7

Fürchtete ich immer noch meine Gier nach dem Gift, hatte ich Angst, dass ich der Sucht gänzlich verfallen würde? Oh ja. Hätte ich eine Alternative gehabt, ein Mittel, die nötige Kraft aufzubringen, um am nächsten Morgen aufzustehen und meine Pflicht als Schüler zu erfüllen, hätte ich mich dafür entschieden. Aber in meinem Zustand, mit den würgenden Striemen an meinem Hals, die sich anfühlten, als hätte jemand seine Hände um meine Kehle gelegt und würde erbarmungslos zudrücken, benötigte ich die medizinischen Eigenschaften des Giftes.

So hartnäckig ich mich auch nur Tage zuvor gegen den Trank des Drachenmeisters gewehrt hatte, so sehr lechzte ich jetzt danach.

Ich gesellte mich zum Frühstück zu den anderen Schülern. Die Striemen auf meinem Hals pulsierten schmerzhaft. Ich ignorierte Eierkopfs staunend aufgerissenen Mund und seine glotzenden Blicke, mit denen er mich bedachte, während er hinter dem Kessel stand, die Kelle in der schlaffen Hand. Ich beugte mich vor, packte seine Hand und schöpfte Brei in meinen Napf. Er registrierte meine Berührung kaum, sondern starrte mich unausgesetzt an.

»Ich warte auf die Bullenschwingen, dass sie die Herde Res segnen«, sagte ich. Die rituelle Begrüßung drang heiser aus meinem Mund, als hätte ich gerade mit rohen, zerhackten Chilischoten gegurgelt.

Eierkopf kam zur Besinnung. »Möge dein Warten ein Ende haben, mögen Bullenschwingen schlüpfen.«

Ich entfernte mich mit meinem gefüllten Napf und stellte mich an den Rand der Schar ungewaschener Jünglinge. Sie stießen sich gegenseitig an und glotzten.

Ich schaufelte mir mit zwei Fingern den Brei in den Mund, ließ ihn einen Moment auf der Zunge liegen, ein Klumpen schleimiges Getreide. Es fiel mir schwer, ihn hinunterzuschlucken.

Über mir erhellte das Morgengrauen das perlige Rosa des Himmels. Tau funkelte auf den Sandsteinmauern und den schrägen Stalldächern und verwandelte die Farbe des rötlichen Staubes, der alles überzog, in das Rot frischen Blutes. Das zitronige Aroma des Gifts lag so dick in der kühlen Morgenluft, dass es fast den Eindruck machte, als würde Drachengift die Dächer und den Boden überziehen, nicht der reine Tau des Himmels.

Langsam und bedächtig leerte ich den Napf mit dem Haferschleim. Die Geräusche des Morgens waberten um mich herum. Das Klappern der Kelle im Kessel, das Schlürfen und Schmatzen, mit dem die Schüler aßen, ihr Rülpsen, Husten und Schnauben, rituelle Begrüßungen. Ein hungriger Drache brüllte. Ein Schweif klatschte ungeduldig gegen Stein. Schnauzen fuhren hörbar schnaubend durch die leeren Tröge, auf der Suche nach übriggebliebenen Nüssen.

Schon bald würde Eierkopf die Novizen zu den Stallungen treiben, die von uns ausgemistet werden mussten. Ich benötigte dringend meinen Gifttrank.

Ich ließ meinen Blick suchend durch den Hof gleiten, bis er endlich auf Dono fiel, der gerade von den Latrinen zurückkam. Er ging steif und schlurfend, benutzte immer noch die Schaufel als Krücke. Die Latrine, die er in der Nacht wieder aufgebaut hatte, mit Hilfe der Energie, die ihm das Gift verliehen hatte, war wacklig und schief zusammengezimmert, würde schwerlich auch nur dem ersten Monsunsturm widerstehen. Aber sie war fertig, auch wenn das Dach schief aufgesetzt worden war.

Ich löste mich von den herumlungernden Jünglingen und fing Dono ab.

Er blieb schwankend stehen. Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte.

»Gib mir den Trunk«, murmelte ich. »Gib ihn mir sofort, dann lasse ich dich auch davon trinken.«

Er dachte nach, schluckte.

»Was wird er mit mir machen?«, fragte er heiser.

Er hatte noch nie verdünntes Gift getrunken. Sicher, als Schülerveteran war er dem Gift ausgesetzt gewesen, allein schon durch die giftgetränkten Peitschen des Drachenmeisters, und gewiss hatte er auch einige Hiebe der giftbenetzten Zungen der Drachenkühe abbekommen, aber kein Schüler hatte jemals Gift getrunken. Natürlich nicht. Es verstieß gegen die Statuten des Tempels.

»Du bist ausreichend daran gewöhnt«, erwiderte ich. »Es wird dir nicht schaden. Die Wirkung des Giftes ist weit größer, wenn du es schluckst. Dein Schmerz wird verschwinden, zumindest tagsüber. Vielleicht betäubt es ihn sogar bis in die Nacht hinein.«

Das Gift hatte ihm eindeutig genug Kraft verliehen, dass er in der Nacht meine Latrine wieder aufbauen konnte, denn unter normalen Umständen hätte er einfach nur stöhnend auf dem Bauch gelegen und unter den Schmerzen gelitten, die ihm die Peitschenstriemen auf seinem Rücken bereiteten.

Er stützte sich schwer auf seine behelfsmäßige Krücke. Dono brauchte das Gift genauso dringend wie ich. »Also gut. Komm hierher zurück, sobald Eierkopf euch alle hinausgebracht hat.«

Er drehte sich um und humpelte davon. Ich vermied es, seinen Rücken anzusehen.

Kurz danach führte Eierkopf uns Novizen durch eine Seitentür in den angrenzenden Hof. Von ihm ging ein weiterer Hof ab, ein kleinerer, an dem nur wenige Stallungen lagen, in deren Boxen sich Drachenkühe von irgendwelchen Verletzungen, von Verdauungsbeschwerden oder Krankheiten erholten. Ein niedriges Holzgebäude nahm fast zwei Drittel dieses Innenhofs ein. Die Bohlen der baufälligen Veranda des Gebäudes knarrten unter unseren Füßen, als wir Eierkopf folgten. Die Novizen gingen langsam, ebenso vorsichtig wie ich.

Eierkopf knabberte an einer Schwiele auf seiner Handfläche, während er neben mir von einem Fuß auf den anderen trat. »Eidon hat nichts davon gesagt, dass du heute nicht arbeiten sollst, also musst du arbeiten, hörst du? Wir arbeiten nicht oft in der Sattelkammer, also sei froh, dass er uns heute eine so leichte Aufgabe gegeben hat.«

Er duckte sich durch eine niedrige Tür in das dunkle Innere des Gebäudes. Ich folgte ihm mit den anderen Novizen.

Es roch nach Messing, nach Bienenwachs, steifem, neuem Leder. Nach geöltem Holz und trockenem Hanf.

Während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, nahmen Formen Gestalt an, bildeten merkwürdige Umrisse. An den Wänden hingen in ordentlichen Reihen mehrere Klauen voll Gegenstände. Mottenzerfressene Decken waren fein säuberlich auf dem Boden unter ihnen in hüfthohen Stapeln aufgeschichtet.

»Das ist die Sattelkammer, heho«, erklärte Eierkopf. Seine Stimme wurde von den Dachbalken und den Wänden gedämpft. »Hier wird die Ausrüstung aufbewahrt, Zügel, Sattel und das ganze Zeug für die Parade. Aber nicht die Ausrüstung für den Kampf. Die lagert in der Cafar. Eidon will, dass wir all das hier säubern und reparieren. Verstanden?«

Eierkopf trat zu einer Wand und hob ein sperriges Objekt von einer der vielen Halterungen. Es war ein Sattel. Auf den Haken an den Wänden hingen große Reitsättel, mit Steigbügeln und Haltegriffen, vorn und hinten. Als Eierkopf zu uns zurückkam, keuchte er unter dem Gewicht des gewaltigen Sattels, den er in den Armen hielt. Er deutete mit einem Nicken auf eine lange, brusthohe Holzkonstruktion, die an ein Spitzdach erinnerte.

»Steht nicht einfach hier rum! Nehmt zu zweit einen Sattel und tragt ihn hierher, zu dieser Bank!« Er demonstrierte mit seinem Sattel, wie es ging; schob ihn über dieses Gestell, so dass die Steigbügel an beiden Seiten herunterbaumelten. »Seht zu, wie ich es mache, und macht es mir dann nach!«

In dem folgenden lärmenden Durcheinander schlüpfte ich rasch aus der Tür und lief in unseren Hof zurück.

Dono wartete bereits auf der Schwelle meiner Stallbox, als scheute er davor zurück, sie in meiner Abwesenheit zu betreten.

»Wo ist es?«, keuchte ich und sah mich suchend nach dem Trinkkürbis mit dem Gift um.

Sein Blick streifte mich und zuckte dann weg, so scharf und schnell wie der Schnabel eines Vogels, mit dem er seine Beute aufspießt.

»Woher weißt du, dass es meinen Zustand nicht nur noch verschlimmert?«, wollte er wissen.

»Das Gift?« Allein die Idee verblüffte mich. Woraufhin er mich erneut scharf anschaute. Ihm wurde im selben Moment klar, das konnte ich erkennen, dass ich schon Gift getrunken hatte, und zwar viel Gift.

»Es könnte dir vollkommen die Kehle zusammenschnüren«, stieß er heiser hervor. »Du kannst nicht wissen, ob nicht genau das passiert. Ich wette, du bist noch nie am Hals getroffen worden, jedenfalls nicht so heftig.«

»Ich habe genug Gift getrunken, um zu wissen, wie es auf mich wirkt, Dono. Es wird mir nicht schaden. Die Verletzung kommt von der Wucht, mit der die Zunge mich getroffen hat, nicht vom Gift selbst.«

»Es war die Kombination von beidem.«

»Meine Gifttoleranz ist größer als die jedes anderen Schülers hier.«

Dono betrachtete mich mit seinen dunklen Augen. »Der Tempel wird dich ganz bestimmt hinrichten. Du bist eine Ausgeburt.«

»Nein.«

»Eierkopf hat gesagt, dass du dich selbst Dirwalan Babu genannt hast. Das sind Djimbi-Worte, Zarq. Und Djimbi ist die Sprache der Ausgeburten.«

Ich sah ihn finster und wenig erfreut an. Dann begriff ich, was er meinte. In der Sprache des Imperators gab es kein Wort für Tochter, doch hatte ich mich Eierkopf gegenüber als Tochter des Himmelswächters bezeichnet. Ich hatte den alten Malacarit-Ausdruck Babu benutzt. Der Drachenmeister selbst hatte mich so genannt.

»Es ist nicht Djimbi, es ist altes Malacarit.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe als Onai die Alte Sprache gelernt, während man mich in der Kunst der Hieroglyphen unterwies.«

»Für mich klingt das wie Djimbi.«

»Gib mir einfach den Trank, Dono.«

»Die Djimbi sind Ausgeburten. Der Tempel exekutiert alle, die einer Ausgeburt helfen.«

»Der Komikon ist auch gescheckt«, konterte ich. »In seinen Adern fließt Djimbi-Blut. Ist er etwa eine Ausgeburt?«

»Er sollte dir keinen Trank geben. Es verstößt gegen die Statuten des Tempels, Drachenfleisch zu verzehren.«

»Gift ist kein Fleisch.«

»Es ist trotzdem falsch.«

»Also willst du dich den Wünschen des Komikon widersetzen? Mir den Trank verweigern?«

Wir starrten uns an, angespannt und unnachgiebig.

Schließlich zuckte Dono mit den Schultern. »Du gibst mir die Hälfte ab, kapiert? Die Hälfte, und sag dem Komikon nichts davon.«

»Die Hälfte«, stimmte ich zu, obwohl es mich ärgerte. Ich hatte vorgehabt, ihm nur einige Schlucke zu gewähren, nicht die Hälfte des Tranks.

Dono nickte und humpelte aus dem Stall. Wenige Augenblicke später kehrte er zurück, die Lippen fest zusammengepresst, weil das Laufen ihm sichtlich Schmerzen bereitete. Ohne ein Wort zu sprechen, traten wir in den tiefen Schatten an der Rückwand meiner Stallbox.

Er hielt den Kürbis in seinen Händen. Wir standen dicht zusammen, einander zugewandt. Unsere Atemzüge glichen sich einander an. Seine Augen glühten fast bernsteinfarben, so gelblich wie die eines Drachen.

»Es wird dich hoch erheben«, flüsterte ich. »Es hat eine weit stärkere Wirkung, wenn man es trinkt, und sie hält länger an.«

Er nickte. Draußen verwandelte sich das buttergelbe Licht des Morgens in das gleißende Glühen des Vormittags, und hinter den Mauern der Stalldomäne ertönten die gedämpften Geräusche von arbeitenden Rishi.

Dono hob den Kürbis an die Lippen.

Ich konnte nicht anders; ich streckte die Hände aus und legte sie auf seine. Um zu kontrollieren, wie viel er trank, selbstverständlich, damit genug für mich übrig blieb. Er schüttelte mich nicht ab.

Er öffnete den Mund und hob den Kürbis ein Stück weiter an. Seine Gurgel hüpfte auf und ab, als er schluckte. Ich hörte, wie die Flüssigkeit durch seine Kehle gluckerte. Nach mehreren Schlucken ließ er den Kürbis sinken, zögernd.

Ich beobachtete ihn, wartete darauf, dass das Gift in ihm zum Leben erwachte. Ich erkannte den Moment genau: Seine Augen weiteten sich kurz, wurden strahlend und hart, als hätte ihm jemand Zuckerglasur auf seine Augäpfel gepinselt, die sofort erstarrte.

Er erschauerte und schloss die Augen. Ich wusste, welch wildes Feuer durch seine Stirn-und Nebenhöhlen raste, in seinem Bauch loderte und den Schmerz verzehrte, den ihm die Striemen auf dem Rücken bereiteten. Ich wusste, welche Macht und Ekstase in ihm aufwallten, ihn über die bloße, sterbliche Existenz erhoben. Ich wusste, welche Lust in seinem Blut brannte, heiß und unübersehbar.

Seine Erektion berührte meinen Schenkel.

Ich leerte rasch den Rest des Tranks und wartete auf die Wirkung. Sie würde nicht annährend so schnell und intensiv sein wie das, was Dono bei seinem ersten, jungfräulichen Schluck Drachengift erlebte. Aber ich nahm, was ich bekommen konnte.

Ich umfasste seinen Penis und streichelte ihn, während ich wartete, angestachelt von seiner Unfähigkeit, seinen Körper zu beherrschen, ermutigt von seiner Schwäche, seinem Verlangen, seiner Nähe. Ich sehnte mich nach Zuwendung von ihm, irgendeiner Form der Zuneigung.

Du weißt nicht, wozu diese Lust dient, hätte ich ihm gern ins Ohr geflüstert. Dir ist nicht klar, dass diese Lust für Frauen gedacht ist, damit sie sie ermutigt, sich vor den Drachen zu legen, ihm beizuwohnen, auf dass sie die Gedanken des Drachen hören können.

Diese Erkenntnis war mir gerade erst gekommen, herbeigetragen von den feurigen Schwingen des Giftes, gefolgert aus dem, was ich im Konvent von Tieron miterlebt und am eigenen Leib erfahren hatte. Und in diesem Moment schien sie mir absolut logisch zu sein.

Ich streichelte Dono weiter; sein Glied lag so glatt und hart wie gebrannter Ton in meiner Hand. Verlangen pulsierte auch in mir, wenngleich etwas gedämpft durch die schwache Wirkung des Giftes angesichts meiner Gewöhnung daran.

Dono kam mit einem Schrei, bog den Rücken durch, und seine Miene verzerrte sich zu einer Grimasse ungezügelter Freude.

Jetzt beugte ich mich vor. »Du willst gar nicht, dass ich verschwinde, Dono. Du willst, dass ich bei dir bleibe, hier in der Domäne des Komikon. Sag mir, dass du willst, dass ich bleibe.«

Er öffnete mühsam die Augen, und seine Lippen öffneten sich langsam.

»Ich will …«, krächzte er. Dann biss er sich auf die Lippen und wandte zitternd den Blick ab.

 

Früher einmal, vor fast einem Jahrhundert, durfte eine Frau nicht ohne Begleitung eines Mannes durch die staubigen, schmalen Gassen von Brutstätte Re gehen.

Sie musste immer den Bitoo tragen, ein unantastbares Kleidungsstück, das ein vom Tempel auserwählter Zunft-Clan herstellte. Außerhalb der Clanmauern war es ihr verboten, einen Mann anzusprechen oder zu berühren, sei es ihr Sohn, ihr alter Vater oder der Mann, der sie außerhalb des Geländes ihres Clans begleitete. Jede Geste in Richtung eines Tempels oder eines Drachen war ihr verboten, ebenso, ihr schmutziges Wasser auf dem Boden zu vergießen, auf dem sie ging. Es gab wattierte Tücher, sogenannte Difees, die nur dem einen Zweck dienten, den Schweiß aufzunehmen, den sie während ihres Aufenthalts außerhalb ihres Geländes vergoss. Je feuchter das Difee einer Frau bei ihrer Rückkehr war, desto größer ihre Wachsamkeit dem Schweiß gegenüber und folglich auch desto glühender ihre Frömmigkeit. Unter viel aufgesetztem Stöhnen wegen der mühsamen Wäsche verglichen die Frauen ihre Difees, wenn sie von einem Ausflug auf das Clan-Gelände zurückgekehrt waren.

Männer waren verlegen, ungeduldig und beklommen, wenn sie eine Schar Frauen außerhalb der Mauern ihres Clans begleiten mussten. Dennoch waren solche Ausflüge regelmäßig vonnöten. Frauen mussten die Waren auf Karren zu einem der Märkte der Brutstätten ziehen, damit die Männer sie dort gegen das Geldpapier des Tempels oder andere Waren eintauschen konnten. Ebenso mussten Frauen in der Zeit des Feuers Wasser von dem nächstgelegenen Tiefbrunnen holen. Wer sonst sollte diese Pflichten erfüllen? In meiner Jugend erzählte die Mutter meines Vaters, die das erstaunliche Alter von zweiundfünfzig Jahren erreichte, uns Mädchen jeden Abend Geschichten aus dieser Zeit, als mahnende Erinnerung daran, wie einfach unsere Kindheit im Vergleich zu ihrer war. Die schweren Falten um ihre wässrigen Augen glänzten im Gedächtnis an all das Leid, und ihre Worte verfolgten uns bis in den Schlaf. Obwohl sie starb, bevor ich sechs Jahre alt war, habe ich ihre Geschichten niemals vergessen.

Eine, die sie besonders liebte, war die von ihrer ältesten Nabel-Tante.

Es war mitten in einer besonders harten Zeit des Feuers, als die Muay-Pflanzen schlaff in den Clangärten lagen und ihre verwelkten, braunen Blätter sich zusammenrollten. Unter der erbarmungslosen Glut der Sonne knackten die Bretter der Frauenhäuser wie die alten Knochen eines sterbenden Tieres, und die Wassertürme des Clans stanken von Schlamm und den aufgeblähten Kadavern von Ungeziefer, das vom Durst getrieben in die großen Bottiche gefallen und ertrunken war.

Damals fanden häufig Gänge zum örtlichen Tiefbrunnen statt. An einem besonders heißen Tag wurde meiner Großmutter, die damals sieben Jahre alt war, die Aufgabe zugeteilt, mit ihrer Mutter, ihrer ältesten Nabel-Tante und zwei weiteren kräftigen Mädchen Wasser zu holen. Sie warteten in der apathischen, unendlich langen Schlange vor dem Tiefbrunnen vom Morgengrauen bis beinah zum Mittag. Unter ihren Bitoos kochten sie förmlich, ihre Haut war so fiebrig heiß wie die glasierte Haut einer auf dem Spieß gerösteten Sau, und sie konnten weder denken noch sich rühren, ja, sie vermochten kaum zu atmen. Sie wechselten sich in der Schlange unter dieser gnadenlosen Sonne ab und suchten Schutz im Schatten des nahegelegenen Tempels. Wenngleich das die brütende Hitze der Sonne und die Wärme unter ihren Bitoos kaum linderte.

Schließlich kamen sie an die Reihe. Endlich spritzte das abgestandene, metallisch schmeckende Wasser in ihre enormen Urnen.

Auf ihrem Rückweg zum Gelände des Clans balancierten sie die sperrigen Urnen mit dem kostbaren Wasser auf ihren Köpfen. Die Tante meiner Großmutter stolperte über einen Ziegelstein, der aus einer der uralten Mauern gefallen war, welche Clan von Clan, Zunft von Zunft trennte. Sie verrenkte sich den Knöchel und schrie auf. Mit einer Hand suchte sie aus einem Reflex heraus Halt, um ihr Gleichgewicht zu behalten, und erwischte dabei aus Versehen den Arm ihres jugendlichen Neffen, der an diesem Tag als Viagandri, als Mädchenhirte, eingeteilt war.

Ein von der Hitze gequälter Drachenjünger mit einer Wange, die aufgrund eines faulen Zahns geschwollen war, beobachtete das.

Die Nabel-Tante meiner Großmutter wurde auf der Stelle in Gewahrsam genommen, wegen des zweifachen Vergehens, dass sie auf Tempelgrund in der Öffentlichkeit gesprochen und versucht hatte, einen Mann zu verführen.

Der Gerechtigkeit wurde zwei Tage später Genüge getan, nachdem die Akolythen der Drachenjünger genügend Steine gesammelt und sie an strategisch günstigen Stellen auf dem Marktplatz fein säuberlich aufgeschichtet hatten. Großmutters Nabel-Tante, die bei lebendigem Leib in ein Grudrun eingenäht worden war, das schwere Leichenhemd aus Hanf, mit dem tote Frauen während ihres Transportes zu den Gharial-Becken verhüllt wurden, wurde kurz nach Tagesanbruch aus dem Tempelgefängnis getrieben. Unter dem Grudrun war sie geknebelt und von den Schultern bis zu den Knien gebunden. Sie konnte nur steif gehen und sah nichts.

Sie wurde aufrecht in ein Erdloch gesteckt, hoch aufgerichtet, als wäre sie ein Zaunpfahl. Das Loch war etwa schenkeltief. Zwei Akolythen der Drachenjünger schaufelten daraufhin Erde in das Loch zurück und gruben sie fest ein. Sie arbeiteten achtlos und hastig mit ihren Spaten, voller Erwartung.

Meine Großmutter, die erst sieben Jahre alt war, wurde aufgefordert, der Steinigung beizuwohnen, weil sie das Vergehen ihrer Tante mit angesehen hatte und von daher eines Pimala-Fuwa bedurfte, der belehrenden Läuterung, die erfolgte, wenn man mit ansah, wie eine Strafe vollzogen wurde.

Außerdem forderte man sie auf, die ersten Steine zu werfen.

Noch als alte Frau erinnerte sich meine Großmutter lebhaft an das Geräusch, das diese Steine auf dem Körper ihrer Tante erzeugten. Es waren leise, dumpfe Geräusche, als würden verfaulte Pflaumen auf dem Boden zerplatzen, wenn sie vom Zweig eines ungepflegten Baumes fielen. Sie erinnerte sich an das Schweigen ihrer Tante, daran, wie ihr Körper bei jedem Aufprall eines Steines gezittert hatte. Sie erinnerte sich an das Toben der kochenden Menge, an das irrsinnige Gebrüll aus obszön aufgerissenen Mündern. Sie erinnerte sich an den schaumigen Speichel, der sich in den Mundwinkeln ihres Cousins bildete, als er seine Tante anbrüllte, wuterfüllt und beschämt über das, was sie ihm und sich selbst angetan hatte mit ihrem achtlosen Schritt, ihrem gedankenlosen Schrei, ihrer verbotenen Berührung.

 

Seitdem hatten sich die Verhältnisse in Brutstätte Re ein wenig geändert.

Obwohl eine Frau nach wie vor einen Bitoo tragen musste, wenn sie das Gelände ihres Clans verließ, konnte sie jetzt auch ohne Begleitung eines Mannes frei reisen. Es war zwar verboten, einen Drachenjünger anzusprechen oder gar zu berühren, aber sie durfte in der Öffentlichkeit mit anderen Frauen sprechen. Allerdings wurden sie zu solchen Unterhaltungen nicht gerade ermuntert. Sie wurden nur übersehen, von allen Männern, die zufällig in Hörweite waren, schlicht ignoriert.

Während meiner Lehrzeit beim Drachenmeister hatte sich eine weitere Veränderung in Brut Re allmählich durchgesetzt. Frauen transportierten nicht mehr nur die Waren des Clans zu den Märkten; sie durften auch selbst mit den Waren handeln, wenngleich mittels demütiger Gesten und kurzer, unterwürfiger Dialoge. Es kam mittlerweile sogar eher selten vor, dass ein Mann hinter einer Matte mit Waren kniete; es wurde eher als unschicklich betrachtet, dass ein Mann sich mit einer solch niederen Arbeit abgab.

Diese Veränderungen, die sich seit der Kindheit meiner Großmutter langsam vollzogen hatten, konnten der ständig wachsenden Uneinigkeit und dem Widerstand zugeschrieben werden, die dem Machtinstrument des Imperators in Malacar zu schaffen machte: dem Tempel. Dem Tempel des Drachen. In der Sprache des Imperators: Ranon ki Cinai.

Der Drachentempel bedeutete nichts anderes als eine theokratische Diktatur, die unserer Nation Malacar von dem unumschränkten Alleinherrscher Imperator Wai Fa-sren vor fast zwei Jahrhunderten aufgezwungen wurde. Wie alle Bewohner des Archipels glaubte auch der Imperator an die Göttlichkeit der Drachen. Er war jedoch gleichzeitig ein pragmatischer Mensch, der nicht beabsichtigte, die Wirtschaft des Landes zu vernichten, das er unterworfen hatte. Also gestattete er per Dekret den Verzehr von unbefruchteten Dracheneiern, die in vom Tempel kontrollierten Brutstätten in Malacar gelegt wurden, wenngleich das Essen von Drachenfleisch nach wie vor verboten blieb. Er verfügte außerdem, dass Drachen weiterhin als Transportmittel und Lasttiere benutzt werden durften, freilich nur von jenen Menschen, die einer solch heiligen Ehre für würdig befunden wurden.

Und würdig waren nur jene Menschen, die Vorfahren aus dem Archipel hatten, dem Tempel gegenüber vollkommen loyal und zudem wohlhabend genug waren.

Einhundertsiebzig Jahre später regierte der vierte Nachfolger von Wai Fa-sren, Imperator Mak Fa-sren, Malacar noch immer von seinem Thron im Archipel aus, und auch er nutzte dafür den Tempel als Werkzeug.

Gewaltige Gewölbe, die wie Bienenstöcke wirkten und ausnahmslos mit achteckigen Zellen ausgestattet waren, die vom Boden bis zum Dach reichten, enthielten die heiligen Schriftrollen, in denen alles stand, was es über Drachen zu wissen gab, und auch, wie Imperator Fas Untertanen in Bezug auf sie leben mussten.

Der Tempel jedoch verfiel allmählich von innen heraus.

Während die militärischen Anführer der vom Imperator in Malacar stationierten Truppen mit den Tempeloberen um die Macht rangen, murrte der ins Land gebrachte Adel, der als Aufseher über die vom Tempel kontrollierten Brutstätten fungierte, sprach von Selbstverwaltung. Wohlhabende Malacariten in der Stadt murrten lauter und häufiger, redeten von Autonomie, während die Rishi in den Brutstätten und die ärmere Stadtbevölkerung sich immer häufiger und offener gegen die Knute des Tempels auflehnten, sich der internen Korruption und des Zwists, der dem Tempel zusetzte, sehr wohl bewusst.

Der tiefste Dorn im Fleisch des Imperators während meiner Lehrzeit jedoch war der zunehmende Widerstand der Weiler der Verlorenen, der Ausgestoßenen, der sich überall in Malacar verbreitete. Diese unabhängigen landwirtschaftlichen Kommunen, die nicht unter dem Schutz eines vom Tempel eingesetzten Kriegerfürsten oder Herrn eines Drachensitzes standen, waren ein unzumutbarer Skandal, eine kühne, verräterische Missachtung der Tempelstatuten und ein Ärgernis für den Imperator.

Aber das alles kümmerte mich nicht, als ich zu der Sattelkammer zurückkehrte, wo Eierkopf und meine Novizengefährten Silber und Leder auf Hochglanz polierten. Erst zwei Jahre später sollte ich überhaupt vom Ausmaß der Schwierigkeiten des Tempels erfahren. Was mir damals Kummer bereitete, in dieser erbarmungslosen, besessenen Art und Weise, die nur Drachengift auslösen kann, war die Tatsache, dass ich lächerlicherweise immer noch Kratts Umhang trug. Sollte ein Drachenjünger jemals die Stalldomäne besuchen, würde er mich für diese Unschicklichkeit auf der Stelle steinigen lassen.

Als ich auf die knarrende Veranda der Sattelkammer trat, war ich entschlossen, mir aus einigen der Decken, die ich an der Wand der Kammer gesehen hatte, eine Männertunika zu fertigen. Ich hätte vermutlich auch aus Kratts Umhang eine Tunika machen können, aber ich hatte nicht das Bedürfnis, die Kleidung dieses Mannes länger als nötig auf meiner Haut zu tragen.

Eierkopf und die Novizen schufteten eifrig, und der Geruch nach Bienenwachs und poliertem Leder lag schwer in der Luft. Trotz meines sehnlichsten Wunsches, unbemerkt in die Kammer zu gelangen, wurde mein Eintreten sofort von allen registriert.

»Wo hast du gesteckt?«, fuhr Eierkopf mich schrill an. »Wir haben viel zu tun!«

Das Gift summte in meinen Adern wie Hornissen mit ausgefahrenen Stacheln. Ich drückte mich an Eierkopf vorbei, ging sofort zu dem nächsten Stapel mit Decken und hob sie hoch.

»Die sind ja vollkommen durchlöchert«, sagte ich so vorwurfsvoll, wie ich konnte.

»Was hast du vor?«, rief Eierkopf.

»Ich werde sie flicken. Ihr Zustand ist erbärmlich. Wofür werden sie überhaupt benutzt, heho?«

»Damit werden die Drachen getrocknet, wenn sie im Nassen trainiert haben.«

»Gut. Nadeln?«

Eierkopf stöhnte erstickt auf, marschierte dann jedoch durch die Hütte und stieß dabei mit den Ellbogen gegen die Sättel, die fein säuberlich auf ihren Halterungen lagen, und brachte die Zügel durcheinander, die in langen Reihen daneben hingen, so dass sie wie Schlangen in seinem Kielwasser wogten und zischten. Am Ende der Kammer rumorte er in den Schubladen eines großen, breiten Schrankes.

Er kam zu mir zurück und hielt mir gereizt eine Rolle hin, die eher nach grober Schnur denn nach Garn aussah, und dazu eine Nadel von der Größe einer Haarklammer.

»Mit der Nadel flickt man Leder!«, stieß er fast entschuldigend hervor. Und setzte dann jammernd hinzu: »Eidon hat aber nichts davon gesagt, dass diese Decken geflickt werden sollten.«

Ich zuckte mit den Schultern, nahm ihm die Garnrolle und die große Nadel aus der Hand, murmelte einen Dank und ging zur Tür.

Sein Schrei hielt mich auf. »Wohin gehst du denn jetzt schon wieder?«

»Nach draußen. Hier drinnen sehe ich nicht genug!« Bevor er mir seine Erlaubnis geben oder sie mir verweigern konnte, verließ ich die Sattelkammer. Meine Mitnovizen starrten mir verblüfft nach.

Mein Benehmen Eierkopf gegenüber war vollkommen inakzeptabel. Keine Frau durfte sich einem Mann gegenüber so verhalten, schon gar nicht außerhalb ihres Clans. Aber ich betrachtete Eierkopf nicht nur nicht als Mann, sondern für mich war die Stalldomäne auch mein neuer Clan, weshalb ich nur wenig Gewissensbisse angesichts meiner Kühnheit empfand, die zudem von meiner vom Gift verstärkten Frechheit rasch erstickt wurden.

Vielleicht war ich meiner Mutter doch ähnlicher, als ich bis dahin geglaubt hatte; nachdem Waivia als Sexsklavin verkauft worden war, hatte meine Mutter ebenfalls keinerlei Reue gezeigt, als sie sich Männern gegenüber ganz ähnlich verhalten hatte.

Ich setzte mich auf die halb verfallene Veranda und machte mich sofort daran, eine Tunika zu fertigen. Es würde genügen, wenn das Gewand mich vom Hals bis zu den Knien bedeckte. Leider hatte ich noch nie gut mit Nadel und Faden umgehen können, deshalb kam ich nur schlecht voran. Mehr als einmal stach ich mir die Nadel in Finger oder Handfläche. Der Schmerz jedoch entzündete jedes Mal die Wirkung des Giftes in meinen Adern neu, woraufhin mir schwindelte, mir alles vor den Augen verschwamm und meine Ohren von einem heulenden Jammern erfüllt waren. Die Veranda schien dann kurz unter meinen Füßen abzutauchen, und ich schwebte in der Luft.

Das Chaos endete jedes Mal nach wenigen Herzschlägen und hinterließ in mir ein glühendes Gefühl der Macht.

Als das Gewand fertig war und ich es überzog, hing es schief von meinem Körper herunter, bedeckte jedoch weit mehr von meiner Haut, als Kratts Umhang es getan hatte. Erfreut schob ich die Hände unter meine neue Tunika, löste den Verschluss von Kratts Umhang und ließ ihn zu Boden gleiten. Damit Eierkopf mich nicht der Lüge bezichtigen konnte, flickte ich dann die restlichen Decken und legte sie fein säuberlich auf einen Stapel.

Gerade als ich die Sattelkammer mit Nadel, Faden und geflickten Decken betreten wollte, hallte ein gedämpfter Jubel von irgendwo aus den Stallungen bis in unseren Hof. Ich blickte in die Richtung des Geschreis und sah etwas weiter entfernt zwei Drachen in den Himmel steigen.

Ihre durchscheinenden, sandfarbenen Schwingen, die mit gewaltigen Schlägen durch die Luft pfiffen, ihre Schuppen, die rostrot und grün wie Efeu in der Sonne glänzten, faszinierten mich so, dass ich beim Anblick der Tiere wie angewurzelt stehen blieb. Die Kraft, die in diesen muskulösen Schultern steckte, mit der sie die Schwingen streckten und bogen, begeisterte mich, während ich mich gleichzeitig anspannte, als würde ich ebenfalls fliegen.

Ich kehrte ihnen den Rücken zu, betrat die Sattelkammer und mischte mich unter die anderen Novizen.

 

Es bereitet ein gewisses Vergnügen, edles, kräftiges Leder zu polieren, als würde man, indem man Wachs in die Maserung reibt, einem Objekt Leben einhauchen, der toten Haut eine Seele geben. Ich arbeitete an diesem Vormittag ohne Pause mit den anderen Novizen, polierte Leder, bis meine Finger vom Bienenwachs glänzten und aufgeweicht waren. Während die Sonne wütend den Staub verbrannte, unfähig, uns in der schattigen Kammer zu erreichen, machte sich allmählich ein Gefühl vom Kameradschaft unter uns breit.

Wie alle Frauen verstand ich mich auf die Kunst des Flechtens, und am späten Vormittag wurde mir aufgetragen, den Novizen dies zu zeigen. Denn die Paradesättel waren mit geflochtenen Borten, Troddeln und Quasten reich geschmückt, mit Perlenketten und faustgroßen Blumen, die aus geknoteten Lederriemen bestanden. Viele davon mussten repariert werden. Obwohl Eierkopf wusste, wie man sie pflegen musste, hinderten ihn seine dicken Finger daran, geschickt zu arbeiten, und seine Versuche, die Novizen zu lehren, wie man es machte, endeten oft im Chaos.

Zuerst zuckten die Hände, deren Arbeit ich korrigierte, vor meinen zurück, und die Schultern, über die ich spähte, beugten sich vor, um jede Berührung zu vermeiden. Aber je weiter der Vormittag vorrückte, desto weniger wurde diese Abwehr, und auch wenn ich während der fröhlichen Plaudereien und Frotzeleien, die gelegentlich unter uns aufflammten, bevor Eierkopf sie knurrend erstickte, niemals persönlich angesprochen wurde, wurde ich auch nicht direkt ausgeschlossen, indem man mir die kalte Schulter zeigte.

Dann erwähnte einer der Novizen ein Gerücht, das er gehört hatte, nämlich dass mehrere Weiler der Verlorenen sich vereint und Brutstätte Cuhan angegriffen hätten.

»Das kann nicht sein!«, widersprach einer der Jungen, ein schwarzäugiger Bursche von vielleicht neun Jahren. »Die Verlorenen haben keine Drachen. Welche Waffen wollen sie da benutzen? Mistgabeln?«

Das brachte ihm höhnische Bemerkungen von einigen seiner Gefährten ein.

»Spiel nicht das Dotterhirn; sie haben Säbel und Knüppel und dergleichen.«

»Äxte, Äxte haben sie auch und Armbrüste, die Feuerbolzen verschießen!«

»Ich habe gehört, dass sie sogar Blasrohre der Djimbi benutzen, mit denen sie giftige Pfeile verschießen.«

Der schwarzäugige Junge schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle, heho«, entgegnete er im Brustton der Überzeugung. »Niemand greift eine Brutstätte an. Niemals!«

»Das stimmt nicht«, murmelte ich und flocht eine Quaste an einem Sattel fest, die ich neu geknüpft hatte. »Der Komikon selbst hat mir gegenüber von einem solchen Aufstand gesprochen.«

Es wurde schlagartig still, und alle sahen mich an. Einige öffneten ihre Münder, wollten wohl Fragen stellen, doch dann schlossen sie sie rasch wieder, offenbar unsicher, ob sie mich akzeptieren sollten, indem sie mich ansprachen, oder nicht. Eierkopf befreite sie aus ihrem Dilemma.

»Wann hat er das gesagt?«, wollte er wissen.

»Gestern Morgen. Nachdem er mich ausgepeitscht hatte, weil ich ihm den Rücken zugekehrt hatte«, setzte ich mit gespielter Reue hinzu.

Auf einer Klaue voll Gesichtern zeichnete sich flüchtig Mitleid ab.

»Und? Ist es wahr? Wurde Brut Cuhan angegriffen?«

»Er sprach von Brut Maht.«

Eierkopf knurrte. »Das ist logischer. Maht ist längst nicht so groß wie Brut Cuhan.«

»Aber warum?«, fragte der Schwarzäugige. »Das ist doch dumm! Der Imperator wird sie zerschmettern!«

»Das kannst du nicht genau wissen«, warf ich ein.

»Aber es ist sehr wahrscheinlich«, mischte sich ein anderer Jüngling ein. »Die Chancen, dass die Verlorenen Maht übernehmen, stehen eins zu tausend.«

»Wäre das etwa ein Grund, es nicht trotzdem zu versuchen?«, setzte ich nach. »Müssen wir nicht manchmal einfach etwas riskieren, gegen alle Wahrscheinlichkeit?«

»Nicht gegen diese Art von Wahrscheinlichkeit.«

»Ich weiß nicht.« Eierkopf runzelte finster die Stirn. »Wir selbst gehen ein großes Risiko ein, wenn wir in die Arena gehen, heho!«

»Das ist etwas anderes«, widersprach der Schwarzäugige eigensinnig. »Wir sind keine Verlorenen.«

»Nein«, knurrte Eierkopf. »Das habe ich auch nicht gemeint. Ich habe nur gesagt, dass wir ein großes Risiko eingehen.«

»Vor allem wir«, murmelte ein Junge düster. »Wir Novizen.«

»Genau.« Eierkopf freute sich sichtlich, dass jemand ihn verstanden hatte.

»Genau darum geht es bei unserer Lehre«, spann ich den Faden ruhig weiter. »Zu versuchen, gegen alle Wahrscheinlichkeit die Arena zu überleben, Diener zu werden, dann Veteran und schließlich eines Tages den Rang eines Drachenmeisters zu erlangen. Keiner von uns wäre hier, wenn wir nicht alle die Hoffnung hegten, eines Tages genau das zu erreichen.«

Einen Moment herrschte Schweigen, während die Jungen meine Worte verarbeiteten.

»Vielleicht ist es dasselbe für die Verlorenen«, fuhr ich fort. »Sie kämpfen, weil sie an ihre Chance glauben, glauben müssen. Gegen alle Wahrscheinlichkeit.«

»Genau wie wir«, knurrte Eierkopf. »Genau wie wir.«

 

Meine Diskussion mit dem schwarzäugigen Jungen ging mir den Rest des Vormittags im Kopf herum, mit der für das Gift typischen Hartnäckigkeit, so wie meine Furcht davor, dass Kratts Umhang mir eine Steinigung von einem zufällig vorbeikommenden Heiligen Hüter einbringen würde. Denn selbst wenn ich den Schwarzäugigen überzeugt hatte, dass die Rebellion der Verlorenen möglicherweise Erfolg hätte haben können, war es ihm seinerseits unwissentlich gelungen, mich davon zu überzeugen, dass sie natürlich vollkommen zum Scheitern verurteilt sein musste. Was mich an diesem Scheitern beunruhigte, war die bevorstehende Rückkehr des Ranreeb der Dschungelkrone und Heiligen Vorstehers von Brut Re zu unserer Brutstätte. Sobald sie wieder da waren, würden sie sich natürlich meiner erinnern, und ihr Blutdurst, der zweifellos von der Rebellion der Verlorenen angestachelt worden war, würde sie dazu bringen, mich auf der Stelle hinzurichten.

Jedenfalls redete ich mir das ein.

Dieser Glaube breitete sich wie ein Fieber in mir aus, und die Gründe, die ihn stützten, wurden so zahlreich und zwingend, dass ich mir gegen Mittag mit der für das Gift typischen, verrückten Zwanghaftigkeit eingeredet hatte, dass weder die wilden Bitten des Drachenmeisters zu meinen Gunsten noch Kratts Intervention mich würden retten können. Eines, und nur eines, konnte das Beil des Henkers davon abhalten, mir den Kopf vom Rumpf zu trennen: Ein konkreter Beweis, dass jemand wie ich als Schüler eines Drachenmeisters dienen konnte.

Was, wie ich sehr genau wusste, bedeutete, dass ich in die Zone der Toten gehen und die Schriftrolle des Rechtshäuptigen Kranichs sicherstellen und vor einer Zerstörung durch den Tempel bewahren musste.

Ich hatte nur einen flüchtigen Blick auf diese Schriftrolle geworfen, in welcher, in wundervollen, uralten Hieroglyphen, jener Vers geschrieben stand, in dem einer beschnittenen Frau, die von einem vom Tempel eingesetzten Drachenmeister erwählt wurde, gestattet wurde, dem Bullen einer Brutstätte zu dienen. Die Rolle befand sich im Geesamus Ir Cinai Ornisak, der vom Drachen geheiligten Zone der Toten von Brut Re, in einem verfallenen Tempel, der von Drachenjünger Gen geführt wurde, einem exzentrischen Hünen von Heiligem Hüter.

Ich klammere mich an den Glauben, dass meine Überlegungen wohlbegründet waren, wenngleich vom Gift beeinflusst, ein Glaube, dem ich bis zum heutigen Tag anhänge.

Während ich also Lederriemen knüpfte und flocht, das harte Sattelleder zusammennähte, überlegte ich mit wachsender Unruhe, dass ich die Zone der Toten erreichen, die Rolle finden und stehlen und noch vor Einbruch der Nacht wieder zurücksein konnte, wenn ich die Sattelkammer bald verließ. Mit etwas Glück würde mein Verschwinden nicht einmal bemerkt werden. Wenn ich … Nun, ich konnte mir irgendeine Geschichte ausdenken, behaupten, dass ich woanders in den Stallungen arbeitete oder trainierte. Wenn man mir nicht glaubte, würde ich einfach nur ausgepeitscht werden.

Während die drohende Strafe einer Auspeitschung mich so gut wie gar nicht beeindruckte, war meine Furcht, mein Schicksal in den Händen des Drachenmeisters zu lassen, groß. War er doch ein Mann, der verdächtig hartnäckig darum kämpfte, bei Verstand zu bleiben. Mich beschlich die Angst, dass ich noch vor dem nächsten Vollmond sterben würde.

Nein. Ich musste die Rolle des Rechtshäuptigen Kranichs besorgen, selbst wenn ich dafür ausgepeitscht werden würde.

Meine Chance, aus der Sattelkammer zu verschwinden, ergab sich ebenso unvermittelt wie unerwartet. Während zwei Novizen mühsam einen Sattel auf seine Halterung wuchteten, rissen sie besagte Halterung aus der Wand. Das Gewicht des Sattels riss den Haken mit einem leisen Geräusch, das fast wie das Reißen von Pergament klang, aus dem Gemäuer, und nach einem winzigen Moment flog ein Bienenschwarm in den Raum. Sie summten wütend, nachdem man ihr Nest entdeckt hatte, das sich offenbar in der Wand befunden hatte, und zwar unmittelbar hinter dem herausgerissenen Haken.

Chaos brach aus, als wir alle zur Tür rannten, als neunzehn panische Novizen nach draußen rasten, um sich schlugen, sich selbst schlugen und kreischten. Ich rannte ebenfalls aus der Sattelkammer, wie meine Gefährten. Nur blieb ich nicht auf dem Hof stehen.

Unter dem Schutz des Lärms und der Verwirrung verschwand ich erneut unbemerkt vom Hof mit der Sattelkammer.

 

Wie dumm war ich doch gewesen, anzunehmen, ich könnte zum Tempel Ornisak in der Zone der Toten wandern, die Rolle suchen und finden und noch vor Einbruch der Nacht zur Stalldomäne zurückkehren.

Es war schon später Nachmittag, als ich über die verstaubten Etagen des verfallenen Tempels in der Zone der Toten stolperte. Ich war vollkommen darauf konzentriert, die verborgene Felskammer zu finden, in der Drachenjünger Gen seine Schriftrollen verwahrte. Obwohl die Wirkung des Gifts, das ich mit Dono getrunken hatte, bereits nachließ, war die Schwellung an meinem Hals so weit zurückgegangen, dass ich schlucken konnte, ohne zu würgen, atmete, ohne das Gefühl zu haben, als würde ich jeden Moment ersticken müssen, und ich vermochte zu laufen, ohne dass jeder Schritt qualvoll meine Verletzung erschütterte. Ich hatte meinen Durst am Tiefbrunnen der Zone der Toten genüsslich gelöscht, wovon die durchnässte Front meiner Tunika zeugte, und war ein wenig erfrischt. Mehrmals auf meiner Reise hatten die Hitze und meine Verletzung mich gezwungen, im Schatten einer von der Sonne gebackenen Mauer zu rasten. Und mehr als einmal hatte ich mich gefragt, ob ich mein Ziel vor Einbruch der Nacht erreichen würde.

Jetzt hatte ich es geschafft.

Doch ich war nicht auf die Emotionen vorbereitet, die mich überfluteten, als ich die Zone der Toten erreichte. Ich blieb stehen, da sich mir die Kehle zusammenschnürte, mir die Tränen in die Augen stiegen, während ich auf die verkohlten Trümmer starrte, wo einst die gewaltigen Bestattungstürme gewesen waren, in denen die Bayen von Brut Re bestattet wurden.

Dreimal hatte ich in der Zone der Toten Zuflucht gesucht, und dreimal war sie mir gewährt worden. Das erste Mal mit meiner Mutter, als ich erst neun Jahre alt war. Wir hatten uns hier versteckt, für die Unterbringung in einem heruntergekommenen Bestattungsturm gearbeitet, der von zwei Makmaki-Brüdern verwaltet wurde, Brüdern, die sich so sehr liebten, wie Brüder es nicht tun sollten. Als ich das zweite Mal in der Zone der Toten Schutz suchte, flüchtete ich vor der Säuberung des Konvents Tieron durch die Tempelinquisitoren; Konvent Tieron lag viele Bergketten und vom Dschungel überwucherte Meilen von Brut Re entfernt. Auch dieses Mal war ich nicht allein gewesen, auch wenn meine Mutter schon seit vielen Jahren tot war. Ich war mit Kiz-dan und ihrem Baby gereist.

Als ich das dritte Mal in der unheimlichen Stille der Zone der Toten Zuflucht suchte, war ich von dem Schwert eines Soldaten der Cafar verletzt worden. Ich hatte die Wunde davongetragen, als ich in einem Anfall von Giftrausch eine Bayen angegriffen hatte, die ich für Kratt hielt. Die anschließende Vergeltung durch die Aristokraten von Brut Re hatte zur völligen Vernichtung der Zone der Toten geführt. Dutzende waren in den Flammen gestorben, und Kiz-dan war mit ihrem Baby verschwunden.

Als ich jetzt dastand, schwankend in der Hitze, überkamen mich erneut Gewissensbisse wegen meiner früheren Handlungen, und mich überfiel auch wieder die herzzerreißende Trauer über den Verlust von Kiz-dan und ihrem Kind. Ich hatte sie beide sehr geliebt und den heiligen Schwestern im Konvent von Tieron geschworen, sie immer zu beschützen.

Nun war ich erneut in der Zone der Toten. Diesmal suchte ich nicht Kiz-dan und ihr Baby, obwohl etwas in mir das wollte, sondern ich suchte eine Schriftrolle, die mein Leben retten konnte.

Warum ergibt es sich nur so häufig, dass das, was wir tun wollen, dem so fern ist, was wir tatsächlich tun?

Der Tempel Ornisak war verlassen, natürlich. Das heruntergekommene Gebäude war nur selten benutzt worden, selbst vor dem Vergeltungsschlag. Seit der Brandschatzung jedoch waren die Bewohner der Zone der Toten zu sehr damit beschäftigt, ihr Leben neu zu gestalten, als dass sie viel Zeit für Frömmigkeit gehabt hätten.

Der Boden im Erdgeschoss des Tempels fühlte sich glatt und kühl unter meinen bloßen Füßen an, als ich zu dem Durchgang an der Rückwand des Tempels stolperte, wo die unterste der Etagen abrupt am Eingang der Felskammer endete. Mit einer Hand stützte ich mich an den Felswänden ab und tastete mich die drei kleinen Lehmstufen in das undurchdringliche Dunkel der unbeleuchteten Kammer hinunter.

Dort blieb ich einen Moment stehen und sog die vertraute, nach Asche riechende Luft ein, während sich meine Augen auf die Finsternis einstellten. Mich fröstelte, doch ich vermochte nicht zu sagen, ob wegen der Kälte, der Erinnerung oder der Erwartung. Vermutlich wegen allem auf einmal.

Es hatte sich nach meinem Aufenthalt hier nichts verändert. Natürlich nicht. Obwohl mir viel widerfahren war, seit ich zuletzt in einer dieser beiden schmutzigen Hängematten geschlafen hatte, die von der niedrigen Decke der Felskammer herunterhingen, war nur eine Klaue voll Tagen verstrichen, seit ich hier fortgegangen war.

Nichts hatte sich verändert. Das heißt, fast nichts. Die Rolle jedoch, die ich suchte, befand sich nicht mehr an ihrem Platz.

Dabei lagen überall im Raum Schriftrollen herum. Auf dem Boden, auf dem schweren, runden Ofen, der in der Mitte der Kammer stand und darauf wartete, während der Zeit des Regens entzündet zu werden und zu verhindern, dass die Schriftrollen feucht wurden. Sie lagen auf den Hängematten, dem Schreibtisch, machten dem Tintenfass seinen Platz streitig, dem Federkiel, dem frischen Pergament und der Kerze. Ein von Holzwürmern zerfressener Schrank, der fast bis an die Decke der Felskammer reichte, quoll über von Schriftrollen, die in Bambushüllen steckten. Ganz oben vom Schrank grinste mich eine Clackron-Maske an, verspottete mich mit ihrer herausgestreckten, roten Zunge.

Die heilige Maske, die eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Drachenschnauze aufwies, wurde von den Heiligen Hütern getragen, wenn sie durch den Tempel schritten und die Strophen der Statuten rezitierten; der große, trichterförmige Mund der Maske verstärkte die Stimme des Drachenjüngers, so dass alle seine heiligen Worte hören konnten. Beim Anblick dieser Drachenmaske schlug mein Puls schneller, obwohl sie sich kaum von den anderen Masken unterschied, die ich bei den verschiedenen Tempelzeremonien in meiner Jugend gesehen hatte. Mein Herz hämmerte wie das einer gejagten Kakerlake.

Doch nicht wegen eines Details im Aussehens der Maske, sondern deshalb, weil ein Detail fehlte.

Wie gesagt: Die Rolle, die ich suchte, war nicht an dem Platz, an dem ich sie das letzte Mal gesehen hatte, lag nicht auf der herausgestreckten Zunge dieser Clackron-Maske, die auf dem holzwurmzerfressenen Schrank ruhte.

Es lagen überhaupt keine Rollen auf dem Schrank, was eigentlich merkwürdig war, weil ansonsten jede Fläche der Felskammer von ihnen übersät war, mit oder ohne Bambushülle.

Mit zitternden Händen entzündete ich die Kerze auf dem Schreibtisch und näherte mich steif dem Schrank. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, hob die Maske an und schüttelte sie. Insekten fielen heraus, landeten auf dem Boden und huschten weg. Ich legte die Maske achtlos zurück.

Langsam ließ ich meinen Blick durch den Raum gleiten, wagte nicht, mich zu schnell zu bewegen, um nicht der Panik zu erliegen, die sich wie ein Gewittersturm in mir aufbaute.

Ich hielt sie im Zaum, wandte mich wieder zu dem Schrank um und begann, systematisch jede Rolle und jede Bambushülle zu durchsuchen, die in dem Schrank verstaut waren.

Aber keine der Rollen trug die Zeichen, die ich suchte, die der Schriftrolle des Rechtshäuptigen Kranichs.

Mit klopfendem Herzen untersuchte ich die letzte Rolle im Schrank. Dann drehte ich mich ungläubig und mit wachsendem Entsetzen um und betrachtete die zahllosen Schriftrollen, die in der Felskammer verstreut waren.

Es würde mich Tage kosten, sie alle zu überprüfen. Tage.

 

Die Kerze brannte fast halb herunter. Meine Augen brannten, als wären sie von Disteln umringt. Mein Kopf drohte, wie ein Felsbrocken von meinen Schultern zu fallen.

Es war bereits Abend, das merkte ich an meiner Erschöpfung und dem warmen, feuchten Duft, der von draußen hereinwehte. Drachenjünger Gen und sein Akolyth Oteul mussten jeden Moment zurückkommen.

Steif, verkrampft und resigniert erhob ich mich und blies die Kerze aus. Dann stolperte ich aus der Felskammer in das Erdgeschoss des Tempels. Augenblicklich drangen die Geräusche und Gerüche des Dschungels im Zwielicht auf mich ein, denn der Dschungel umarmte die Zone der Toten wie ein unerwünschter Geliebter. Der erdige Geruch von Pilzen, vermoderndem Holz, verwesenden Blättern und Schlingpflanzen umgab mich so fühlbar, als läge ich in Kompost. Das scharfe, saftige Aroma von frischen Pflanzen lag wie eine Grundlage darunter, und ein anderer Geruch legte sich wie eine Decke über alles: der trockene, rauchige Gestank von verbranntem Holz, von altem Feuer und Asche. Dieser Geruch gehörte nicht zum Dschungel, aber er würde noch lange über der Zone der Toten liegen, Tag und Nacht, Jahr um Jahr. Es war ein Geruch, der seit der Vergeltung immer gegenwärtig gewesen war.

Von meinem Standort im Erdgeschoss des Tempels Ornisak konnte ich in seine trostlosen Etagen hinaufblicken, sah die Fledermäuse, die über den vom Zwielicht rötlich gefärbten Himmel zuckten, hörte ihr triumphierendes Zirpen, wenn sie mit ihren winzigen Klauen Insekten gefangen hatten und die Käfer noch im Flug in ihre Mäuler stopften.

Ich würde darauf warten, dass Drachenjünger Gen zurückkam, beschloss ich müde. Ich würde ihn anflehen, mir die Schriftrolle zu überlassen. Das würde er tun, ganz bestimmt. Er würde wegen Hochverrat und Blasphemie hingerichtet werden, falls andere Tempeljünger erfuhren, dass er mich einst versteckt und mich verkleidet hatte. Wenn nötig, würde ich ihn damit erpressen.

Ich ging über den Boden des vernachlässigten Tempels, machte einen Bogen um den zerfallenen Steinaltar in der Mitte und ließ mich in der untersten Etage des Frauenbereichs nieder, um dort auf die Ankunft des Heiligen Hüters zu warten.

Oteul, sein Akolyth, traf zuerst ein.

Oteul hatte mich nie gemocht. Er hatte mich während der Monate, die ich – als Akolyth verkleidet – neben ihm und Drachenjünger Gen gearbeitet hatte, sehr reserviert beobachtet. Wir hatten neue Heimstätten für die Kinder der Zone der Toten gesucht, die nach der Vergeltung zu Waisen geworden waren, hatten Knochenbrüche und Striemen geheilt, Feuer gelöscht, die immer wieder aus den schwelenden Ruinen der Zone aufflackerten.

Oteuls Aversion gegen mich erklärte sich nicht nur aus meinem Geschlecht und dem Sakrileg meiner Verkleidung, sondern auch dadurch, dass er Zeuge geworden war, wie ich praktisch über Nacht von der nahezu tödlichen Wunde, die mir der Wachsoldat in der Cafar beigebracht hatte, genas. Am Tag nach meiner Ankunft im Tempel Ornisak hatte er diese außerweltliche Narbe konsterniert angestarrt, die ein schwaches, bläuliches Schimmern auf seine Wangen warf. Von dem Moment an hatte er mich argwöhnisch beäugt.

Ich wiederum hatte ihn misstrauisch im Auge behalten.

Angesichts der Tatsache, dass ich so wundersamerweise von einer Wunde genas, die eindeutig von dem Schwert eines Wachsoldaten Cafar Res stammte, und angesichts von Drachenjünger Gens Eifer, mich vor den Augen der Inquisitoren des Tempels zu verstecken, hatte Oteul gewiss vermutet, dass ich es gewesen war, welche die Bayen angegriffen hatte, die Adlige, die ich für Kratt gehalten hatte, und dass ich von daher für die Vergeltungsmaßnahmen verantwortlich war, im Zuge derer die Zone der Toten dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Beide Annahmen trafen zu.

Aber so sehr ich ihn auch verdächtigte, mich zu verdächtigen – er hatte mich nicht seinen Tempeloberen ausgeliefert, als die ihre Verhöre unter den überlebenden Bewohnern der Zone der Toten durchführten. Durch sein Schweigen war Oteul folglich zum Komplizen meines Verbrechens geworden.

Zu einem mürrischen, widerwilligen Komplizen.

Folglich reagierte ich instinktiv mit Misstrauen, als ich ihn die Etagen des Tempels Ornisak heruntersteigen sah, die Kutte rußverschmiert, dazu Zweige, die sich im Saum verfangen hatten. Ich wollte mich im Schatten versteckt halten. Aber er bemerkte mich sofort, trotz des dämmrigen Lichts, trotz meiner Reglosigkeit und meines Schweigens.

Aber erst als er nur noch ein paar Schritte von mir entfernt war und die Hand mit den langen, feingliedrigen Fingern ausstreckte, um – wie er wohl dachte – für den Tag den letzten der zahlreichen Bettler wegzuschicken, erkannte er meine Gesichtszüge. Er blieb wie angewurzelt stehen.

»Du.« Seine Stimme klang wie ein Peitschenschlag, verächtlich.

Ich stand auf. »Ich warte auf Drachenjünger Gen.«

»Da kannst du lange warten.«

»Warum?«

»Er ist fort. Verschwunden.«

»Was? Wann?«

»Vor ein paar Tagen.«

»Warum?«

»›Warum‹ fragst du?« Er klang ungläubig. »Wir waren da, auf der Straße der Geißelung. Wir haben gesehen, was du getan hast. Er hat dich aufgenommen, dich geheilt, und du vergiltst es ihm, indem du dich ganz offen dem Tempel widersetzt? Indem du es wagst, dich in die Lehre des Drachenmeisters zu begeben? Indem du dich in aller Öffentlichkeit deiner Kleidung entledigst …?« Er sah zur Seite, schluckte und richtete seinen Blick dann wieder auf mich, was ihn sichtlich einige Mühe kostete. »Der Drachenjünger hat sich anschließend höchst merkwürdig verhalten.«

Er hat sich schon immer merkwürdig verhalten, dachte ich, während mir schwindelte.

»Er war aufgebracht, rastlos, außer sich. Er hatte Angst, dass man deine Spur bis zu uns zurückverfolgen könnte, zum Tempel Ornisak.«

»Und jetzt ist er weg«, sagte ich verdattert.

»Um sein eigenes Leben zu retten.«

»Wohin?«, stieß ich heiser hervor.

Er schnaubte verächtlich. »Ich würde es dir nicht sagen, selbst wenn ich es wüsste.«

Ein kalter Hauch glitt über meinen Hals, wie die stählerne Klinge eines Inquisitors.

Drachenjünger Gen war verschwunden. Die Schriftrolle des Rechtshäuptigen Kranichs war ebenfalls verschwunden. Meine Exekution war folglich gewiss.

Ich drehte mich um, ohne meine Umgebung wahrzunehmen, ohne auch nur zu merken, dass ich mich bewegte.

»Er hat mir einmal das Leben gerettet«, sagte Oteul leise hinter mir. »Ich hätte ihm deinetwegen niemals Schaden zugefügt. Aber höre: Ich weiß, was du getan hast. Ich weiß, warum die Menschen dieser Zone unter den Verlusten leiden, die man ihnen zugefügt hat. Du warst der Grund, heho! Wenn es Gen nicht kompromittieren würde, würde ich den Tempel über dich informieren.«

Sein Ton war so dunkel und bitter wie der schwarze, wässrige Saft einer unreifen Walnuss. »Er hätte dich abweisen sollen, anstatt dich zu verbergen. Seine Freundlichkeit ist seine Schwäche.

Aber der Tempel wird dich noch früh genug hinrichten«, fuhr Oteul fort. Seine Stimme klang jetzt zuversichtlich. »Der Tag naht mit großen Schritten, an dem Brutstätte Re von deinem Bösen gesäubert wird. Ich bete darum, dass dieser Tag bald kommen möge. Ich bete um deinen Tod.«

Ich floh aus dem Tempel.