6

Staub. S Der Hof, die Hütte der Schüler.

Meine Latrine. Die Wände waren auseinandergerissen, das Dach eingestürzt, als wäre eine gigantische Faust hineingefahren. Ich starrte die Trümmer ungläubig an, während das Zwielicht einen sternenübersäten Umhang über das Tal Re warf.

»Wer war das?«, stieß ich heiser hervor. Ich drehte mich um, zu den schattigen Gestalten der Schüler, die mit mir zusammen den Hof betreten hatten. Mein Unglauben schlug in Wut um.

»Wer war das?«, wiederholte ich, diesmal schreiend. Aus den Stallungen antwortete mir das Gebrüll einer Drachenkuh, gereizt von der Wut in meiner Stimme. Die Drachen in den anderen Stallboxen bewegten sich unruhig, ihre Krallen kratzten über den Schiefer. »Bei der Macht des heiligen Re, ich verlange, dass du dich erklärst!«

Im Osten folgte ein weißer Komet funkelnd seiner Bahn über den Himmel und zog einen Schweif aus unirdischem Grün hinter sich her. Er raste hoch über den angrenzenden Hof hinweg und beschrieb einen vollkommenen Halbkreis über dem Sandsteinbogen, der zu den dahinterliegenden Stallungen führte.

Durch den in diesem Moment, zwischen den Nachzüglern, die von dem Vebalu-Training zurückkehrten, Dono trat.

»Du!« Ich deutete mit dem Finger auf ihn. Der Komet explodierte in einen funkensprühenden Strahlenkranz aus Weiß und Grün; sein unirdisches Licht fiel über Dono, tauchte seinen Körper in die fleckigen Farben eines Leichnams.

Dono hatte meine Latrine zerstört, dessen war ich mir sicher. Seine Selbstachtung hatte heute Nachmittag auf dem Übungsfeld empfindlich gelitten, weil er sich herabgelassen hatte, jemanden anzugreifen, der sich weigerte, Gegenwehr zu leisten. Deshalb hatte er seinen Grimm an der Latrine ausgelassen, die ich am Tag zuvor so mühsam errichtet hatte.

Ein dunkler Schatten löste sich aus einer Ecke des Hofes und schwebte wie ein Gespenst auf Dono zu. Es materialisierte zu einer Gestalt, die wir alle im selben Moment erkannten: Es war der Drachenmeister.

»Hast du das getan?«, zischte er Dono an. Obwohl ich etwas abseits von beiden stand, konnte ich den Drachenmeister deutlich verstehen. Seine Stimme wisperte über den Hof wie ein boshafter Wind.

Dono hob den Kopf und streckte das Kinn leicht vor. »Ja, Komikon.«

Ich erinnerte mich an seinen trotzigen Ton aus meiner Kindheit, damals im Tempel, als Dono kühn verlangt hatte, in die Lehre des Drachenmeisters aufgenommen zu werden.

»Dafür bekommst du die Peitsche.« Der Drachenmeister wandte sich uns anderen zu. »Wer auch immer meine Wahl irgendeines Schülers in Frage stellt, wird ausgepeitscht! Habt ihr verstanden? Zwanzig Hiebe, mit einer nicht in Gift getränkten Peitsche! Niemand widersetzt sich meinem Willen, ganz gleich, wen ich in unsere Reihen gekürt habe! Niemals!«

Er drehte sich zu Dono um. »Zieh dich aus!«

Dono gehorchte, ohne den Kopf zu senken. Als sein Lendenschurz auf dem Boden lag, wirkte der Jüngling im Mondlicht fast überlebensgroß. Seine Nacktheit war für uns alle ein eindrückliches Zeichen seiner Menschlichkeit. Der Komikon befahl Dono, sich mit den Händen an eine Mauer zu stützen. Dono holte tief Luft und zwang sich sichtlich, sich zu entspannen, seine verkrampften Muskeln zu lösen. Denn dann würde die Peitsche keine so schrecklichen Wunden reißen.

Ich zuckte beim ersten Klatschen der Peitsche zusammen, verkrampfte mich beim zweiten und biss mir beim dritten auf die Lippe.

Nach zehn Hieben war meine Wut auf Dono verraucht. Mit zusammengebissenen Zähnen lauschte ich dem Pfeifen der Peitsche, wenn sie durch die Luft sauste, dem trockenen Klatschen des Leders auf der Haut, und konnte meinen Blick nicht von den roten, geschwollenen Striemen auf Donos Rücken abwenden.

Diese Striemen würden beim nächsten, kraftvollen Schlag aufplatzen wie die Haut verfaulter Pflaumen.

Beim fünfzehnten Schlag fiel Dono zu Boden, rappelte sich jedoch mühsam, keuchend, wieder auf; seine schweißnassen Handflächen hinterließen sichtbare Flecken auf der Sandsteinmauer. Im Mondlicht wirkte das Blut, das ihm über den Rücken und die Pobacken hinunterlief, wie Ströme dunklen Weins.

Beim achtzehnten Schlag sackte er wieder zu Boden, ebenfalls beim zwanzigsten, und danach erhob er sich nicht mehr.

Wir standen reglos da, während der Drachenmeister mit seiner geflochtenen Bullenpeitsche spielte, deren Ende auf dem staubigen Boden lag. Er zuckte einmal mit dem Handgelenk, ganz leicht; die Peitsche schlängelte sich in einer behäbigen Welle über den Boden, erhob sich kaum aus dem Staub.

Die Venen im Arm, dessen Hand die Peitsche hielt, traten wie Taue hervor, und ein Lächeln überzog das Gesicht des Drachenmeisters, ein Lächeln wie das einer Mutter, die sich über ihr Kind freut.

»Eidon!« Donos rothaariger Widersacher trat an die Seite des Komikon. »Ich werde morgen wieder unterwegs sein. Du agierst in meiner Abwesenheit als Wai-Komikonpu!«

»Jawohl, Komikon.«

»Jeder, der seine Pflichten vernachlässigt, wird bei Anbruch der Dämmerung von dir selbst ausgepeitscht, auf der Straße der Geißelung. Acht Schläge, mit einer nicht in Gift getränkten Peitsche. Jeder, der sich meinem Willen widersetzt, was meine Wahl dieses Mädchens angeht, erhält die dreifache Anzahl an Schlägen. Verstanden?«

»Wie Re gebietet, Komikon«, antwortete Eidon. »Wie Re gebietet.«

 

Nachdem der Drachenmeister sich entfernt hatte, schlurften die Schüler zur Hütte, lagerten auf dem Boden davor, holten mit gezwungener Gelassenheit ihre Schicksalsräder und Würfel aus den Lederbeuteln an ihren Hüften. Aber ihre Pose war aufgesetzt, als sie Re anflehten, ihren Würfeln wohlgesonnen zu sein; das zertrümmerte Gerippe meiner Latrine war so gegenwärtig wie ein beunruhigendes Geräusch, und Donos blutüberströmte Gestalt, die immer noch vor der Sandsteinmauer kniete, wirkte so bedrohlich wie ein Bestattungsturm hinter unseren Rücken.

Ich stolperte zu dem zerbrochenen Dach meiner Latrine, das wie die Schale einer gewaltigen Nuss auf dem Boden lag, und ließ mich erschöpft darauf herabsinken.

Ringus blies in die Glut unter dem Kessel, entfachte die Flammen, gab den Novizen Befehle und begann die Vorbereitungen für die Mahlzeit des nächsten Tages. Diener verbeugten sich vor den von ihnen ausgewählten Veteranen, die sie bedienten, und sangen für sie Komikonpu Walan Kolriks, die Gebete der Drachenmeisterschüler um Anleitung und Führung. Sie klangen fast wie Trauergesänge und passten ausgezeichnet zu meiner Stimmung.

Ich sah zu, wie die Diener sich um die Veteranen scharten, als die den komplexen Wettstreit des Darali Abin Famoo begannen. Ich wusste so gut wie nichts über dieses Spiel der Vorzeichen, obwohl ich als Kind mitbekommen hatte, dass die Männer des Clans sich auch diesem Darali Abin Famoo hingaben, während der Männerfeierlichkeiten, wenn das Maska reichlich floss und sie davon berauscht waren. Die Veteranen-Schüler jedoch spielten intensiv und mit großem Ernst, während die Diener um sie herumsaßen und mit gleichem Eifer die Drehung des Schicksalsrades ihres jeweils auserkorenen Veteranen, jeden Wurf der Würfel beobachteten und jede Vorhersage verfolgten, welche die Kombination dieser beiden Elemente betraf. Das war kein Amüsement, sondern ein Spiel mit ernsthaftem Hintergrund.

Die Diener stöhnten, spotteten, grinsten und rangelten sogar gelegentlich, als Allianzen rasch gebildet und ebenso schnell verworfen wurden, je nach den Vorhersagen der Schicksalsräder. Ich brauchte keine solche Vorhersage; ich hatte keine Verbündeten.

Noch nicht.

Denn als Eidon sein Schicksalsrad drehte und den Würfel warf, sah ich, wie sowohl er als auch Ringus mehr als einmal von ihrem Spiel zu mir blickten.

An diesem Abend trat ich beim Essen nicht zur Seite, um erst alle anderen vorzulassen, und es zwang mich auch niemand, meinen Platz in der Reihe aufzugeben. Ich aß, was Eierkopf mir in den Napf füllte, was mehr zu sein schien als am Abend zuvor, und kehrte dann zu meiner Hängematte zurück. Ich schlief augenblicklich ein.

Eine Weile später schoss ich ruckartig hoch; mein Herz raste. Jemand hatte meine Stallbox betreten und atmete schwer wie ein gereizter Drache.

Es war dunkel um mich herum, das Dunkel der tiefsten Nacht, die nur schwach vom Mondlicht erhellt wurde. Dono stand zusammengekauert und schief neben meiner Hängematte. Sein Gesicht lag im Schatten, und in der Hand hielt er eine Waffe.

Er hob sie hoch. Ich wich mit einem Schrei zurück.

»Du hast eine Latrine zu bauen.« Seine Worte klangen undeutlich, vom Schmerz verzerrt.

Ich starrte ihn an, während die Gedanken sich in meinem Kopf überschlugen, und bemerkte jetzt, dass die Waffe in seiner Hand eine Schaufel war.

»Befehl des Komikon«, knurrte Dono, ließ die Schaufel wieder sinken und stützte sich darauf.

Ich leckte mir die Lippen. »Ich baue sie morgen wieder auf.«

»Heute Nacht. Befehl des Komikon. Du und ich, zusammen.«

Ich blähte meine Nasenflügel. »Es ist dunkel, Dono …«

»Warum?« Mit einem plötzlichen Schritt näherte er sich mir, benutzte die Schaufel wie eine Krücke. »Warum machst du das, Zarq? Was in Res Namen treibt dich dazu?«

Ich überlegte mir meine Antwort sehr genau. »Kratt hat meinen Vater ermordet«, erwiderte ich dann vorsichtig. »Der Tempel hat mir meinen Bruder genommen, unmittelbar nach seiner Geburt. Kratt hat ihr Gesicht mit seinem Stiefel zertrümmert.«

»Wessen Gesicht?«

»Das meiner Mutter.«

»Menschen sterben«, ertönte nach einer kurzen Pause seine Antwort. »Immerzu.«

»Unser Clan hat Waivia als Kiyu verkauft, Dono.«

Das durchdrang seine gleichgültige Fassade. Seine Gefühle waren auf seinem Gesicht deutlich zu erkennen, bis er sich abwandte und ausspie.

»Glaubst du, das Leben als Schüler wäre sicherer?«, knurrte er dann.

»Ich kann die Dinge verändern.«

»Welche Dinge?«

»Die Art, wie die Dinge sind. Die Statuten des Tempels.«

Er starrte mich an. »Du redest von Revolution!«

»Ja.«

»Du bist übergeschnappt. Du bist eine Frau, Zarq, eine Frau! Du kannst keine Revolution anzetteln. Sieh dich doch an. Du bringst es ja nicht einmal fertig, einen Schülerkameraden niederzuschlagen. In dir steckt nicht das Zeug zu einem Drachenschüler. Verflucht, du hast ja nicht einmal die Kraft, eine Latrine zu bauen.«

Ärger flammte in mir hoch; er kam von irgendwoher, heiß und unerwünscht, aus einem Loch in meinem Geist, das gegraben worden war von allem, was meine Familie und ich ertragen und verloren hatten, einer Grube, die ich mit dem Versprechen auf Rache gefüllt hatte, einem Versprechen, dem ich jetzt den Rücken kehrte, wegen der verrückten Hoffnung, etwas Größeres erreichen zu können.

»Gib mir die Schaufel, dann baue ich die Latrine«, sagte ich, riss ihm das Werkzeug aus der Hand und sprang von meiner Hängematte. Er wich zurück, als meine Brust gegen seine stieß.

»Sieh nur genau zu, Dono!« Ich drängte mich an ihm vorbei, schulterte die Schaufel und schritt zu der Stallbox direkt neben meiner.

Darin stand eine schlafende Drachenkuh, deren Schnauze fast auf dem Boden schleifte. Als sie meine Schritte hörte, wachte sie auf. Die geschlitzten Pupillen weiteten sich, sie blähte die Nüstern und hob den Kopf. Ich stand vor ihrem Stall und drückte meine Hüften gegen die Eisenstäbe.

»Heho, Drache«, murmelte ich. »Ich möchte, dass du mich kennenlernst.«

Ihre gegabelte Zunge zuckte zitternd aus ihrem Maul. Langsam stellte ich meine Schaufel beiseite und knotete ebenso langsam meinen Umhang auf.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Dono aus meiner Stallbox taumelte. Er blieb auf der Schwelle stehen, wie betäubt, als ich den letzten Knoten meines Umhangs löste.

»Was machst du da?«

»Ich hole mir die Kraft, eine Latrine zu bauen«, fuhr ich ihn an, ließ mein Gewand zu Boden fallen, schnappte mir die Schaufel und stieß sie wie eine Lanze gegen die Drachenkuh.

Sie erhob sich auf die Hinterbeine, und ihr runder Schädel stieß gegen die Decke des Stalls, während ihre Klauen, die wie frisch geschmiedeter Stahl glänzten, zischend durch die Luft sausten.

Ihre Zunge schoss heraus, direkt auf mich zu, schwarz von der dicken Schicht Gift, die sie überzog.

Dono riss mich um, als sie zuschlug. Ihre Zunge streifte mit brutaler Kraft meinen Hals, während Dono mich zur Seite warf. Ich landete harte auf dem Boden, Dono auf mir.

Hastig rollte er sich aus der Reichweite der Drachenkuh, und ich folgte ihm, kroch ebenfalls rasch vom Stall des Drachen weg.

Krallen zischten durch die Luft, schuppenbedeckte Muskeln krachten gegen Stein. Der bittere Gestank eines wütenden Drachen vernebelte die Luft wie Rauch von brennendem Öl.

Ich brach über Donos Waden zusammen. Die Wucht, mit der die Drachenzunge mich getroffen hatte, und die Kraft, die darin lag, hatten mich schockiert. Mein Hals wurde gefühllos, und meine Kehle schwoll unter den dicken Striemen immer mehr an.

»Idiot!«, keuchte Dono, stieß mich von seinen Beinen und stand hastig auf. Er wischte mit seiner breiten Handfläche das Gift von meinem Hals. »Sie sind darin geschult, immer auf das Gesicht zu zielen; es sind Drachen, die zum Kämpfen ausgebildet wurden, Kriegerreittiere, keine Brutdrachen.«

Ich bekam keine Luft mehr. Die Striemen an meinem Hals würgten mich wie eine Garrotte. Panisch griff ich mir an die Kehle.

»Halt still!«, blaffte Dono mich an, riss sich den Lendenschurz vom Leib und rieb heftig an meinem Hals. »Stirb jetzt bloß nicht, hörst du? Der Komikon wird mich umbringen. Stirb mir nicht unter den Händen weg, Zarq!«

Seine Worte schwollen zu einem Brausen an, und mir wurde schwarz vor Augen.

 

Ich kam wieder zu mir. Warme Lippen lösten sich von meinen. Ich schmeckte den Atem einer anderen Person in meinem Mund, feucht, dampfend, mit dem Aroma von Eintopf.

Ein Gesicht schwebte über meinem, verblasste, verschwamm, wie ein sonderbarer Dämonen-Mond.

»Beweg dich nicht. Wenn du dich aufregst, schnürt sich dir die Kehle wieder zusammen.«

Dono.

Ich schloss die Augen, konzentrierte mich darauf, ruhig und flach zu atmen. Jeder Atemzug fiel mir schwer, fühlte sich an, als würde ich durch einen Beutel aus Sackleinen atmen, den man mir über den Kopf gezogen und mit Draht um den Hals geschnürt hatte. Es wäre ein Leichtes gewesen, der Panik zu verfallen, mich dem Terror hinzugeben, der mich zu überwältigen drohte.

Aber das Knurren an meinem Ohr bekämpfte diesen Impuls. »Atme, Zarq. Hilf mir.«

Ich konzentrierte mich wieder darauf, ruhig und regelmäßig einzuatmen. Meine Lippen fühlten sich merkwürdig an, als gehörten sie nicht zu mir, und auf meinen Wangen schien sich eine hauchdünne Kruste zu bilden. In meinen Ohren summte ein Schwarm von Insekten, die meinen Kopf vernebelten, und als das Gift von meiner Haut in die Blutbahn eindrang, spürte ich plötzlich, wie eine vertraute Kraft mich durchströmte. Natürlich war das der Grund gewesen, aus dem ich die Drachenkuh gereizt hatte. Nur hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie mit solcher Wucht, einer derartigen Stärke angreifen würde, und auch nicht damit, dass sie auf mein Gesicht zielte.

Die Erde unter meinem Rücken atmete mit mir, schwoll bei jedem Einatmen sanft an und zog sich beim Einatmen zurück. Die Drachenkühe in den Stallboxen passten ihre Atemzüge ebenfalls den meinen an, atmeten in Harmonie mit mir, und selbst die Schüler, die in der Hütte schliefen, sogen die Luft im Gleichklang mit mir ein. Wahrhaftig, jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in der ganzen Brutstätte Re atmete im selben Rhythmus wie ich, ohne im Schlaf zu ahnen, dass ich die Luft beherrschte. Jedenfalls glaubte ich das, in meinem Rausch.

Ich fühlte, dass sogar Donos Atemzüge sich mit meinen vereinten. Ich strahlte, genoss den Triumph, seine Lungen zu beherrschen.

Er zerstörte diese Harmonie. »Warum hast du das getan? Nein, antworte nicht, bleib ruhig.«

Ich öffnete mühsam ein Auge, sah ihn neben mir sitzen, ein Knie aufgerichtet, den Arm darüber gelegt. Er betrachtete mich und fuhr mit der anderen Hand durch seine Locken. Schweiß schimmerte silbern im Mondlicht auf seiner Haut, und am schwarzen Firmament über ihm funkelten Sterne wie Tupfer aus glasiertem Porzellan.

In dem Moment widerfuhr mir ein Grunu-Engros, ein Moment des Drachengeistes. Es ist klar, wovon ich spreche, ja? Dieses täuschende Gefühl, man hätte eine bestimmte Situation schon einmal erlebt, eine Situation, die ein Omen für das zukünftige Leben einer Person ist. Ich meine dieses gemischte, machtvolle Gefühl des Wiedererkennens eines solchen Vorzeichens.

Mir fiel unvermittelt ein, wann ich den Himmel das letzte Mal so von Sternen erhellt gesehen hatte. Es war an dem Abend nach dem Sa Gikiro gewesen, als ich neun Jahre alt war, in jener Nacht, in der meine Mutter zum ersten von vielen Malen, die noch folgen sollten, die Tempelstatuten übertrat, als sie Glasuren und Töpferwerkzeuge im Dschungel versteckte. In jener Nacht hatte man – wie auch in dieser – den Himmel nicht schwarz nennen können, denn er strahlte so hell, dass es aussah, als hätte man weißes, flüssiges Porzellan hineingerührt.

Ich erschauerte.

»Woher kennst du das Gift so gut, Zarq?« Donos Stimme riss mich wieder in die Gegenwart zurück. »Onai dürfen das Gift der Cinai Kuneus, denen sie dienen, nicht zu sich nehmen. Aber du musst es getan haben, heho, weil du es so gut verträgst. Die Menge Gift, die du eben abbekommen hast, hätte dich eigentlich töten müssen, vor allem, weil du es so dicht an deinem Gesicht abbekommen hast.« Er wandte den Blick von mir ab und sah über den verlassenen Hof.

Nach einem Moment ergriff er erneut das Wort. Mittlerweile hatte ich an seinem Tonfall und seinem unnatürlich starren Blick gemerkt, dass er ebenfalls unter dem Einfluss des Giftes stand. Selbstverständlich tat er das. Er hatte schließlich mit der bloßen Hand das Gift von meinem Hals gewischt.

»Sie zielen immer auf das Gesicht, Zarq. Es ist ein Instinkt. Selbst die frisch ausgeschlüpften Drachenjungen tun das, ich habe es selbst gesehen. Sie zielen immer zuerst auf den Mund.«

Er veränderte seine Haltung, während er weiter in die Finsternis starrte. »Weißt du, wie viele Novizen ich auf diese Weise habe sterben sehen? Dutzende, meist Kinder, die noch zu jung waren, um zu begreifen, was ihnen da geschah. Sie wälzten sich auf dem Boden, während ihnen das Blut aus Augen und Nase strömte, sich Blasen in ihrem Gesicht bildeten und platzten, und das so schnell, dass es aussah, als würde etwas unter ihrer Haut herumkrabbeln.«

Ein Windstoß wehte ihm eine Haarsträhne in die Augen. Er wischte sie achtlos zur Seite, während er in seine Vergangenheit starrte. »Du glaubst, du hast Menschen leiden sehen, Zarq? Du hast gar nichts gesehen, bis jetzt, jedenfalls nichts im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe.«

Er verstummte. Wir atmeten wieder im Gleichklang.

Ich schloss meine Augen, um das helle Licht der Sterne auszublenden und meinen Verstand gegen die Bilder abzuschotten, die Donos Worte heraufbeschworen. Ich konzentrierte mich erneut darauf, langsam und behutsam Luft zu holen. Ich stellte mir vor, wie sich die geschwollenen Striemen auf meinem Hals entknoteten, so wie sich die verspannten Muskeln in den Schultern eines Mannes unter den knetenden, eingeölten Fingern einer Frau lösen. Ich stellte mir meinen Atem als ein Band aus süßem, dunklem Honig vor, der meine Kehle hinabglitt, leicht und ungehindert, verfolgte das warme Glühen in meiner Vorstellung bis in meine Lungen. Um diesen Honig herum summte ein Schwarm Bienen, deren Flügel so schnell und heftig flatterten, dass ihr Summen meinen ganzen Körper vibrieren ließ.

Das Summen wurde zu einem Rhythmus, in dem ich mich sanft schaukelte, als läge ich in einer Wiege.

Doch nein, es war ein gutturaleres Summen, ein drängenderes Summen, und das Schaukeln war etwas weniger beruhigend, schien sich nur auf meine Hüfte zu konzentrieren, nicht auf meinen ganzen Körper. Ich schlug die Augen auf.

Dono saß neben mir, hatte ein Knie aufgerichtet. Seine Miene war jetzt nicht mehr nachdenklich, und sein Blick war auch nicht länger in die Finsternis gerichtet. Er sah mich an. Nicht mich, die Person, sondern nur meinen Leib. Er sah nur Brüste und Bauch, Vulva und Schenkel, Teile eines Körpers, nicht das Ganze.

Er streichelte sich, hart und schnell, während sein Blick über meinen Körper glitt. Er hatte den Mund etwas geöffnet, und auf seiner Miene lag ein Ausdruck tiefster Konzentration, die jeden Moment in tiefste Frustration umschlagen konnte.

Plötzlich versteifte er sich, sein Kopf ruckte nach hinten, und er kniff die Augen zusammen. Das Stöhnen tief in seinem Bauch klang, als hätte jemand einen Dorn entfernt, der sich tief in seine Haut eingegraben hatte.

Er streichelte sich wieder, langsam diesmal, genüsslich, voller Lust; er stöhnte wiederholt leise auf, schüttelte sich, und dann vertrieb ein Ausdruck der Zufriedenheit die Intensität von seinem Gesicht.

Mein Schoß wurde warm, als Verlangen in mir aufblühte. Ich hob meine Hand, die so kühl und schwer schien wie Marmor, um mich selbst zu berühren. Dono riss plötzlich die Augen auf.

»Nicht!«, stieß er heiser hervor.

Ich ließ meine Hand zurückfallen. Als ich sie hob, hatte ich den warmen Fluss aus Honig unterbrochen, der meine Kehle hinabrann. Augenblicklich bildete sich ein zäher Kloß, der mich zu ersticken drohte.

Dono fluchte. »Atme ruhig, Zarq. Und beweg dich nicht, hörst du? Ich meine es ernst: Rühr dich nicht!«

Ich lag regungslos da, während wir uns ansahen. Dann wandte er den Blick ab, mit einem Ausdruck der Selbstverachtung auf dem Gesicht. Die Luft um ihn herum roch jetzt anders, bitter und salzig wie Seetang. Es war der Geruch seines Samens, den er auf dem heiligen Boden vergossen hatte. Ein Opfer an Re: Die Tempelstatuten verbaten so etwas nicht, keinem Mann, heißt das.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich wieder auf meine Atmung. Als meine Atemzüge leiser wurden, sprach Dono.

»Der Komikon hat mir befohlen, dich zu wecken, heho. Dir zu helfen, die Latrine wieder aufzubauen. Er hat mir einen Trank gegeben, den ich dir vorher verabreichen sollte.« Er verstummte, und ich hielt die Augen geschlossen. »Wenn du schweigst, gebe ich dir morgen früh diesen Trank, den ich dir heute hätte geben sollen. Verstanden? Oder aber ich trinke ihn selbst. Re weiß, wie sehr ich ihn brauche.«

Ich nickte unmerklich. Ich verstand ihn.

Es war nicht meine Provokation des Drachen, die Dono vor den anderen verheimlichen wollte, was ohnehin unmöglich gewesen wäre, wegen der geschwollenen Striemen auf meinem Hals.

Nein, seine eigene Reaktion wollte er geheim halten. Dass er seiner Lust in meiner Gegenwart nachgegeben hatte, sollte niemand erfahren.

Er drehte sich weg und blickte auf den von den Sternen erleuchteten Hof hinaus. »Du hast keine Ahnung, was du da auf dich nimmst, Zarq. Du kannst den Tempelstatuen nicht so einfach trotzen. Du kannst dich dem Imperator nicht widersetzen.«

Er stand auf, mühsam, mit steifen Gliedern, und blickte auf mich herunter.

»Ich trage dich in deine Hängematte, wenn du dich bewegen kannst, und dann baue ich deine verdammte Latrine allein wieder auf. Hast du gehört? Ich werde mich wegen deiner Dummheit nicht noch einmal auspeitschen lassen!«

Wenn du mir den Trank gegeben hättest, wie der Drachenmeister es befohlen hatte, hätte ich nicht so unbedacht reagiert, sagte ich mir. Laut konnte ich das nicht äußern, nicht, solange mein Hals so geschwollen war. Stattdessen nickte ich erneut, fast unmerklich.

»Wenn du schlau bist, verschwindest du einfach«, knurrte Dono. »Morgen. Oder übermorgen. Aber ich glaube nicht, dass du so schlau bist, Zarq, hab ich recht?«

Er hob seinen von Gift getränkten Lendenschurz vom Boden auf und verschwand in die eine Ecke des Hofes, um das Drachengift herauszuwaschen. Im Unterschied zu mir war seine Reizschwelle im Hinblick auf das Drachengift sehr niedrig, denn er hatte niemals so freien, unkontrollierten Zugang dazu gehabt wie ich als Onai. Nein, ich konnte mir gut vorstellen, dass der Drachenmeister seine Schüler sehr scharf im Auge behielt, damit sie nicht nach Belieben dieses Drachenfeuer zu sich nahmen und damit nicht nur gegen die Statuten des Tempels verstießen, sondern auch in die nebulöse Welt der Süchtigen abglitten.

Ich starrte zu den Sternen hinauf, fühlte ihr weißes Funkeln fast wie Wassertropfen auf meinem Bauch. Aus der Ecke des Hofes, in die Dono verschwunden war, ertönte das Quietschen von rostigem Eisen, dem ein Platschen folgte, als das Wasser aus der Pumpe strömte. Mich fröstelte.

Wenige Augenblicke später kehrte Dono zurück, den feuchten, ausgewrungenen Lendenschurz um die Hüften und Kratts Umhang in der Hand. Er legte mir den Umhang über und fing an, hin und her zu gehen. Er betrachtete die Sterne, die Stallungen. Die Zeit verstrich gemächlich. Der Mond und die Sterne trieben ebenso träge über den Himmel. Dono lief weiter auf und ab.

Schließlich verließ ihn die Geduld. Er hockte sich neben mich, sein Gesicht eine Maske der Erschöpfung, trotz des Giftes.

»Ich werde dich jetzt hochheben«, sagte er. »Ich muss diese verdammte Latrine noch bauen. Entspanne dich und atme weiter, hast du gehört?«

Ich nickte.

Er schob die Hände unter mein Gesäß und meinen Rumpf; seine schwielige Handfläche fühlte sich warm auf meinen Pobacken an. Die Muskeln in seinen Armen traten hervor, als er mich anhob und an seine Brust drückte. Ich fühlte die Kraft in ihm, die angespannt darauf gelauert hatte, losgelassen zu werden, wie die Muskeln in den Hinterläufen eines wilden Hundes, der zur Flucht bereit ist.

Dieser Mann, der mich da anhob, war nicht mehr der Waisenjunge, der als Baby neben mir an der Brust meiner Mutter getrunken hatte. Er war etwas ganz und gar anderes, und die Hitze, die er ausstrahlte, der Duft von Schweiß und Samen beschleunigte meinen Puls, bis er förmlich raste.

Er drückte mich an sich. Meine Wange lag an seiner muskulösen Brust. Ich fühlte, wie sein Herz schlug. Meine Stirn berührte eine seiner Brustwarzen. Ich unterdrückte den Drang, meinen Mund darum zu schließen.

Er atmete tief ein und spannte sich an. Ich fühlte, wie der wilde Hund in ihm sich zusammenkauerte, bereit, loszuspringen, mit gefletschten Zähnen. Dann vibrierte ein Knurren tief in seinem Brustkorb, als er mit mir in den Armen aufstand. Er setzte sich langsam in Bewegung, in Richtung meiner Stallbox.

Bei jedem Schritt ließ die Anstrengung, mein Gewicht zu schleppen, seinen Körper von den Schenkeln aufwärts erzittern. Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte, als er sich auf sein Ziel konzentrierte. Ich frage mich, was er wohl empfand, da er eine nackte Frau in seinen Armen trug, selbst wenn es eine war wie ich.

Ich konnte nicht widerstehen, ich konnte es einfach nicht. Es war das Gift, das mich dazu brachte, das Gift und diese Tollkühnheit, die es immer in mir hervorruft. Ich öffnete den Mund, hob meinen Kopf ein wenig und schloss meine Lippen um seine Brustwarze.

Er erstarrte. Ich ließ nicht los, oh nein. Stattdessen saugte ich daran. Sanft, als würde ich nuckeln.

Seine Gurgel hüpfte auf und ab.

»Ich lasse dich fallen«, drohte er heiser.

Ich saugte weiter, langsam, gleichmäßig, im Rhythmus mit meinen schwachen Atemzügen.

»Zarq!« Er schloss die Augen, flehte mich an. Ich ließ die Brustwarze langsam zwischen meinen Lippen herausgleiten.

Und biss zu.

Nicht fest, nein, das nicht. Aber es war auch kein zärtliches Knabbern. Ich biss ihn nicht blutig, aber es musste ihm wehtun. Schmerz ist bei einem Schülerveteranen häufig mit Lust verbunden. Das macht das Gift.

Er schnappte nach Luft, zischend, und der Griff seiner Hände um meinen Rücken und meine Beine verstärkte sich. Ich saugte weiter, fester, hartnäckiger, hatte vollkommene Kontrolle über ihn.

»Zarq!« Es war ein heiseres Keuchen. Doch mein Name klang wie ein Schrei, ein Seufzen, eine Bitte, ein Schmerz, ein Widerspruch. Er wollte, dass ich aufhörte, wollte, dass ich weitermachte.

Ich hörte auf und blies sacht auf seine Brustwarze, die jetzt so fest war wie die Knospe einer Blume.

Langsam öffnete er die Augen. Er atmete rau und unregelmäßig, als wäre er derjenige, dessen geschwollenes Fleisch seine Luftröhre zusammenpresste. Er schluckte und vermied es, mich anzusehen. Zitternd trug er mich weiter zu meiner Stallbox.

Ich glaube, dass er sich vielleicht tatsächlich nach mehr gesehnt hat, denn als er mich in meine Hängematte herabließ, zog er seine Hände und Arme nur sehr langsam unter meinem Körper heraus. Unsere Blicke trafen sich; sein Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt. Die Hitze unserer Körper vermischte sich. Ich atmete schneller. Das genügte, um seine Lust zu vertreiben.

»Nein«, stieß er mit belegter Stimme hervor. »Es würde dich umbringen, in deinem Zustand.«

Dono trat zurück und richtete sich auf. Sobald der Kontakt unterbrochen war, gehörte er nicht länger mir. Jedenfalls nicht mehr so vollkommen wie zuvor. Er sah zur Seite, und seine Nasenflügel blähten sich wie die eines wütenden Drachen.

»Verlass die Stallungen, Zarq. Oder der Tempel wird dich hinrichten. Und selbst wenn er es nicht tut, stirbst du in der Arena. Das weißt du.«