17
Während Sutkabde Großmutter auf die Füße half, untersuchte ich aufgeregt Misutvia, suchte nach Blut, gebrochenen Knochen, ihrem Puls, einem Lebenszeichen.
»Sutkabde, mach das nicht«, bat ich sie, noch während meine Fingerspitzen eine Schwellung unter Misutvias dünnem Haar ertasteten. »Du willst doch nicht gefangen bleiben. Du kannst unmöglich glauben, dass dies hier heilig und richtig ist!«
»Was der Tempel hier tut, ist eine Perversion«, gab sie zu, während sie Großmutter stützte, die keuchte und zitterte. »Aber das weiß ich auch: Ich werde nicht ohne die Drachen und ihr Gift weiterleben.«
»Aber es gibt doch die Nask Cinai, die Refugien für altersschwache Bullen. Als Onai kannst du an einem solchen Ort bei den Drachen liegen und ihr Gift empfangen.«
»Der Tempel würde an diesen Orten nach mir suchen.«
»Sutkabde, wenn du mit Großmutter zu den Wachen gehst, werden sie dich töten. Was ist dann mit deinem Gift?«
»Ich habe vor, dieses Debakel zu überleben, Rishi Via«, erwiderte sie. »Ich werde nicht durch den Korridor gehen, sondern ich werde Großmutter einfach nur über die Trümmer helfen, das ist alles. Großmutter ist fest entschlossen, ihre Pflicht zu erfüllen, stimmt doch, Großmutter? Ich muss sie nicht den ganzen Weg begleiten.«
»Ich strebe«, hauchte Großmutter kaum verständlich, »nach Heiligkeit.«
»Dein Streben ist wahrhaft bewundernswert, Großmutter«, sagte Sutkabde.
Ich beobachtete entsetzt, wie sie die wacklige alte Frau zur Tür der Gewölbekammer führte.
»Und jetzt?«, rief eine der neuen Frauen, als Sutkabde und Großmutter verschwunden waren.
Ich dachte angestrengt nach, während ich Misutvias Wangen streichelte, um sie aufzuwecken. Unter meinen Fingerspitzen fühlte ich ihren unregelmäßigen Puls.
»Großmutter kann doch kaum laufen.« Ich sprach meine Gedanken laut aus. »Sie wird eine Weile brauchen, bis sie das Quartier der Drachenjünger erreicht. Bringt mir die Karte, die Misutvia aufgezeichnet hat.«
Der abgerissene Ärmel aus dem schimmernden Stoff flatterte kurz vor meinem Gesicht, als eine der Frauen ihn wie ein Tuch über Misutvias Körper ausbreitete.
»Seht.« Ich deutete mit einem Finger auf die Zeichnung. »Dieser Korridor ist kürzer als der andere, und er führt zudem direkt zum Quartier der Drachenjünger. Sicher wird Großmutter den kürzesten Weg nehmen. Und bei ihrem langsamen Tempo können wir die Gemächer der Drachenjünger kurz nach ihr erreichen. Wenn die Wachen, die den Flur schützen, sie sehen, und es werden dort zweifellos Wachen stehen, werden sie ihren Posten verlassen und sich so rasch wie möglich ihrer annehmen, bevor Malaban Bri Verdacht schöpft. Sie werden hierher eilen, um uns zurückzuhalten, und sich vielleicht sogar aufteilen, um zu überprüfen, ob die Mauer, die sie vor dem Eingang der Stallungen errichtet haben, noch intakt ist.«
Ich blickte hoch, auf die schwarzen Schatten der drei Frauen, die vor mir standen. Mein Herz schlug wie verrückt. »Das könnte unser Vorteil sein. Wenn wir schnell und lautlos vorgehen, können wir immer noch entkommen.«
»Welche Wahl haben wir?«, fragte eine der drei.
»Ich mache das nicht«, stieß eine andere hervor. »Ich bleibe hier, in meiner Nische. Wenn wir gehen, dann widersetzen wir uns ihnen in ihrem schwächsten Moment. Das mache ich nicht. Sie werden dich umbringen, aber wenn ich hier bleibe, wo ich sein soll, werden sie mich nicht töten.«
Die beiden anderen zögerten.
»Alles, was hier auf dich wartet, ist Vergewaltigung und Folter«, erwiderte ich drängend. Mir war klar, dass ihre Sucht nach dem Gift und den Drachengesängen noch nicht so stark ausgeprägt war, weil sie noch nicht so lange hier waren. »Niemand hier überlebt lange. Und ihr bekommt keine zweite Chance für eine Flucht. Wollt ihr denn nicht mehr den Regen auf euren Gesichtern fühlen, die Sonne auf dem Rücken? Eure Geliebten umarmen?«
Ich blickte hektisch zur Tür. Sutkabde hatte Großmutter gewiss schon über die Trümmer geholfen, musste jeden Moment zurückkehren.
»Einen Prügel, schnell!«, stieß ich hervor, streckte die Hand aus und erhob mich. Die Schatten bewegten sich, und Stoff raschelte, als eine Frau reagierte. Grobes Holz klatschte in meine ausgestreckte Handfläche.
Die Tür zur Kammer der Viagand öffnete sich knarrend.
Ich rannte dorthin, stolperte über Kissen, schwankte, wäre fast gestürzt, torkelte dennoch weiter. Sutkabde kam herein.
Ein Ausdruck des Erstaunens flog über ihr bleiches Gesicht, machte ihre blutunterlaufenen, eitrigen Augen zum ersten Mal, seit ich sie gesehen hatte, menschlich. Ich hämmerte meinen Prügel in ihren Bauch. Sie klappte mit einem bebenden Seufzer zusammen und brach auf dem Boden zusammen.
Schweratmend deutete ich auf zwei der neuen Frauen. »Sie kann uns jetzt nicht mehr aufhalten. Nehmt Misutvia in eure Mitte und kommt. Uns bleibt nicht viel Zeit!«
Ich bewegte mich wie in einem panischen Delirium.
Fliehe! Fliehe! Fliehe!
Ich kletterte über die Trümmer der zerstörten Wand, schürfte mir die Knöchel an scharfen Mörtelzacken auf, schrammte mir die Sohlen auf den Steinen. Ich rannte platschend durch Pfützen, während der Saum meines Bitoo wie eine nasse Schleppe über den feuchten Erdboden schleifte. Die Finsternis und die Unkenntnis dessen, was vor mir lag, beunruhigten mich.
Der prasselnde Regen betäubte uns jedes Mal, wenn wir an einem Fensterschlitz vorbeikamen, doch unser Herzschlag rauschte noch lauter in unseren Ohren. Die bewusstlose Misutvia wurde wie ein Sack von den beiden Frauen, die mir folgten, mitgezerrt.
Der Korridor verzweigte sich.
Links oder rechts? Welcher Weg war der kürzere, welchen war Großmutter gegangen? In meiner Panik konnte ich mich nicht mehr erinnern, und ich hatte nicht daran gedacht, Misutvias Plan mitzunehmen.
Links, entschied ich, und stürmte in den Gang. Die beiden Frauen, die mir folgten, keuchten unter Misutvias Gewicht.
Langsam, langsamer jetzt! Wir wollten doch nicht auf einen Wächter stoßen!
Der Korridor gabelte sich erneut.
Ich blieb verblüfft stehen. Es hätte keine weitere Abzweigung geben dürfen, jedenfalls nicht nach Misutvias Plan! Aber leider war keiner von uns jemals in diesem Teil der Festung gewesen. Das hatte sie nicht gewusst. Wir hatten uns in dem dunklen Labyrinth aus Stein verirrt, würden niemals rechtzeitig einen Ausgang finden, bevor man uns entdeckte.
Dann hörten wir das Klatschen von Schritten, die sich im Lauf näherten.
Ich winkte den beiden Frauen aufgeregt zu. Wir duckten uns in die Abzweigung des Korridors, kauerten uns an eine Wand, deutlich zu sehen, wäre es nicht Nacht gewesen.
Die Schritte wurden von keuchenden Atemzügen begleitet, und im nächsten Moment tauchte ein Wächter, in Kutte und Überwurf eines Akolythen gehüllt, in dem Korridor auf und bog in den Gang ein, aus dem wir gerade gekommen waren. Ein paar Herzschläge später folgten ihm ein zweiter, ein dritter und dann noch ein vierter Wächter. Sie alle waren mit Speeren bewaffnet.
Großmutter hatte das Quartier der Drachenjünger offenbar bereits erreicht. Sie wussten, dass wir ihre Mauer eingerissen hatten.
»Schnell, in den Korridor, aus dem sie gekommen sind!«, sagte ich. Wir setzten uns in Bewegung, als wir erneut Keuchen und rasche Schritte hörten, die näher kamen. Ein fünfter Wächter. Auch er war zur Kammer der Viagand entsendet worden.
»Zurück! Zurück!«, zischte ich. Wir stolperten in den Schatten der Abzweigung zurück, zerrten Misutvia mit uns.
Dann erstarrten wir. Die Schritte kamen näher. Der Wächter, ebenfalls als Akolyth verkleidet, rannte hinter seinen Kameraden her in den Korridor, der zur Gewölbekammer führte. Er lief kaum eine Armlänge von mir entfernt an uns vorbei. Mir standen die Haare zu Berge, als mir sein stinkender Schweiß in die Nase stieg.
In dem Moment stöhnte Misutvia.
Der Wächter kam rutschend zum Stehen.
»Schnell, greift an!«, schrie ich und stürzte mich auf ihn, als er sich gerade herumdrehte und seinen Speer hob. Ich hörte einen leisen Plumps, als die beiden panischen Frauen mir gehorchten und Misutvia zu Boden fallen ließen. Ich krümmte mich, senkte das Kinn auf die Brust und rammte meinen Kopf wie einen Mauerbrecher in den weichen Bauch des Wächters. Er stolperte einen Schritt zurück, keuchte und ließ seinen Speer los, der klappernd zu Boden fiel. Dann stürzten wir uns auf ihn, wahnsinnig vor Angst und ohne ein Wort, würgten ihn, bissen und traten ihn. Er brach unter unserem Angriff zusammen. Ich spürte den Knorpel seines Ohrs zwischen meinen Zähnen und biss mit aller Kraft zu, hämmerte immer wieder mit der Faust in das weiche Fleisch über seiner linken Niere. Eine der beiden anderen Frauen zerkratzte ihm das Gesicht, riss ihm mit den Nägeln die Haut vom Fleisch, als wäre es kaltes Schmalz.
Er krümmte sich zusammen, schützte seine Hoden und sank auf die Knie. Wir traten ihn hysterisch so lange mit unseren bloßen Füßen, bis er bewusstlos war.
Zitternd angesichts unserer Brutalität, geschüttelt von Kampflust, Panik und einem makaberen Triumphgefühl, standen wir über dem Körper des Mannes. Misutvia stöhnte erneut und erbrach sich. Wir sahen uns an.
»Hebt sie hoch«, keuchte ich.
»Nein«, widersprach eine der Frauen schwer atmend. »Wir lassen sie hier liegen.«
»Dann helfe ich, sie zu tragen.« Ich nickte der Frau zu, die bisher geschwiegen hatte. »Du, hilf mir.«
»Wir lassen sie zurück«, wiederholte die erste Frau, aber ich ging bereits zu dem hellen Kleiderhaufen, der auf dem Boden in der Abzweigung lag.
Ich bückte mich, schlang einen von Misutvias klammen Armen um meinen Hals. Meine Beine schienen schwach zu sein, keine Knochen mehr zu haben. Immer noch in gebückter Haltung blickte ich auf, wartete, dass die andere Frau mir half. Sie zögerte.
»Ich lasse sie nicht zurück!«, erklärte ich wütend.
»Dann trennen wir uns«, erwiderte die erste, packte den Arm ihrer unentschlossenen Gefährtin und zog sie in den Korridor.
»Ich weiß nicht«, begann die zweite Frau. Im nächsten Moment wurde sie von den Füßen gerissen, als sich ein Speer in ihren Leib bohrte und sie mehrere Schritte zurückschleuderte. Die erste schrie auf, wirbelte herum und rannte los. Ein leises Zischen fegte an mir vorbei; ihr Körper zuckte einmal heftig, sie prallte gegen eine Wand und rutschte daran herunter, während sie mit den Fingern vergeblich Halt suchte. Der geölte Schaft eines Speeres ragte aus ihrem Rücken heraus.
Ich ließ Misutvia fallen, drehte mich um und lief los.
Hinter mir schrie jemand. Ich stolperte ins Dunkle, während die Furcht kalt über meinen Rücken lief, den Aufprall eines Speeres erwartete.
»Da drüben, dort entlang!«, schrie jemand hinter mir. Ich war entdeckt worden. Mein schillernder Bitoo wirkte in der Dunkelheit wie ein Leuchtfeuer. In dem Moment begriff ich, dass alle Frauen aus der Viagand absichtlich in diese blassen, hellen Bitoo gekleidet worden waren, damit wir in dem Dämmerlicht der Festung auffielen.
Hoffnungslosigkeit überkam mich. Ich konnte sie nicht überlisten, konnte nicht vor ihnen weglaufen, konnte nicht entkommen. Trotzdem rannte ich weiter durch den Korridor.
Vor mir flackerte das Licht einer Fackel an einer erneuten Gabelung des Korridors. Zwei Silhouetten tauchten in diesem Lichtkegel auf, eine krummbeinige, die andere mit einem Umhang bekleidet. Ich saß in der Falle, der Weg vor mir und hinter mir war versperrt. Ich stolperte, fiel zu Boden.
»Mutter!«, schrie ich heiser, wollte den Geist rufen, damit er erschien, mir übermenschliche Kraft verlieh, selbst um den Preis, für immer in meinem eigenen Körper eingesperrt zu sein.
Vor meinen Augen tanzten schillernde Punkte, durchdrangen die Dunkelheit mit ihrem blassem Blau. In tausend Stücke zerborsten, in meinem Körper verteilt, erglühte der Geist, versuchte sich zusammenzusetzen. Es fühlte sich an, als würden heiße Wachstropfen in meinen Adern versuchen, sich zu vereinen, würden daran aber von kaltem Wasser gehindert. Der Geist war erschöpft, hatte noch nicht genügend Zeit gehabt, seine alte Stärke wiederzugewinnen.
»Mutter, rette mich!«
»Das ist sie!«, schrie eine der Silhouetten vor dem Licht der Fackel; im nächsten Moment setzten sie sich beide in Bewegung, in meine Richtung. Ich blickte zum anderen Ende des Korridors zurück. Ein als Akolyth verkleideter Wächter tauchte aus der Dunkelheit auf. Er blieb stehen und hob die Arme, spreizte die Ellbogen.
Ich würde gleich von seinem Speer aufgespießt werden.
»Mutter!«, schrie ich erneut. Metall schoss durch die Luft wie ein Blitz; ein Dolch, der von einer der beiden Silhouetten geschleudert worden war. Er prallte von der linken Schulter des Wächters ab, als der seinen Speer warf; er torkelte wie trunken durch die Luft und landete eine Handbreit vor meinem Körper auf dem Boden.
Der Geruch von parfümiertem Öl wehte an mir vorbei, als die in den Umhang gekleidete Gestalt sich auf den Wächter stürzte und ihn in einen Kampf verwickelte.
Die zweite Silhouette hatte mich derweil erreicht. Ein vertrautes Gesicht starrte mich an. Ich wich ungläubig zurück.
»Du hast uns ganz schön auf Trab gehalten, Rishi-Balg«, gackerte der Drachenmeister.
Mein Blick zuckte zu den kämpfenden Gestalten. Das Licht der Fackel schimmerte auf blondem Haar. Kratt.
»Nein«, stieß ich verdattert hervor. »Nein!«
Sehnige Finger gruben sich schmerzhaft in meinen Arm und zerrten mich hoch. »Wir verschwinden jetzt, heho!«, erklärte der Drachenmeister.
»Aber Malaban Bri. Wo ist Malaban?«
Ein dumpfes Geräusch. Der Wächter war zu Boden gestürzt. Kratt beugte sich über ihn, Stahl blitzte in seiner Hand auf. Mit einem Grunzen richtete sich Kratt auf, wischte den blutigen Dolch an seinem Umhang ab und kam zu uns.
»Zu den Drachen«, knurrte er, gönnte mir nur einen flüchtigen Blick.
»Wartet!«, keuchte ich. »Wir können Misutvia nicht hier lassen.«
»Halt den Mund, Rishi-Brut!«, schnarrte Kratt. Ich glaubte schon, er würde mich schlagen.
»Sie ist Malabans Schwester!«, rief ich. »Von Caranku Bri von Lireh!«
Kratt hielt inne, und ein Muskel in seiner Wange zuckte. »Wir haben die Dirwalan Babu«, zischte der Drachenmeister, nannte mich in dem uralten Dialekt Malacars die Tochter des Himmelswächters, und hob meinen Arm an, als wollte er es beweisen. »Wir verschwinden sofort!«
Kratt ignorierte ihn, während er mich mit einem scharfen Blick seiner vom Kampf glühenden blauen Augen durchbohrte. »Du bist ganz sicher, dass die Frau von Caranku Bri stammt?«
»Sie war mit mir gefangen«, antwortete ich atemlos. »Wir haben miteinander geredet. Sie liegt am Ende des Korridors, bewusstlos.«
»Wir verschwenden Zeit«, knurrte der Drachenmeister und verdrehte die Augen.
»Ich hätte nichts dagegen, wenn der Caranku Bri von Lireh in meiner Schuld steht, Komikon«, erwiderte Kratt und schob den Dolch in die Scheide.
Sein Umhang bauschte sich hinter ihm auf, als er durch den Korridor lief. Der Drachenmeister knirschte mit den Zähnen, bis Kratt wieder auftauchte, Misutvia über die Schulter geworfen, wie den Leichnam eines Gharial.
»Jetzt verschwinden wir«, erklärte Kratt knapp.
Wir erreichten die von der Fackel beleuchtete Gabelung am Ende des Korridors in dem Augenblick, als drei Drachenjünger auftauchten. Ihren Roben und den geflochtenen Zöpfen sah man an, dass sie sich in aller Hast angekleidet hatten. Sie versperrten uns den Weg. Ihre Bärte, die zu Pfeilspitzen getrimmt waren, glitzerten ölig im Licht der Fackeln, die sie in den Händen hielten.
»Ihr hättet nicht hierher kommen sollen, Waikar Re Kratt«, knurrte der Drachenjünger mit der Hakennase.
»Das hier ist kein Mobasanin«, erwiderte Kratt. Seine Stimme klang so glatt und kraftvoll wie der muskulöse Leib eines Python. »Das hier ist ein Ort der Perversion, ein verborgener Ort, der nur wenigen bekannt ist. Und jetzt tretet zur Seite.«
»Ich fürchte, dass Ihr Euch noch ein wenig länger hier aufhalten werdet.«
»Tatsächlich?«, erwiderte Kratt gefährlich leise. »Das bezweifle ich sehr. Wenn ich nicht bis morgen Abend nach Brut Re zurückgekehrt bin, wird meine Eskorte, die mich hierher begleitet hat, nicht nur meinem Bruder von der Lage und dem vermutlichen Zweck dieser Festung berichten, sondern dem Lupini von Brut Cuhan und dem Roshu von Ka ebenfalls. Alle werden dann von dem Geheimnis des Ranreeb erfahren, heiliger Mann, was Imperator Fa gewiss nicht sonderlich erfreuen dürfte.«
Die Drachenjünger musterten ihn aus zusammengekniffenen Augen.
»Also schlage ich vor, dass Ihr beiseite tretet«, murmelte Kratt. »Informiert den Ranreeb über das, was sich hier zugetragen hat. Er wird sich meiner auf die Weise annehmen, die ihm angemessen erscheint. Ich habe nicht die Absicht, mein Wissen mit anderen Fürsten der Brutstätten zu teilen, sobald wir nach Cafar Re zurückgekehrt sind. Es ist besser, wenn der Tempel nur mit einem Mann um das Wissen der Geheimnisse der Drachen konkurriert, statt mit allen Brutstättenfürsten Malacars.«
»Niemand würde Euch glauben«, entgegnete ein Drachenjünger höhnisch, obwohl sein Gesicht nervös zuckte, als er das sagte.
»Wollen wir eine Wette darauf abschließen, hm?«, erwiderte Kratt sanft. »Und jetzt macht Platz. Ich bin sicher, dass Ihr keine ausgebildeten Kämpfer seid.«
Die Drachenjünger blähten die Nasenflügel, und ihr Hass lag wie ein beißender Geruch in der Luft.
Schließlich gab ein Drachenjünger den anderen mit einer Handbewegung zu verstehen, Kratt den Weg freizumachen.
Der Flug zurück nach Brut Re dauerte mehrere Tage, die mir fast wie ein Lebensalter vorkamen, sich wie sich windende Schlangen aneinanderreihten. Hungrig und ausgedörrt schwamm ich in einem funkelnden Fieber, ertrank darin, kam wieder hoch, versank erneut. Dennoch nahm ich exakt wahr, wann wir die Grenze von Brut Re erreichten; denn die Tausende von schillernden Scherben des Geistes, die in mir verstreut waren, brachen in einer sichtbaren Wolke aus meiner Haut heraus, und meine Psyche sickerte in die Lücken, die der Geist hinterließ.
Mein Körper gehörte wieder mir, ganz allein mir.
Ein bläulicher Geier erhob sich aus der Wolke, ein Stück rechts von dem Drachen, auf dem ich saß. Der Geier schwebte durch die Luft, den Hals ausgestreckt.
Der Geist.
Als ich das nächste Mal erwachte, lag ich auf einem Lager aus staubiger Featon-Spreu, umringt von Stein, auf dem das Licht einer Laterne gelblich schimmerte.
Ich richtete mich mit einem Schrei auf. Es war nur ein Traum gewesen! Ich befand mich immer noch in der Gewölbekammer der Viagand.
Ein Drache schnaubte.
Mit hämmerndem Herzen versuchte ich mich zu orientieren. Ich rappelte mich auf, stützte mich an der Steinmauer neben mir ab.
Ich war nicht mehr in der Viagand, nein. Ich war in einem unterirdischen Stall, in dem sich drei Boxen befanden, von denen nur die letzte belegt war. Darin stand eine alte Drachenkuh.
Sie beobachtete mich mit ihren melancholischen, weisen Augen. Ihre Schwingen, die sie fest über ihr knochiges Rückgrat gefaltet hatte, zitterten.
»Wo bin ich?«, fragte ich die alte Drachenkuh. Meine Zunge klebte mir vor Durst am Gaumen.
Sie blinzelte einmal, ohne dass die Pupillen ihrer schrägen Augen von mir abgeglitten wären. Die rautenförmige Membran am Ende ihres dünnen Schweifes klatschte rhythmisch auf die Steine. Das Geräusch von Blut und Fleisch, gefangen in Stein. Mein Herz schlug im selben Rhythmus, Blut und Fleisch, gefangen in einem Rippenkäfig.
Da wusste ich, wo ich war.
In dem dämmrigen Kuppelgebäude in der Domäne des Cinai Komikon Re.
Ich war zu Hause.
Der Drachenmeister weckte mich eine Weile später, verabreichte mir eine Brühe, gab mir Paak, eine Decke, in die ich mich hüllen konnte, und einen Emailletopf für meine Notdurft. Ich schob das Paak beiseite, verweigerte die Brühe und schlief, träumte von Drachengesängen.
Bis der Drachenmeister mich erneut weckte. Wieder hielt er mir die Brühe hin, das Paak, bestand darauf, dass ich aß, zu Kräften kam. Ich verweigerte die Nahrung, während mir vor Kälte die Zähne klapperten. Die Kälte fühlte sich klamm auf meiner Haut an.
Der Geruch der alten Drachenkuh in der Box neben mir war eine Folter. Sie lockte, verführte, wisperte von göttlicher Gnade und Vereinigung. Der Geruch des Giftes nach Süßholz und Limone gaukelte mir in meinen Erinnerungen Ganzheit vor, Fantasien von Isolation, die zu Einheit und Freude verwandelt wurde.
»Gift?«, fragte ich den Drachenmeister, obwohl ich es gar nicht beabsichtigt hatte; die Worte waren einfach so von meiner eigenwilligen Zunge gebildet worden.
Der Drachenmeister starrte mich missbilligend an. »Du siehst aus, als hättest du genug davon in deinem Blut, Mädchen. Ich werde dir keins mehr geben.«
Bei seinen Worte packte mich eine gewaltige Mattigkeit. Ich kehrte ihm den Rücken zu und rollte mich auf meiner Spreu zur Wand.
»Du musst essen, heho!«, knurrte der Drachenmeister. »Deine einzige Aufgabe von diesem Moment an ist es, dich zu erholen, zu lernen, die Arena zu überleben! Hörst du mir zu?«
Ich hörte zu, gewiss, aber seine Worte lösten nur Überdruss in mir aus. Ich sah keinen Grund, mich zu erholen, zu lernen, zu überleben, wenn ich dafür den Rest meines Lebens dem Gift entsagen musste. Es war ein bitteres Eingeständnis, wohl wahr, und ich war nicht stolz darauf; dennoch entsprach es der Wahrheit: Ich war der Gewölbekammer der Viagand nur entkommen, um mich in das Gefängnis meiner Sucht einzuschließen, weiter dem Abgrund entgegenzutaumeln.
Ich war, wieder einmal in meinem noch so kurzen Leben, vollkommen vom Drachengift abhängig.
Vielleicht würde man mich deshalb nicht so verachten, wenn man selbst die Umarmung dieses Drachengiftes erlebt hätte, zusammen mit der ungeheuerlichen Leidenschaft der Drachengesänge. Eine solche Macht zu hören und durch das Hören selbst zu dieser Macht zu werden, das ist eine Verlockung, der kein Sterblicher widerstehen würde, dessen bin ich sicher. Und wie viel mächtiger war diese Verlockung für eine wie mich, die ich so kurz davor gewesen war, die göttliche Musik der Drachen zu begreifen!
Denn ja, ich hatte in der Gewölbekammer der Viagand kurz davor gestanden, die Erinnerungen der Drachen zu verstehen. Ich war davon überzeugt. Ich war in der Lage gewesen, gewisse Refrains zu erkennen, hatte oft erraten, welche Bilder bei welchen Passagen auftauchen würden. Die Polyphonie war alles andere als wilder Klang. In diesem süßen Mosaik lag eine gewisse Ordnung, und ich allein, dessen war ich gewiss, befand mich unmittelbar davor, diese rätselhafte Partitur zu begreifen.
Ich war die Leiter ins Reich des Einen Drachen ein Stück hinaufgeklettert. Hätte ich genug Zeit gehabt, hätte ich die höchste Sprosse dieser Leiter erklommen. Aber um zu jener Sprosse zu gelangen, benötigte ich mehr Gift. Viel, viel mehr Gift.
In der nächsten Klaue von Tagen begann der Drachenmeister, mich wegen meiner Abhängigkeit und Lust zu verachten. Jedes Mal, wenn er mich in seinem unterirdischen Stall besuchte, fuhr er mich wütend an, ich sollte essen, aufstehen, die Ausbildung für den Kampf in der Arena beginnen, aber mit jedem Tag, der verstrich, sank ich tiefer in die Betäubung und verlangte nur nach Gift.
Am Morgen des achten Tages legte ich mich vor die alte Drachenkuh, die in der Stallbox nebenan hockte. Allein, ausgezehrt, verwirrt und verzweifelt spreizte ich meine Beine vor ihr und bot ihr mein Geschlecht an.
Mit dem besonderen Instinkt derer, die am Rand des Wahnsinns stehen, erriet der Drachenmeister an jenem Tag die Tiefe meiner Verzweiflung. Er tauchte gegen Mittag in dem dunklen Stall auf, als ich ihn nicht erwartet hatte, und entdeckte mich auf dem Stallboden, mit gespreizten Beinen, die Schenkel vom Gift überzogen nach den wiederholten Vereinigungen mit der Drachenkuh.
Ich glaube, ich wäre an jenem Tag gestorben, wäre er nicht gekommen und eingeschritten.
Er band die Drachenkuh in ihrer Box fest, rieb dann das Gift von meinen Schenkeln und flößte mir gewaltsam ein Gegenmittel ein. Mit Schaum vor dem Mund brüllte er mich an, klang wahrhaftig genauso verrückt, wie ich war.
Es beschämt mich, zugeben zu müssen, dass der Verstand des Drachenmeisters an jenem erbärmlichen Punkt in meinem Leben weit gesünder war als meiner, denn am nächsten Morgen brachte er einen Besucher in die heimliche Dämmerung unter dem Becken des Kuppelgebäudes, und dieser Besucher erklärte in seinem wütenden, aufgebrachten Bariton, dass ich kein Gift mehr zu mir nehmen würde.
»Was ist aus dir geworden, Blut-Blut?«, brüllte der Hüne mit dem hüftlangen, gegabelten Bart, als er sich über mich beugte, sich unter der niedrigen Deck des Stalls bücken musste. Die Hälfte seines Schädels war kahl, auf der anderen Hälfte wuchsen Büschel von verfilztem, schwarzem Haar. Die Augenbrauen wirkten ebenfalls wie windgepeitschte Grasbüschel, pechschwarz, und sie zogen sich wütend zusammen, als mich ihr Besitzer anstarrte.
»Bleich und ausgemergelt vom Gift!«, brüllte er. Von den mit Spinnweben übersäten Dachbalken rieselte Staub auf uns herunter. »Diener der Hilflosigkeit, Made der Verzweiflung, stell dich hin und lass mich dich ansehen!«
»Drachenjünger Gen!«, flüsterte ich, während ich vollkommen verwirrt auf meinem Lager aus Spreu lag.
Er fuchtelte wie eine Windmühle mit seinen langen, knochigen Armen herum. Seine zerrissene und schmutzige Kutte flatterte wie das Segel eines Bootes, das von einem Sturm überrascht wird. »Was-was? Es spricht, es bewegt sich, es lebt. Aber gehorcht es auch? Steh auf, hoch mit dir, lass mich dich ansehen, Made!«
»Drachenjünger Gen!«, wiederholte ich dumpf. Der Hüne betrat geduckt meine Box, umfasste mit seiner gewaltigen Hand meinen linken Unterarm und zog mich hoch. Ich keuchte, während eine ganze Skala von Emotionen meinen ohnehin schon vom Gift vernebelten Verstand noch weiter verwirrte.
Drachenjünger Gen, der exzentrische Heilige Hüter, der mich als Akolyth mit Kutte und Überwurf verkleidet in seinem verfallenen Tempel in der Zone der Toten von Brut Re versteckt hatte. Drachenjünger Gen, der Erste außer mir selbst, der den Geist meiner Mutter gesehen hatte, der Erste, der mich Dirwalan Babu nannte, Tochter des Himmelswächters. Drachenjünger Gen, der Mann, der mir die Schriftrolle gezeigt hatte, in welcher geschrieben stand, dass eine wie ich als Schülerin eines Drachenmeisters einem Bullen dienen durfte.
Er umfasste mit seinen großen, schwieligen Händen meine Wangen. Sein hüftlanger, gegabelter Bart drückte sich wie eine Matte ausgetrockneten Krauts gegen meine Brust und meinen Bauch, als er meine Augen untersuchte.
»Du verlierst dich, Blut-Blut«, brummte er. »Du hast dich in den tückisch verführerischen Sumpf des Giftes verirrt.«
Er ließ meinen Kopf los und drehte sein Haupt ein Stück herum. »Sie muss von dem Gift entwöhnt werden, Mann!«, brüllte er über die Schulter. »Sonst wird sie niemals aus ihrer Schlaffheit erwachen! So sicher wie Treibsand wird es sie hinabziehen!«
»Du sagst mir nur, was ich schon weiß«, knurrte der Drachenmeister, dessen Gesicht mich über die Schulter des Drachenjüngers hinweg finster musterte. »Sie interessiert sich nur für dieses Zeug. Sie hat das Leben aufgegeben.«
»Du rufst mich aus meiner geheimen Höhle, verfrachtest mich in diese Grube des Nichts und bringst mein Leben in Gefahr, nur um mich anschließend zu überzeugen, dass diese Reise vergeblich ist? Sie kann entwöhnt werden, sage ich dir! Es ist nur eine Frage des Wissens, wie man am besten diese Sucht in ihrer Seele bekämpfen kann!«
Drachenjünger Gen richtete seinen Blick wieder auf mich, während er immer noch meinen Kopf zwischen seinen Händen hielt. »Wie soll ich dir dieses verfluchte Verlangen aus deinem Blut treiben, heh? Sag es mir.«
Ich wandte meinen Blick ab.
Sein Griff um meine Wangen, um meine Schläfen, verstärkte sich; dann beugte er sich plötzlich so weit zu mir, dass seine hohe Stirn an meiner lag. Er wiegte meinen Kopf, so dass unsere beiden Stirnen aneinander von einer Seite zur anderen rollten, und sog tief meinen Geruch ein.
»Ich kann den Himmelswächter um dich herum wahrnehmen«, murmelte er, »eine geisterhafte Präsenz, und dazu deine Seele.«
Plötzlich presste er seine Lippen auf meine. Seine Zunge wand sich um meine; Ekel durchströmte mich. Ein undurchsichtiger Strudel durchströmte meinen Verstand, eine schwindelnde, blendende Explosion von Licht, die, das wurde mir schlagartig klar, seine Psyche sein musste.
Ebenso unvermittelt wich er zurück, heftig, und schlug mit dem Kopf gegen einen Dachbalken.
»Das ist also der Weg, Blut-Blut!«, rief er und wischte sich mit einem seiner langen Arme über die Lippen. »Ich habe die Antwort, Komikon! Ich werde noch heute Abend den Trank mischen! Und sie darf kein Gift mehr erhalten. Keinen Tropfen!«
»Du glaubst, ihren Lebenswillen mit einem einfachen Kräutertrank wiederbeleben zu können?« Der Drachenmeister zupfte heftig an seinem Kinnbart. »Sieh sie doch an! Welche dir bekannte Magie könnte in einer, die so entschlossen ist zu sterben, den Überlebenswillen entzünden?«
»Du gehst von zu vielen Annahmen aus, Mann! Ich sehe keine Niederlage in ihren Augen, nur Furcht und einen verlorenen Willen!«
»Du redest närrisches Zeug!«
»Tatsächlich?« Drachenjünger Gen tätschelte meine Wange und lächelte. »Was meinst du, Babu? Wer von diesen beiden plappernden alten Männern, die da vor dir stehen, hat deiner Meinung nach recht, hm? Der Komikon oder ich? Wofür würdest du dich entscheiden: einen Vorstoß ins Leben, oder ergibst du dich der Betäubung, die du im Gift findest?«
Er hatte mir schon einmal eine ganz ähnliche Frage gestellt, damals, als er mich in den rauchenden Ruinen der Zone der Toten fand. Tod oder Leben?, hatte er mich gefragt, als ich paralysiert vor Qualen durch den Verlust Kiz-dans und ihres Babys sowie durch die schreckliche Wunde des Schwertes eines Wachsoldaten der Cafar in den Trümmern lag. Schmerz oder Erleichterung?
Ich hatte mich damals für das Leben entschieden, angespornt von dem fantastischen Traum, dass ich eines Tages Kratt töten und meine eigene Brutstätte besitzen würde, wo niemals einer Rishi-Mutter ihr Baby weggenommen würde, damit es dem Tempel diente, wo niemals ein Rishi-Kind mit ansehen musste, wie sein Vater von einem grausamen Bayen ermordet wurde. Eine Brutstätte, wo niemals Drachen gefangen gehalten, ausgebeutet und voller Gleichgültigkeit missbraucht würden.
Meinen eigenen Drachenbullen, meinen eigenen Drachensitz.
Kratt töten.
Das war es, was ich damals gewollt hatte. Doch jetzt? Was wollte ich jetzt?
Ich hatte mittlerweile begriffen, dass ich nur eine Figur in einem Spiel war, das von den Bedürfnissen anderer beherrscht wurde. Kratt wollte die Antwort auf das Bullenrätsel, um seinen Ehrgeiz zu verwirklichen, mehr zu werden als nur der vom Tempel eingesetzte Herr über eine einzelne Brutstätte. Der Drachenmeister suchte nach derselben Antwort und wurde von dem Glauben motiviert, dass ich die prophezeite Tochter des Himmelswächters war, die das Ende der Unterdrückung der Djimbi herbeiführen und den Tempel aus den Klauen des Imperators reißen könnte. Der Ranreeb wollte ebenfalls die Antwort auf das Bullenrätsel, und zwar für den Tempel, um der Macht und des Wohlstandes willen, den diese Antwort ihm geben würde. Obwohl er mich nicht für die Dirwalan Babu hielt, sondern nur für eine Ausgeburt, die ihm dennoch die Lösung dieses Rätsels präsentieren könnte. Im Unterschied zu Kratt jedoch wusste der Ranreeb, dass jede Frau während des Ritus die Drachengesänge hören konnte. Und da ich jetzt aus seiner Festung entkommen war, bildete ich eine Bedrohung für den Ranreeb, derer er sich entledigen musste.
Ja, ich mochte in der Gewölbekammer der Viagand eingesperrt gewesen sein, hatte fliehen wollen. Aber jenseits der Mauern dieser Festung erwartete mich ebenfalls keine Freiheit.
»Ich will mich ergeben«, sagte ich, während meine Beine unter mir nachgaben. Ich rollte mich auf die Seite und grub meine Stirn in die Featon-Spreu. »Ich will für immer eins mit den Drachen werden.«
»Es murmelt!«, blaffte Drachenjünger Gen. »Ich höre es nicht!«
»Sie hat das Gift gewählt; du hast sie genauso gut gehört wie ich!«, spie der Drachenmeister hervor. Ich konnte mir vorstellen, wie er die Augen verdrehte und die Schultern rollte.
»Sie ist verloren, Mann, das habe ich gehört. In dem Sumpf des Giftes versunken. Ist sie erst daraus geborgen und befreit, wird sie sich anders entscheiden.«
»Ich habe keine Zeit für Metaphern. Die Zeit der Arena rückt näher.«
»Halt sie vom Gift fern. Gib mir einen Tag, zwei, dann gebe ich ihr genug Gründe, das Abbasin Shinchiwouk zu überleben und den Kampf fortzusetzen. Heho? Das tust du doch für einen Bruder, oder?«
»Die Rettung unseres Volkes liegt hier, in dieser Stallbox! Wie kannst du so sicher sein, dass …«, fuhr der Drachenmeister ihn an, aber der Drachenjünger schnitt ihm das Wort ab.
»Zwei Tage«, schrie er. Seine Worte hallten durch den Gang, als er sich entfernte. »Ich komme zurück. Zwei Tage!«
Er hielt Wort. Innerhalb von zwei Tagen kehrte er zurück.
Aber er war nicht allein.
Ich erkannte den Jungen nicht, der vor ihm stand, und mir war auch nicht klar, dass ich ihn hätte kennen sollen. In meinem Fieber registrierte ich kaum die rosa Farbe seiner faltigen Tunika, das Mal auf seiner Stirn.
Drachenjünger Gen schob den unterernährten Jungen in meine Box.
»Ich bin dem Geruch des Himmelswächters gefolgt, heho!«, erklärte der Drachenjünger selbstgefällig. »Habe die Fährte seines Geruchs im Wind verfolgt, der in gefiederten Bändern durch die Brutstätte wehte. Bis in die Cafar bin ich ihm gefolgt. Fand diesen Jungen, vor den Gemächern seiner Edeldame. Habe ihn im Schutz der Nacht herausgeschmuggelt. Sprich, Junge. Sag etwas. Erzähle von deinen nächtlichen Qualen!«
Ein Asak-Illyas, das war dieser Junge. Das hieratische Mal auf seiner Stirn, mit einem heißen Eisen eingebrannt, sein kurzgeschorenes Haar und die rosa Farbe seiner Tunika wiesen ihn als genau das aus. Er war in seiner Stellung als leibeigener Tempeleunuch missbraucht worden, um einer Bayen zu dienen: Prellungen, Narben, ein fehlender Finger, ein verunstaltetes Ohr und ein gehetzter Blick in seinen Augen, all das kündete von Grausamkeiten, die man ihm angetan hatte, nicht von Disziplin.
Sein Blick zuckte durch den Stall, und er zitterte vor Angst, als er vor mir stand. Drachenjünger Gen legte sanft seine Hand auf das Schlüsselbein des Jungen.
»Tapferes Kind, verletzte Seele, dir wird nichts Schlimmes mehr widerfahren. Ich weiß einen sicheren Ort, wo du gesund wirst und lange leben wirst, weit ab von allen Foltern. Bei meinem Leben verspreche ich, dich dorthin zu bringen. Aber erst musst du sprechen, ja? Von der Stimme, deren Flüstern du im Dunkeln hörst, von den unsichtbaren Händen, die deinen Geist behelligen. Sprich.«
»Sie kommt zu mir.« Die Stimme des Jungen zitterte, und er bebte am ganzen Körper. »In der Nacht. Ich bete um Res Schutz, aber der Bulle hört mich nicht, und sie kommt immer. Sie nennt mich Sohn, aber ich bin nicht das Kind eines Dämons.«
Er fing an zu weinen. Seine zarten Rippen bebten.
»Ich schmecke sie in meinem Mund. Sie dringt in mich ein. Ich kann nicht sehen, nicht sprechen, und meine Beine versuchen, sich ohne meinen Willen zu bewegen.« Der Junge wandte sich an Drachenjünger Gen, packte seine schmutzige Kutte. »Läutert mich, treibt sie aus, bitte!«
Mein Herz schien sich in eine Porzellanscherbe zu verwandeln, in ein scharfes, zerbrochenes, sprödes Ding.
Nein.
Das konnte nicht sein.
Ich leckte meine Lippen.
»Wie alt bist du?«, krächzte ich.
Der Junge antwortete nicht; ich benötigte auch keine Antwort. Ich konnte sein Alter ebenso gut erraten wie seine Identität. Mein Bruder stand vor mir, geboren, als ich selbst neun Jahre alt war, aus dem Leib meiner Mutter gerissen, für den Tempel, als Entschädigung für das Vergehen, das meine Mutter in ihrem verzweifelten Versuch beging, Waivia zurückzukaufen.
Nach meiner Rückkehr aus der Gewölbekammer der Viagand nach Brut Re war mein Blut vom Gift gesättigt gewesen, und der Geist meiner Mutter hatte sein obsessives Verlangen, Waivia zu finden, auf die einzige andere Person außer mir gerichtet, die dasselbe Blut in sich hatte wie meine Schwester. Auf diesen kleinen Jungen.
Ich rammte mir vor Entsetzen eine Faust in den Mund.
Warum konnte der Geist Waivia nicht selbst finden, wenn meine Mutter doch ihr eigenes Blut aufspüren konnte? Warum nicht?
»Wann haben diese Besuche angefangen, mein Junge?«, murmelte Drachenjünger Gen und tätschelte den geschorenen Kopf des Asak-Illyas.
»Vor einer Klaue voll Nächten«, schluchzte er.
Genau zu dem Zeitpunkt, zu dem ich nach Brutstätte Re zurückgekehrt war.
»Ich bin nicht der Sohn eines Dämons; bitte, vertreibt sie!«, schrie der Junge.
Der Drachenjünger brummte beruhigend und durchbohrte mich mit seinen altersgrauen Augen. »Kannst du erraten, wem er in Cafar Re gedient hat?«
Eine furchteinflößende Vorahnung überkam mich.
»Waikar Re Kratts Wai-Roidan Yin. Stimmt das nicht, Junge? Du hast Kratts erster erwählter Frau gedient. Und wenn Kratt dich allein überrascht hat, wenn er versucht hat, ein gewisses Jucken loszuwerden, das ihn oft quälte, hat er dir wehgetan. So wie er vielen Rishi in Cafar Re Schmerz zugefügt hat.«
Die Schultern des Jungen bebten. Der schlaksige Hüne kniete sich neben ihn und zog ihn in seine langen Arme.
»Du bist jetzt in Sicherheit, du Floh. Er wird dich nicht mehr berühren. Heho?«
Ich drehte den Kopf zur Seite und erbrach mich.
»Schafft ihn weg!«, keuchte ich, als das trockene Würgen schließlich aufhörte. »Ich will ihn nicht sehen. Bringt ihn weg, geht!«
»Erst, wenn du dem Jungen in die Augen gesehen hast und ihm sagst, dass du lieber stirbst, als sein nächtliches, schreckliches Leiden zu lindern. Weil die Dinge genau so stehen, Blut-Blut. Du stirbst in der Arena, und der Junge wird der Kanal des Himmelswächters.«
»Unmöglich!« Ich starrte auf den Boden, auf den flackernden Lichtkreis, den die Laterne des Drachenjüngers warf.
»Die Prophezeiung spricht von einer Via, einem Mädchen. Einer Babu, einer Tochter. Aber dieser Junge ist dir blutsverwandt, sein Geruch bestätigt das. Wenn du dich ergibst, ohne den Wunsch des Himmelswächters zu erfüllen, dann wird dieser Floh hier bis zu seinem Tod vom Himmelswächter verfolgt werden.«
»Und was glaubt Ihr«, fragte ich heiser, als wäre meine Kehle voller Steine, »will der Himmelswächter, Drachenjünger Gen? Sagt mir, was diese obskure Prophezeiung vorhersagt.«
»Nashe.«
»Schlüpfen«, erwiderte ich heiser und sah zu, wie der Junge bebend in den Armen des Drachenjüngers schluchzte. »Das ist der Akt, wie ein Drachenjunges sich aus dem Ei befreit.«
»Das ist eine Metapher, Babu. Alle Begriffe in der Djimbi-Sprache sind Metaphern. Nashe bedeutet in der Sprache des Imperators Freilassung.«
»Freilassung.«
»Hat sich die Made in einen Papageien verwandelt, dass du mir alles nachplapperst?«, brüllte er. »Freilassung, die Befreiung der Sklaven!«
»Ihr seid Djimbi!«
Er grinste boshaft. »Das ist nicht möglich, heho! So etwas ist im Tempel nicht geduldet, solche Hunde mit verseuchtem Blut! Ich bin ein Fa-Pim, rein in Geist und Körper.«
»Der Tempel gehört den Djimbi«, knurrte der Drachenmeister aus dem Schatten. »Ruhm und Herrschaft gehören uns. Lange bevor der Imperator den Tempel in die Parodie verwandelte, die er jetzt ist, existierte der Drachentempel im Dschungel, unter den Djimbi. Der Tempel gehört uns!«
»Ja, ja«, erwiderte der Drachenjünger, hob seinen langen Arm und tat die hitzigen Bemerkungen des Drachenmeisters mit einer Bewegung ab. »Jetzt, Babu, triffst du jetzt eine Entscheidung, was-was? Verurteilst du diesen Jungen zu lebenslanger Folter, willst du das? Höchst nutzloser Folter, denn er ist nicht der Prophezeite, ist nicht die Dirwalan Babu, und kann von daher niemals die Macht des Himmelswächters so kanalisieren, wie du es kannst. Was den frustrierten Wächter nicht davon abhalten wird, ihn zu verfolgen, in seinem Bemühen, das Heilige aus seinen Ketten zu befreien. Nashe, Blut-Blut! Der Himmelswächter verlangt Nashe!«
Der Himmelswächter verlangte nichts dergleichen. Der Himmelswächter war der Geist meiner Mutter, und die wollte nur Waivia finden.
Drachenjünger Gen drehte den Jungen so, dass er mit dem Gesicht zu mir stand. Er war das verkörperte Elend, dieser ausgemergelte Junge. Tränen schimmerten wie Aloe-Tropfen auf seinen Wangen.
»Sieh dir den Jungen an, der niemals die Liebkosung einer Mutter erfahren hat, sieh deinen Bruder an, und verurteile ihn zu einem Leben voller Qualen, nachdem er in seiner Jugend unter Kratts Verlangen leiden musste! Nimm seine verstümmelte Hand in deine, und weise ihn zurück wegen deiner niederen Gelüste und deiner Flucht in den Tod!«
»Hört auf!«, keuchte ich.
»Steh auf! Komm her! Seine Hand erwartet …«
»Hört auf!«
»Dann antworte.«
Ich atmete schwer, während ich den verängstigten Jungen betrachtete.
»Wie heißt du?«, erkundigte ich mich schließlich.
»Man nennt mich Naji«, flüsterte er, und ich erschauerte. »Einhundert. Ich bin der hundertste Asak-Illyas, der in dem Viayandor des derzeitigen Roshu-Lupini dient.«
Viayandor. Das Bayen-Äquivalent für das Langhaus der Rishi, in dem Kinder und Frauen getrennt von den Männern lebten. Es schüttelte mich erneut, als mir bewusst wurde, wie man ihn genannt hatte: Naji. Welch ein boshafter Zufall, dass er und ich, für eine kurze Zeit, denselben Namen trugen.
»Bevor du Kratts Wai-Roydan Yin dientest, wie lautete da dein Name?«
»Ich bin Naji«, sagte er bebend vor Angst, Ärger zu erregen.
»Er war bereits unmittelbar nach seiner Geburt für diese Stellung bestimmt«, sagte der Drachenjünger. »Er wurde immer Naji genannt …«
»Er war nicht dafür bestimmt«, widersprach ich hitzig. Meine Kehle zog sich zusammen, erstickt von ungeweinten Tränen. »Seine Name bei seiner Geburt lautete Danku Re Darquels Waikar, Erster Sohn des Töpfermeisters Darquel von Brut Re. Der Name deiner Mutter war Kavarria. Darquels Kavarria. Man musste sie aus dem Wabe Din Tempel zerren, als sie erfuhr, dass man dich ihr von ihrer Brust gestohlen und dorthin verschleppt hatte. Sie liebte dich. Das musst du wissen.«
Tränen liefen dem Jungen über die Wangen. »Kanntest du sie?«
Ich zögerte. »Ich kenne sie«, erwiderte ich dann grimmig, müde.
»Sie lebt noch?«
Mir fiel keine andere Antwort auf diese hoffnungsvolle Frage ein als diese: »Ihre Knochen sind schon lange der Sonne und Erde ausgesetzt, ihr Fleisch wurde von Tieren verzehrt.«
Er hielt die Luft an und nickte mit all dem Mut, den sein schwieriges Leben ihn aufzubringen gelehrt hatte.
»Hast du schon alle deine Milchzähne verloren?«, fragte ich. »Bist du schon ein Mann?«
Die Hand mit dem fehlenden Finger zuckte unsicher zu seinem Mund. »Ich habe nicht mehr alle. Einige sind mir ausgeschlagen worden.«
»Du brauchst trotzdem einen Erwachsenennamen«, erklärte ich entschieden. »Ich gebe ihn dir jetzt: Ingalis Hadrun Alen. Weißt du, was das bedeutet?«
Er schüttelte den Kopf und sah mich mit großen Augen an.
»Es bedeutet: Der Wille, für sich selbst verantwortlich zu sein. Geh, Ingalis. Du wirst nicht mehr gequält, weder von Kratt noch von nächtlichen Dämonen.«
Dann richtete ich meinen Blick auf Drachenjünger Gen. »Geht auch Ihr. Ihr habt erreicht, was Ihr wolltet. Ich fange morgen wieder mit der Ausbildung an.«