn zu sehen, denn er war mir vertraut. Er gehörte zu meinem Clan.
Wenngleich, um die Wahrheit zu gestehen, meine Mutter und ich zu Nas Rishi Poakin Ku erklärt worden waren. Damals war ich erst neun gewesen, und man hatte uns aus dem Töpferclan ausgestoßen, wegen des Vergehens meiner Mutter gegen den Tempel, als sie versucht hatte, Waivia zurückzukaufen. Selbst mich hatte man zu einer labilen, gewalttätigen Person erklärt, die unfähig wäre, Verwandschaftsbande zu knüpfen, was jedoch weder Dono noch mein Herz wussten; ich sehnte mich nach einem einfachen Blick, einer kleinen, aufmunternden Geste von meinem früheren Milchbruder.
Ich erhielt keines von beiden.
Als mir klar wurde, dass ich mich nur zum Essen mit den anderen Schülern verspätete, beendete ich zögernd meine Arbeit. Ich ließ mich vorsichtig von den Holzwänden herunterrutschen und betete, dass die Wände nicht zusammenstürzten und mich unter sich begruben, während ich herunterkletterte; dann sammelte ich steif das Werkzeug zusammen und legte es wieder in die Kiste zurück. Meine Muskeln fühlten sich so hart an wie Mörtel.
Als ich zu den Schülern ging, bemühte ich mich, mir meine Müdigkeit nicht anmerken zu lassen und mich zu benehmen, als wäre die Anwesenheit einer Frau in den Stallungen des Drachenmeisters das Normalste von der Welt. Doch das kalte Schweigen, das sich über die anderen Jugendlichen legte, vermochte ich nicht zu ignorieren.
Das letzte Abendrot der untergehenden Sonne verlief in dem tiefen Blau des sternenübersäten Himmels. Der zierliche Diener, der als Koch eingeteilt war, schlug mit der Kelle auf den großen Schlachttisch, so dass die Stapel Holznäpfe darauf bedenklich wackelten.
»Essen ist fertig!«, verkündete er. Zwei Klauenvoll Jungen sprangen auf, schnappten sich jeder einen Napf vom Tisch und stellten sich drängelnd und stoßend in einer Reihe vor dem Kessel an. Ich nahm an, dass diese Jünglinge allesamt Diener waren, denn die Narben auf ihren Rücken verkündeten, dass sie schon mehrere Jahre am Mombe Taro teilgenommen hatten. Aber sie waren noch zu jung, als dass sie bereits SchülerVeteranen hätten sein können. Der Koch klatschte Eintopf in ihre ausgestreckten Näpfe, welche die Diener dann zu den ältesten Schülern trugen, den Veteranen, die auf dem Boden saßen oder lagen. Mit großen Gesten, als würden sie ein Opfer auf dem Altar des Tempels darbringen, stellten die Diener die Näpfe mit dem Eintopf vor den Veteranen ab.
Mir fiel auf, dass nicht nur einer, sondern gleich zwei Diener um das Privileg wetteiferten, Dono zu bedienen.
Die Veteranen aßen ohne Hast oder Anmut, ließen sich ihre Näpfe immer wieder füllen, während wir anderen zusahen. Als Frau war ich daran gewöhnt zu warten, bis die Männer gesättigt waren, bevor ich selbst aß, aber für die Novizen war eine solch unterwürfige Haltung neu und schrecklich. Nur wenige konnten ihren Hunger beherrschen, ohne unruhig herumzuzappeln oder an den Nägeln zu kauen.
Schließlich waren die Veteranen satt.
»Diener!«, rief der zart gebaute Koch, und während die Veteranen Fliegen verscheuchten oder sich mit Stöckchen Breireste aus den Zähnen pulten, stellten sich die Diener vor dem Kessel auf.
Wir Novizen warteten, sabbernd wie Köter, während unsere Mägen sich zusammenkrampften und unsere Blicke immer wieder zum Kessel zuckten. Die Nacht senkte sich allmählich über den Hof. Hände fuhren in die Holznäpfe, Eintopf wurde genüsslich von Fingern geleckt. Die gesättigten Veteranen und Diener holten Glücksräder und Würfel aus abgenutzten Lederbeuteln, die sie an ihren Hüften trugen. Eierkopf, der mit den Veteranen gegessen hatte, nahm dem Koch schließlich die Kelle aus der Hand.
»He, Novizen«, knurrte er, vor dem Kessel stehend und die gefüllte Kelle erhoben, »schnappt euch Näpfe und stellt euch auf!«
Wir alle rannten nach den Näpfen, welche die Diener mit vorsätzlicher Gleichgültigkeit irgendwo hatten stehen lassen, sobald sie satt waren. Es gab weit mehr Novizen als Näpfe.
Ich erspähte einen benutzten Napf neben dem Schenkel eines Veteranen und lief rasch darauf zu, suchte mir den Weg zwischen den auf dem Boden liegenden Jungen und Jünglingen. Die, an denen ich vorbeilief, versteiften sich, und alle sahen mich an, alle bis auf einen.
Ich fürchtete, dass der Veteran den Napf aufheben und mir verweigern würde, ihn zu benutzen. Offenbar war derselbe Gedanke auch allen anderen gekommen, denn die Spannung in der Luft wuchs, je näher ich dem Napf kam.
Ich zwang mich dazu, nicht die Fäuste zu ballen und mit erhobenem Haupt zu gehen.
Der Veteran, dem ich mich näherte, saß steif da und weigerte sich, auch nur in meine Richtung zu blicken. Ich blieb vor ihm stehen und hielt den Atem an.
Dann bückte ich mich steif, um den Napf aufzuheben.
Die Muskeln in seinem Unterarm zuckten.
Ich griff zu. Verzweiflung und der Hunger trieben mich an, ich war schneller als er und hatte den Napf gepackt und hochgerissen, bevor er ihn wegschlagen konnte. Ich drückte den Napf gegen meinen Bauch wie einen kostbaren Schatz und trat frech von dem Veteranen weg.
Feindselige Blicke umringten mich. Ich schluckte und ging zum Kessel, den Napf fest umklammert, und sah weder nach rechts noch nach links. Mir brach der kalte Schweiß aus. Hinter mir hörte ich, wie ein Veteran ausspie, und stellte mir vor, wie er mit dem Daumen an seine Ohrmuscheln schlug, um den Fluch abzuwenden, den die Begegnung mit einer Ausgeburt mit sich brachte.
Als ich das Ende der Schlange erreichte, die sich vor dem Kessel aufgebaut hatte, war ich erschöpft und schwach, als hätte ich einen Kampf ausgefochten.
Die Schlange bewegte sich quälend langsam weiter. Ich schwitzte vor Nervosität, der Schweiß kühlte ab und lief in einem dünnen Rinnsal über mein Rückgrat. Das Zwielicht wurde vom Dunkel der heraufziehenden Nacht verdrängt.
Ein Jüngling mit einem leeren Napf kam heran. Ich trat zur Seite; Frauen aßen immer erst, wenn alle Männer sich an dem Essen gesättigt hatten.
Ein anderer Diener trat vor, auch er mit einem leeren Napf in den Händen. Ich trat erneut zurück. Ein dritter kam, ein vierter, und jeder ließ sich seinen Napf füllen. Jedes Mal trat ich zurück, aber meine Anspannung wuchs beinahe unerträglich.
Schließlich war ich an der Reihe.
Eierkopf sah mich feixend an. »Nichts mehr da.«
»Was?«
Er zuckte mit den fleischigen Schultern, und eine leichte Unsicherheit schlich sich auf sein grinsendes Gesicht. »Nichts mehr da.«
Ich starrte in den schwarzen Kessel. Nur eine dünne Schicht Brei war übrig, die auf der Innenseite des Kessels erkaltete und langsam hart wurde.
Die Schüler kicherten.
Meine Wangen brannten.
Wie dumm von mir, wie entsetzlich dumm, zuzulassen, dass die anderen sich zuerst satt aßen. Als ich in die Lehre des Drachenmeisters eintrat, trotzte ich einer der ältesten Konventionen, nämlich der, was eine Frau tun konnte und was nicht. Ich musste auch die anderen Regeln bedenken, die das Leben von Frauen bestimmten, und mich über sie hinwegsetzen, wenn ich diese Lehre überleben wollte.
Wütend auf mich selbst, starrte ich in den leeren Topf, während die Sichel des zunehmenden Mondes in den schwarzen Himmel aufstieg.
Und wie so oft, viel zu oft, wenn ich in Schwierigkeiten geriet, ließ ich mich von meiner Wut überwältigen. Ich beschloss, dass ich heute nicht hungrig schlafen gehen würde. Oh nein.
Ich knallte den Napf auf den Schlachttisch und marschierte zu den Renimgar-Käfigen. Ich machte mich an dem Riegel zu schaffen, riss die Tür auf und schnappte mir eines der echsenähnlichen Säugetiere. Es zappelte und schlug mit seinen Hinterläufen, versuchte, seine Krallen in meine Haut zu graben, aber ich hielt es an seinem zähen, ledernen Hals und zog es heraus. Dann schlug ich die Stalltür zu und verriegelte sie wieder.
Im Konvent von Tieron hatte ich viele Renimgars geschlachtet und zum Essen zubereitet, zudem Schlangen, Maulwürfe, Ratten und selbst Affen. Alles, was sich bewegte und in Tieron für essbar gehalten wurde, war in unserem Kochtopf gelandet.
Ich hämmerte den Renimgar so fest auf den Tisch, dass der Aufprall das Tier betäubte, schnappte mir die rostige Machete, die am Rand lag, und schnitt dem Tier die Kehle durch. Der Schrei des kleinen Tiers gellte durch die Nacht, so scharf und durchdringend, wie ein Säbel durch die Haut eines Babys gedrungen wäre. Es war ein schrecklicher Schrei, der einem in der Seele wehtat.
So schrien sie immer.
Dann trug ich das immer noch zappelnde Tier zum Kessel und hielt es darüber, damit das Blut in den Kessel tropfte.
»Was machst du da, he?«, brüllte Eierkopf mich an, der sich vor mir aufgebaut hatte. »Du kannst dir nicht einfach Fleisch nehmen, wann immer du willst!«
»Ich bin hungrig!« Ich starrte ihn finster an, irritiert von dem sterbenden Tier in meinen Händen und gereizt angesichts meiner Dummheit, den anderen beim Essen den Vortritt zu lassen.
Meine Reaktion auf Eierkopfs Einwand war jedoch vollkommen unangemessen, denn eine Frau durfte ihren Ärger einem Mann gegenüber niemals in der Öffentlichkeit zeigen, und Eierkopf war ein Mann, auch wenn er ein Dotterhirn hatte. Ich fühlte, wie die anderen mich verblüfft anstarrten.
»Aber das kannst du nicht«, stammelte Eierkopf und wandte sich dann gereizt zu den Veteranen um, damit sie ihm halfen.
Einen Moment herrschte Schweigen.
»Wenn sie kochen will, soll sie kochen«, antwortete schließlich eine Stimme aus der Dunkelheit. Ich sah in die Richtung, aus welcher die Stimme gekommen war. Dono.
Die Freude durchfuhr mich wie eine feurige Zunge, denn hier war endlich die Sippensolidarität, nach der ich mich so gesehnt hatte.
»Und das ist von jetzt an ihre Aufgabe, nicht mehr Ringus’«, fuhr Dono fort. »Sie soll jeden Abend kochen.«
Der zart gebaute Diener, der den Brei erhitzt hatte, spitzte verächtlich die Lippen. Offenbar war er Ringus.
»Ach ja?«, sagte ein bärtiger Jüngling, der neben Ringus auf dem Boden lag. Er hatte schulterlanges braunes Haar, das von rötlichen Strähnen durchzogen war, seine Schenkel waren so muskulös wie die eines Drachen, und auch wenn seine Stimme nicht ärgerlich klang, verriet sein Tonfall seine Anspannung. »Und was soll Ringus dann stattdessen tun?«
Einen Moment schwieg Dono. »Nun, er kann dir dienen, Eidon. Denn das gefällt dir doch, oder? Ringus’ Dienste.«
Gekicher brandete auf, erstarb jedoch ebenso rasch wieder. Ringus blickte zu Boden, und Eidons Schultern zuckten.
Eierkopf bemerkte offenbar nichts von der Spannung zwischen den beiden oder war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er zupfte an einer Locke seines Haares. »Aber sie muss doch nicht früher aufhören, damit sie kochen kann, richtig? Sie muss es tun, wenn ihre Arbeit fertig ist, denn ich will auf ihre Arbeitszeit nicht verzichten, nur damit sie Ringus’ Arbeit tun kann.«
Dono warf die Würfel, die er in der Hand hielt, auf den Boden, setzte betont gelassen sein Spiel fort. »Sie wird beides tun. Das ist der Preis, den die Ausgeburt für ihre Anmaßung zahlt, zu glauben, sie könnte sich Fleisch nehmen, wann immer sie Hunger hat.«
Mir sank der Mut. Das war keine Solidarität, oh nein, sondern eine Strafe für meine Kühnheit.
Eidon setzte sich auf und legte seine Arme locker über seine Knie. Die Muskeln in seinen Oberschenkeln traten hervor, deutlich zu erkennen, selbst im schwachen Licht des Mondes. »Ich kann mich nicht erinnern, dass der Komikon dich ausgewählt hätte, für uns andere zu sprechen, Dono.«
»Wollen wir abstimmen, Eidon?«, fragte Dono ruhig. »Willst du das, eine Abstimmung? Es gibt noch andere hier, denen das gefällt, was Ringus am besten kann, und ich bin sicher, dass sie sich freuen, wenn er ein bisschen mehr Zeit hat, um ihre Bedürfnisse ebenso zu befriedigen wie deine. Also sag, willst du eine Abstimmung?«
»Eine Abstimmung ist eine ausgezeichnete Idee«, antwortete Eidon. »Eine Abstimmung, die darüber entscheidet, ob wir Essen zu uns nehmen müssen, das eine Ausgeburt zubereitet hat oder aber Ringus, der seit einem Jahr für uns gekocht hat, ohne dass einer von uns an vergiftetem Essen verreckt wäre.«
»Sie wird uns nicht vergiften«, gab Dono zurück, dem sein Ärger trotz seiner gelassenen Pose deutlich anzumerken war. »Der Tempel würde sie sofort hinrichten.«
»Der Tempel wird sie sowieso hinrichten. Das ist nur eine Frage der Zeit.«
Mein Herz schlug schneller.
Dono sah sich unter den Schülern um. »Je mehr Arbeit wir ihr geben, desto schneller wird sie untergehen. Je länger sie bleibt, desto mehr Grund hat der Tempel, dem Komikon seinen Titel zu entziehen. Und dann werden wir alle hier vertrieben.«
»Das weißt du nicht sicher, Dono, mein Freund«, widersprach Eidon. »Falls der Tempel dem Komikon seinen Titel entzieht, könnte genauso gut einer von uns vom Tempel als neuer Komikon eingesetzt werden.«
»Du gibst dich einer Täuschung hin«, schnaubte Dono. »Der Tempel würde diese Stallungen läutern. Und wenn er die Wahl eines Schülers durch den Komikon in Frage stellt, wird er seine Entscheidung für uns alle hinterfragen. Also werden wir alle hier vertrieben.«
Dono deutete mit dem Finger auf die Novizen, die sich etwas abseits von den Veteranen zusammengeschart hatten. »Ihr wisst, wer die Ersten sein werden, die gehen müssen, sobald der Tempel dem Komikon seine Stellung abspricht? Ihr alle! Ihr werdet hingerichtet, so sicher, wie die Sonne morgen früh aufgeht, weil der Komikon euch noch an demselben Tag kürte, an dem er sie auserwählt hat.«
Die Novizen sahen sich furchtsam an.
»Willst du behaupten, dass der Komikon sie nicht hätte erküren sollen, Dono?«, murmelte Eidon bedrohlich leise. »Stellst du das Urteil des Komikon in Frage?«
»Beschützt du etwa eine Ausgeburt, Eidon?«
»Also eine Abstimmung, heho?«
»Eine Abstimmung.« Dono hob die Stimme. »Alle, die dafür sind, dass die Ausgeburt zusätzlich zu ihrer Arbeit kocht, heben die Hand. Je schneller sie hier verschwindet, desto sicherer sind wir alle.«
»Vergesst nicht, wofür ihr stimmt, wenn ihr jetzt die Hand hebt«, warf Eidon ein. »Für das Risiko, dass euer Essen vergiftet wird.«
Die Unsicherheit der Jungen und Jünglinge war fast spürbar. Die Novizen warfen sich gegenseitig Blicke zu. Langsam, unbehaglich, hoben einige die Hände.
Dono zählte sie schweigend, so wie wir alle, und stieß dann einen leisen Fluch aus.
»Sieht aus, als hättest du verloren, Dono«, erklärte Eidon.
Dono sprang auf. »Sie wird uns allen den Tod bringen, wenn sie bleibt!«
Er warf mir einen boshaften Blick zu, durchquerte den dunklen Hof und verschwand durch den Torbogen. Ein Schüler nach dem anderen richtete seinen Blick auf mich, die ich immer noch mit dem leblosen Renimgar in der Hand neben dem Kessel stand.
»Ringus, bewache die Ausgeburt, während sie das Essen für morgen zubereitet«, befahl Eidon in demselben Tonfall, den er auch Dono gegenüber angeschlagen hatte. »Ich will nicht, dass dieses Fleisch verschwendet wird, und sie kann keinen ganzen Renimgar allein essen. Sie wird ihn kochen, dieses eine Mal, das war’s. Und du, Mädchen, mach das nicht noch einmal, hörst du? Sonst bekommst du die Folgen zu spüren. Dein Himmelswächter soll verdammt sein!«
Ich sollte bald feststellen, welch eine Gunst mir Eidon unabsichtlich erwiesen hatte, als er Donos Schachzug, mich für den Kochdienst einzuteilen, abschmetterte. Denn als ich den großen Kessel endlich mit einem dampfenden Eintopf für das nächste Abendessen gefüllt hatte, war ich benommen vor Erschöpfung.
Dono hatte recht gehabt: Hätte ich diese Arbeit jeden Abend tun müssen, zusätzlich zu meinem schweren Tagwerk, wäre ich schon bald zerbrochen.
Eine Mahlzeit zu kochen bedeutete nicht nur, jeden Abend ein Tier zu schlachten, sondern man musste auch Wasser von der Pumpe sowie Featongetreide und Sesalnüsse aus dem Silo holen, der hinter dem dritten Hof lag, und dann, wieder an der Hütte im Hof, die Glut unter dem Kessel neu anfachen.
Wenn dann alle Zutaten im Kessel schmorten, musste man den Brei ständig umrühren, damit er nicht am Boden anbrannte und am Rand zu kalt wurde.
Ich verfluchte mich mehr als einmal, dass ich diese Arbeit angenommen hatte, selbst wenn es nur für einen Abend war. Es wäre gewiss besser gewesen zu hungern. Und ich hatte meinen Status durch meinen Trotz nicht im Geringsten verbessert, sondern ich hatte in allen nur das Bewusstsein verstärkt, eine welch anomale Kreatur ich war, und zudem Dono die Gelegenheit gegeben, die Gefahr zu betonen, die meine Gegenwart für alle anderen bedeutete.
Wie weit würde Dono gehen, um mich aus den Stallungen zu vertreiben? Wie würde der Tempel mit dem Drachenmeister verfahren und anschließend mit mir?
Ringus ließ mich nicht aus den Augen, als ich das Essen für den nächsten Tag zubereitete.
Er war ein schlanker, schmalhüftiger Diener mit blassen, glänzenden Lippen, die aussahen, als wären sie mit klarem Öl bestrichen. Er war sehr sanftmütig, ein bisschen nervös, und seine Augen waren so groß, dass er stets einen staunenden Gesichtsausdruck zu haben schien. Ich stellte bald fest, dass er die Angewohnheit hatte, Dinge zu streicheln, als ob Kelle und Tisch des Trostes bedurften.
Ich rührte den Brei im Kessel um, während Ringus unruhig döste. Er lehnte an dem Schlachttisch und zuckte immer wieder aus dem Schlaf hoch. Dann kontrollierte er meine Fortschritte. Ich selbst schlief ebenfalls zweimal ein, wurde jedoch ruckartig wach, als meine Hand, welche die Kelle hielt, in den Brei sank.
Um Mitternacht, als es kühl wurde und der feuchte Tau sich herabsenkte, sprach ich schließlich das erste Mal.
»Hat er jetzt genug gekocht?«
Ringus richtete sich auf. Er nahm mir die Kelle aus der Hand und tauchte sie mehrmals in den Brei. Dann zuckte er mit den Schultern, nahm einen der angeschlagenen und ungewaschenen Näpfe von dem Stapel auf dem Schlachttisch und füllte den Eintopf hinein. Dann reichte er ihn mir.
»Iss.«
Ich gehorchte, und er verfolgte mit schläfrigem Blick jede meiner Bewegungen. Lächerlich. Wer konnte mich daran hindern, den Brei zu vergiften, wenn die Schüler schliefen, falls ich sie wirklich allesamt vergiften wollte? Vielleicht kam Ringus derselbe Gedanke, denn er seufzte und nahm sich ebenfalls von dem Eintopf, bevor ich meinen Napf auch nur zur Hälfte geleert hatte.
Meine Erschöpfung verstärkte sich mit dem warmen Essen im Bauch tausendfach. Ringus stellte seinen leeren Napf auf den Tisch und nickte mir zu. Gemeinsam hoben wir den schweren, hölzernen Deckel auf den Kessel.
Es war vollbracht. Ich konnte gehen.
In diesem Moment tauchte sie auf.
Ich erkannte sie zunächst nicht, denn ich war vollkommen erschöpft. Ich sah nur die wohlwollende Gestalt, die sie angenommen hatte. Die einer Taube.
Die Taube flatterte über den Hof, schimmerte perlgrau im Mondlicht. Sie landete etwa eine Armeslänge entfernt von Ringus und mir, legte den Kopf schief und kam näher, schritt mit diesem ruckartigen Hüpfen auf uns zu. Ihre Knopfaugen waren so rot und wächsern wie fleischfarbene Beeren.
Sie näherte sich ohne Furcht. Es war unnatürlich.
»Was …?«, begann Ringus, als ein bläulicher Nebel vom Boden unter der Taube aufstieg, zäh und nach Schwefel stinkend.
Ringus und ich wichen zurück, bis wir mit unseren Rücken an den Schlachttisch hinter uns stießen. Ohne mich umzudrehen oder die Taube aus den Augen zu lassen, tastete ich auf dem Tisch nach der Machete, mit der ich den Renimgar geschlachtet hatte.
»Kwano, Eine Schlange, Erster Vater, Urahn und Geist aller Kwano überall, ich flehe dich an, weiche von uns!«, keuchte Ringus. Er stammelte das Gyin-Gyin, die Anrufung des Drachentempels, die jedes Kind, jeder Vater, jede Mutter und jeder Heilige Hüter kannte. »Ich rufe die Mächte des Ranon ki Cinai an, gelenkt vom Erhabenen Imperator Mak Fa-sren.«
Die Taube schwoll an. Der blaue Dunst stieg wie eine Säule in die Luft und bewegte sich in einer engen Spirale um den Vogel. Ich schloss die Faust um den Griff der Machete.
»Ich rufe an die Autorität des Allmächtigen Drachen«, intonierte Ringus atemlos, während ihm die Augen fast aus den Höhlen traten, »des Einen Drachen, des Urahns und Geists aller Drachen allüberall.«
Die Taube schwoll zur Größe einer Melone an. Ihre Federn standen wie Stacheln ab, und ihre Augen versanken tief in ihrem Fleisch. Den Schnabel sperrte sie weit auf, wie ein Fisch sein Maul aufreißt, wenn er an Land gespült wird und nach Luft schnappt.
»Halt den Mund!«, zischte ich Ringus zu. »Du machst es nur noch schlimmer.«
»Ich rufe an die Macht Res, des Heiligen Bullen von Brutstätte Re …«
Die obszön angeschwollene Taube stieß ein ersticktes Kreischen aus und platzte. Fleischbrocken prallten gegen unsere Schienbeine, Federn sanken auf uns herab, verkohlt und rauchend. Der blaue, schweflige Dunst verdichtete sich und nahm eine flackernde Gestalt an … die meiner Mutter.
»Re hilf uns!«, quiekte Ringus.
Ihr langes, schwarzes Haar fächerte sich wie Schwingen hinter ihrem Kopf auf, und die grünbraunen Flecken auf ihrer Djimbihaut schienen zu glühen – das Grün so wie Glühwürmchen, das Braun so rötlich wie die Schamottsteine eines Brennofens. Der Bitoo, den sie trug, fiel in blauen, leuchtenden Falten bis zu ihren Füßen und schillerte fast wie ein lebendiges Wesen. Mein Herz schwoll an und pochte schmerzhaft in meiner Brust.
Sie streckte zitternd die Hand nach mir aus, und auf ihrem Gesicht lag ein unsicheres Lächeln. »Zarq?«
Ich ließ die Machete fallen und stürzte mich in ihre Umarmung.
Ich drückte mein Gesicht an ihren Busen und weinte. Sie war warm und weich und real, die Arme, die sie um mich legte, hüllten mich vergebend und liebend ein.
Ach Mutter, du, die du mich in deinem Wahnsinn so grausam missbraucht hast, die du mich zum Konvent brachtest, wo ich verstümmelt wurde, und mich dann durch den Tod im Stich gelassen hast, warum nur sehne ich mich so nach deiner Liebe?
Sie strich mir das Haar aus dem Nacken und drückte ihre Lippen auf meine Haut.
»Verzeih mir, verzeih mir«, murmelte sie. Ihre Tränen liefen warm und süß über meinen Rücken. »Mein kleines Mädchen, vergib mir.«
»Mutter.« Ich weinte, drückte sie fest an mich und fühlte ihr knochiges Rückgrat unter meinen Fingern, so vertraut und einladend.
»Still jetzt, Kind«, murmelte sie. »Du weißt, dass ich dich liebe.«
Doch das wusste ich nicht, nicht mehr seit jenem Sa Gikiro, als ich neun Jahre alt gewesen war und meine beschützte Welt im Töpferclan plötzlich in tausend Scherben zerbarst.
»Mutter.« Ich sog tief den warmen Duft ihres Halses ein. Ihr glänzendes schwarzes Haar bedeckte mich wie ein Segen.
»Hör mir zu, Zarq.« Ihre Stimme wurde strenger, nahm diesen kräftigen, sanften Ton an, der mir aus meiner Kindheit so vertraut war. Sie hielt mich auf Armeslänge von sich, betrachtete mich, während die Tränen wie Sterne auf ihren Wangen funkelten. »Meine geliebte Zarq, hör mir zu.«
»Mama …«
»Hör zu!«
Ich biss mir auf die Lippen und hielt die Luft an. Stumm betete ich darum, dass sie diesen magischen Bann von Liebe und Schutz nicht brechen würde, indem sie den Namen aussprach, den ich jetzt ganz gewiss nicht hören wollte.
»Waivia braucht dich, Zarq.«
Ich schloss die Augen, fühlte, wie mein Inneres verwelkte, fühlte, wie die Zuflucht und Sicherheit, die mir ihre Zuneigung schenkte, versickerte.
»Du musst sie finden, Zarq. Verlass diesen Ort. Vergiss diese verrückte Lehre und suche sie.«
»Mutter.«
»Sie ist ganz allein.«
»Mutter.«
»Sie braucht mich.« Ihre Stimme wurde rauer; sie packte meine Ellbogen fester. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen, wollte mich an dem Moment von vorhin festklammern, als sie weinte und an meinem Hals Worte ihrer Liebe zu mir flüsterte. Ich wollte mich für immer in ihrer Umarmung vergessen.
»Sie haben ihr wehgetan, Zarq. Sie war noch ein Kind, und sie haben ihr wehgetan.« Jetzt war es nicht mehr die Stimme einer Mutter, sondern klang wie ein Knirschen von Erde und Fels. »Ich dachte, meine Freundlichkeit ihren Kindern gegenüber würde sie beschützen, aber ich habe mich geirrt. Ich habe die falsche Entscheidung getroffen. Ich hätte gegen sie kämpfen sollen, sie verachten sollen. Sie waren nicht mein Clan, diese Töpferfrauen. Sie haben meiner Waivia wehgetan.«
»Mutter.«
»Geh hier weg, Zarq.« Sie ließ mich abrupt los. »Suche sie.«
Der Geruch nach Schwefel brannte mir in der Nase. Das Licht hinter meinen fest geschlossenen Lidern wurde leuchtend blau. Und der Gestank von Aas verunreinigte die Luft.
Ich schlug die Augen auf. Vor mir stand nicht mehr meine Mutter in der Gestalt, die ich so liebte, sondern in der Form ihres Geistes, groß und schillernd, ein zwei Meter großer Truthahngeier mit schuppigen Beinen in der gräulich roten Farbe von Eingeweiden, mit Resten von verfaulendem Fleisch an den gekrümmten Krallen. Leuchtend blaue Federn raschelten auf einer Brust, die sich in wachsendem Zorn hob und senkte. Rote Augen über einem Schnabel, der mit winzigen, scharfen Zähnen gesäumt war, starrten mich finster an.
»Such sie!«
»Sie ist tot«, flüsterte ich.
»Nein, ist sie nicht!«, kreischte der Geist. Irgendwo quiekte schrill eine Maus, als eine Eule ihr das Rückgrat brach. »Sie lebt.«
Ich wich weinend vor dem Geist zurück. »Sie ist vor fast zehn Jahren als Kiyu verkauft worden. Sexsklavinnen leben nicht so lange. Sie ist tot, Mutter. Tot.«
»Suche sie!«
»Nein!«
Der Geist kreischte vor Wut, seine Augen versanken in seinem Kopf und klapperten wie Murmeln in seinem Hals, während ich in dunkle Augenhöhlen blickte, in denen Maden wimmelten, die über die gefiederten Wangen fielen und sich über die Brustfedern bis zu den grauen Krallen wanden.
»Geh weg!«, schrie ich, während mir die Tränen über das Gesicht rannen. Ich wollte, dass sie blieb, aber in der Gestalt, die sie einst gewesen war, als die Mutter, die mir Schlaflieder vorgesungen hatte, deren Lachen trillerte wie das einer Ammer, die Mutter, die zärtlich Splitter aus meinen Händen gezogen und alle Tränen weggeküsst hatte. »Ich werde nicht nach ihr suchen, Mutter, nicht jetzt und nicht später! Lass mich mein Leben leben …«
»Du vergeudest dein Leben hier!«, kreischte der Geist.
»Nein. Ich kann die Dinge ändern, das weiß ich. Hör mir einfach nur zu, glaube mir! Ich kann dafür sorgen, dass niemals wieder eine Tochter ihrer Mutter entrissen und als Kiyu verkauft wird. Bitte, lass es mich versuchen!«
»Andere Töchter kümmern mich nicht! Mich kümmert nur Waivia!«
»Waivia ist tot!«, erwiderte ich schrill. »Sie ist tot, verstehst du? Und jetzt geh, lass mich in Ruhe. Verschwinde!«
Der Geist schüttelte drohend seinen gefiederten Kopf und klapperte mit dem Schnabel. Mit einem Zischen erhob er sich in die Luft, stieg flügelschlagend in die Nacht empor, leuchtend wie ein verirrter Stern.
Ich erschauerte, in kaltem Schweiß gebadet, und weinte vor Wut und Enttäuschung.
Neben mir hörte ich ein Keuchen. Ich drehte mich um.
Ringus stand da, schwer atmend und mit vor Furcht glänzenden Augen. Er presste sich gegen den Rand des Schlachttischs und umklammerte das dicke Holz, als hinge sein Leben davon ab.
»Eidon«, flüsterte er in dem ohnmächtigen Versuch, den Veteranen zu Hilfe zu rufen. »Hilf mir, Eidon.«
»Erzähl niemandem davon«, drohte ich ihm mit erstickter Stimme.
Er nickte, während er mich anstarrte.
»Und jetzt verschwinde hier«, fuhr ich fort. »Such deinen Eidon und wirf dich in seine Arme. Verschwinde.«
Ringus drehte sich um und floh zu der Hütte, taumelnd, als würden seine Beine ihn nicht mehr tragen. Er mühte sich mit den Gharialhäuten ab, die vor dem Eingang hingen, und hätte sie in seiner Verzweiflung, in die Hütte zu gelangen, fast heruntergerissen.
Ich sah ihm nach, ballte die Hände so fest zusammen, dass meine Fingernägel die Haut meiner Handballen zerfetzten. Ich sah ihm in der Gewissheit nach, dass er Eidon erzählen würde, was er heute mitangesehen hatte. Doch es kümmerte mich nicht.
Ich würde in der Lehre des Drachenmeisters bleiben, als sein Schüler, und eines Tages selbst Drachenmeister werden, ganz gleich, wie viele Stöcke man mir auch zwischen die Beine werfen mochte. Schon allein, um dem Geist meiner Mutter zu trotzen und allen zu beweisen, dass ich es schaffen konnte, würde ich bleiben. Ich würde Mutter zeigen, dass ich mindestens genauso gerissen und wertvoll war wie ihre kostbare Waivia.
Oh ja, das würde ich tun.