15
Die Zeit in der Viagand verstrich. Ich erfuhr den Wahnsinn und die Euphorie des Drachenliedes, wurde in den Baracken der Wächter missbraucht und »schlief ruhelos« mit Misutvia, wenngleich unsere Vertrautheit miteinander nicht annährend so zärtlich war wie die, welche ich mit Prinrut erlebt hatte.
Ich plapperte in den Erholungskammern, während gierige, grausame Drachenjünger an jedem meiner Worte hingen. Ich sprach von Nestern und Drachenfutter, von Jungbullen und gut gepflegten Schuppen, deutete in meinem Delirium an, dass vielleicht dann ein Bulle aus einem in Gefangenschaft gelegten Ei schlüpfen könnte, wenn man die Gesundheit und die Lebensumstände der Brutdrachen in allen Bruststätten verbesserte.
Die Drachenjünger schrieben meine Worte eifrig mit, und mir wurde bald klar, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Die anderen eingekerkerten Frauen, allesamt Bayen, wussten nichts über die verheerende Wirkung von Hunger, kannten die Bedürfnisse eines Drachen nicht. In ihren Fieberträumen delirierten sie über Politik, deuteten in ihren Interpretationen der Drachengesänge an, wie der Tempel die Pfeiler seiner Macht stärken und sich vom destruktiven Unkraut befreien könnte.
Ich dagegen sprach nicht vom Tempel oder politischen Strategien, sondern von den Drachen selbst. Von fetten Eigelben, die nur durch das beste Futter erzielt werden konnten, von sauberen Nestern, auf denen die Brutdrachen einer Brutstätte sich bequem niederlassen konnten. Ich redete über das, wovon ich etwas wusste: davon, wie Hunger und Krankheit Unfruchtbarkeit nach sich zog.
Eine Weile genoss ich durch die Neuartigkeit meiner Interpretationen viele Vorzüge, so dass ich vor jedem Stallbesuch nur noch einen flüchtigen obligatorischen Abstecher zu den Baracken der Wächter machen musste, und ich wurde nur der Grausamkeit eines Wächters ausgesetzt, und zwar desjenigen, der durch seine Brutalität und Gerissenheit ganz oben in der Hierarchie der Kriminellen stand.
In dieser Zeit der Gnade, in der meine Gesundheit noch halbwegs intakt war, und die Aussicht, mit dem Göttlichen zu verschmelzen, mich wie ein leuchtender Stern leitete, fand ich auch die Kraft, eine Rückkehr in die Vorbereitungszelle zu erbitten. Während meines kurzen Aufenthalts in diesem düsteren, stinkenden Sarkophag erlöste ich die Geister von Prinrut und Kabdekazonvia aus ihrer Gefangenschaft.
Prinrut, so erfuhr ich, stammte aus Brutstätte Ka. Ihr Name lautete Yimplars Limia. Sie war von ihrem Gebieter beschuldigt worden, dreimal eine Fehlgeburt eines männlichen Nachkommen provoziert zu haben, und war für dieses ungeheuerliche Verbrechen verhaftet worden. Obwohl ich nur wenig über Prinrut wusste, war ich davon überzeugt, dass ein solches Verhalten nicht in ihrem Wesen lag. Sie hätte ganz bestimmt ein Baby gewollt.
Die Fehlgeburten waren sicherlich natürlich bedingt gewesen und tragisch. Ihr Gebieter war ungeduldig gewesen und besaß genug Einfluss, um sich ihrer mit Hilfe des Tempels zu entledigen. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, dass sie eine Onai würde, eine heilige Frau, die dem Tempel diente, indem sie sterbende Bullen pflegte. Oder es hatte ihn nicht gekümmert, was aus ihr wurde. Möglicherweise hatte er sie bereits in dem Moment vergessen, in dem der Tempel sie verhaftete und er bei seiner nächsten erwählten Frau lag.
Kabdekazonvia war wegen wiederholter Aufsässigkeit gegen ihren Gebieter verhaftet worden, gegen ihre Verwandten und gegen die Drachenjünger des Tempels. Ich hatte in der bleichen, hageren Kabdekazonvia jedoch keinen aufsässigen Charakterzug erkennen können. Dafür war sie viel zu apathisch gewesen. Wie konnte jemand, der einst so kühn gewesen war, danach eine so leblose Unterwürfigkeit an den Tag legen?
Ich kam nicht auf den Gedanken, mich selbst zu betrachten, als ich diese Frage stellte.
Nachdem ich Prinruts und Kabdekazonvias Geschichte vervollständigt, die Worte penibel mit einem Stein in das weiche Holz geritzt hatte, flüsterte ich ihre Namen. Ich hatte das Gefühl, als würde Prinruts Geist mich kurz und zärtlich umhüllen, bevor er unter dem Spalt der Tür der Vorbereitungszelle verschwand.
Ich stellte mir vor, wie Prinrut wie ein wabernder Nebel durch die steinernen Flure davonflog, um sich dann in einer Spirale aus einem von Schlingpflanzen überwucherten Fensterschlitz in den Himmel zu erheben. In dem Moment würde ein Himmelswächter erscheinen, dessen war ich sicher. Er sank aus dem Himmel über der grünen Dschungelkrone, sammelte die Helix von Prinruts Geist mit seinem Schnabel auf und trug sie hinauf, zu dem Einen Drachen, in die Sicherheit des Himmlischen Reiches, wo ihre Lebenskraft in seinem Maul verschwinden würde. Ihre Essenz würde sich mit der des Drachen vereinen, und, gestärkt durch diese Verschmelzung, würde der Drache seinen ewigen Kampf gegen das Böse fortsetzen.
Prinrut war frei.
Als ich Kabdekazonvias Namen murmelte, schienen Sterne in der Vorbereitungszelle zu explodieren: Ich sah weißorangene Funken, die aus einem kurz aufflackernden Feuer stoben. Diese Funken flogen hell und wirbelnd umher, prallten von den Wänden der Zelle ab, bis sie schließlich den Spalt unter der Tür fanden. Knisternd und zischend verschwanden sie dann aus meinen Augen.
Und obwohl ich so etwas noch niemals zu Gesicht bekommen hatte, war ich davon überzeugt, keiner Halluzination aufgesessen zu sein, die durch das restliche Gift in meinem Blut ausgelöst worden war. Nein. Ich bin mir gewiss, dass ich die göttliche Befreiung der Essenz dieser Frauen sah, die ich gekannt hatte.
Wohlgemerkt, wir lagen nicht oft bei den Drachen. Das hätte jede Frau umgebracht, ganz gleich, wie gut sie das Drachengift vertrug. In den langen Monaten in der Viagand lag ich nur dreimal bei den Drachen. Dreimal. Aber es waren denkwürdige Erlebnisse.
Was lernte ich in diesen dahinwogenden, sich dehnenden und raffenden Tagen in den Stallungen der Brutdrachen und den Erholungsnischen? Was hörte ich?
Lieder, die verherrlichten und reinigten, Melodien, die heilten und transzendierten. Melancholisches und von Trauer umwölktes Wispern. Ich hörte Erde, hörte Wasser, sah vernebelte Bilder von Blut und Strahlen. Ich roch Verlust und Zwang, schmeckte Barbarei und Amputation. Verzückung war ein Geräusch, hatte Stofflichkeit, kannte Trauer.
Manchmal zuckten Bilder durch die Lieder, gebrochen und verschwommen, kochend, schäumend, gärend. Worte drangen aus meinem Mund, herausgepresst von dem Tumult, der in mir toste. Krampfhaft, wild, sengend und bestialisch waren die Bilder, die ich sah, und die Worte brachen kreischend und heulend, wie in einem orgiastischen Sturm aus mir heraus.
Ich fühlte, wie sich mein Anus dehnte, als ich ein Ei legte.
Flog von einer Baumkrone zur nächsten, suchte meine Jungen, während der Gestank von Menschen wie Schwefel in meinen Nüstern brannte.
Meine Hinterbeine zitterten, meine Flanken hoben und senkten sich vor Anstrengung, als ich den Jungdrachen bekämpfte, der meine Brutdrachen besteigen wollte.
Aber die Bilder waren nicht so deutlich, nicht so, wie ich sie beschrieb. Sie waren zerfranst, wie Stücke eines Laubsägepuzzles, an den Rändern abgerieben, von der Zeit, und mein berauschter Verstand setzte sie zu einem verwirrenden Ganzen zusammen, zu einer Collage, die ohne die Gesänge und die Empathie, welche sie strukturierte, nur wenig Sinn ergab. Nur während dieser traumbenommenen Tage und Nächte, die ich in meiner Nische in der Gewölbekammer der Viagand schlief, vermochte mein Verstand diese einzelnen Stücke zu kohärenten Bildern zusammenzusetzen. Dabei gingen viele Stücke des Legespiels verloren, die ich dann mit Stücken aus dem Puzzle meines eigenen Lebens ersetzte, um ein logisches Bild zu erhalten.
Gewisse Bilder jedoch tauchten nach jedem Besuch in den Stallungen regelmäßig wieder auf. Immer und immer wieder erlebte ich als Bulle ein Shinchiwouk. Immer und immer wieder durchfuhr mich die Wut, mein Territorium gegen einen Kontrahenten verteidigen zu müssen, kämpfte ich gegen junge und alte Bullen, damit ich überlebte und die Brutdrachen besteigen konnte, die sich versammelt hatten und zusahen. Noch lange, nachdem ich in die Gewölbekammer der Viagand zurückgekehrt war, zuckten meine Glieder, wenn mir Bilder von diesen Kämpfen durch den Kopf schossen, vom Springen, Zuschlagen, Wenden und dem Versuch, Flanke, Schwingen und Kopf zu schützen. Häufig triumphierte ich, wurde jedoch auch bezwungen und musste mich zurückziehen.
Und immer wieder empfand ich den schrecklichen Verlust, wenn ich ein Junges an einen Python verlor, einen Geier oder einen Menschen. Immer wieder spürte ich die Qual, wenn ein Messer meine Schwinge von meiner Flanke schnitt, fühlte die Fesseln um meine Beine, fühlte die Last eines Jochs auf meinen Schultern.
Aber niemals erlebte ich auch nur die Andeutung eines Hinweises darauf, warum aus den Eiern, die in einer Brutstätte gelegt wurden, niemals ein Drachenbulle schlüpfte.
Nicht ein Mal.
Meine Zeit der Gnade war nicht von langer Dauer, falls man einen Zustand der Gefangenschaft überhaupt als Gnade beschreiben kann.
Nach einer Weile nutzte sich die Einzigartigkeit meiner Interpretationen der Drachengesänge ab, und die Drachenjünger wurden meines Geredes über Futter und Pflege der Brutdrachen müde. Zusammen mit meinem irrationalen Gerede, wenn ich in den Klauen des Gifts lag, frustrierte es die Drachenjünger zusehends.
Noch anderes sprach gegen mich: mein rasch abnehmender Appetit; mein Desinteresse daran, auch nur so zu tun, als würde ich »Kunst« schaffen; dass ich mich nicht bemühte, Faulheit zu vermeiden und meinen Verstand zu üben; die Häufigkeit meines »rastlosen Schlafs« in der Gewölbekammer der Viagand, der von Großmutter und anderen als Fehlverhalten gemeldet wurde; meine bleiche Haut und entzündeten Augen; die Häufigkeit, mit der ich in Gegenwart der Eunuchen aus Gier nach dem Gift weinte.
Als Najiwaivia, das einhunderterste Mädchen in der Gewölbekammer der Viagand auftauchte und kurz danach Najikazonvia und dann Najirutvia, wusste ich, dass meine Zeit als Favoritin vorbei war. Diese drei würden frische Interpretationen der Drachengesänge liefern. Mein schwacher Vorteil war gänzlich verschwunden. Selbst in meinem entkräfteten, benommenen Zustand war mir klar, dass mein nächster obligatorischer Besuch in der Baracke der Wächter sehr hart werden würde und dass diese unverständlichen, stählernen Instrumente in den Erholungsnischen von den Drachenjüngern angewendet werden würden, damit ich die Drachenlieder besser interpretierte.
Da wurde mir klar, dass ich wie Kabdekazonvia geworden war. Ich ergab mich dem Wissen genauso, wie ich mich allem anderen ergab, was meine Wächter mir antaten.
Ich weiß nicht, wer es zuerst sagte. Najiwaivia, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt. Aber jedenfalls riss es uns alle aus unserer Lähmung.
»Bitte verzeih mir meine Anmaßung, Großmutter, aber müssten die Eunuchen nicht längst gekommen sein?«
Meine Augenlider kratzten über meine Augen wie Sackleinen, als ich blinzelte. Langsam fokussierte sich mein Blick auf Großmutter, die mir auf einem Kissen gegenübersaß.
Wir hatten uns mechanisch auf den Kissen und Diwanen der Gewölbekammer versammelt, um die Morgenfütterung über uns ergehen zu lassen. Jetzt hockten wir da und starrten, ohne zu blinzeln, ins Leere. Ich hatte schlecht geschlafen, was häufig geschah, wenn eine Klaue voll Tagen nach meiner letzten Vereinigung mit einem Drachen verstrichen war und das Gift in meinem Blut sich so kalt und scharf wie Reif anfühlte. Der Geist meiner Mutter hatte die ganze Nacht wie eine Made in dem Kokon meiner Psyche gewütet und wie verrückt gegen die Membran gekämpft, die ihn umschloss. Selbst jetzt, am helllichten Tag, als ich mit dem Rest der Viagand auf den Kissen saß und auf die Eunuchen wartete, fühlte ich das schreckliche Zappeln.
»Sie hat recht«, murmelte eine andere der neuen Frauen. »Hätten die Eunuchen nicht längst hier sein müssen, Großmutter?«
Großmutter legte den Kopf auf eine Seite und starrte auf das grünliche Licht, das durch einen der Fensterschlitze in den Raum fiel.
»Es scheint, als würden sie sich heute ein wenig verspäten«, erklärte sie schließlich mit ihrer ruhigen, tonlosen Stimme. »Ich bin sicher, dass sie einen guten Grund dafür haben.«
»Wie lange bleiben wir hier sitzen?«
»Bis sie kommen.«
»Aber wir sitzen bereits eine Weile hier. Mittag ist längst vorbei. Ich muss mich erleichtern, Großmutter. Verzeih mir.«
Jetzt blickten wir alle auf das Licht, das durch den Fensterschlitz hereinschien, und betrachteten den Winkel, in dem die schwachen Lichtstrahlen auf den Boden und die Wände trafen. Es überraschte mich, wenngleich nur ein wenig, als mir klar wurde, dass es stimmte: Wir hatten seit dem Morgengrauen hier gesessen, und jetzt war es bereits nach Mittag. Dann verspürte ich auch dumpf das Bedürfnis, die Latrinen aufzusuchen.
Großmutter leckte sich ihre rissigen Lippen. »Wir müssen noch warten.«
Schweigen. Neben mir sog Misutvia geräuschvoll, als strengte es sie an, die Luft in ihre Lungen. »Das ist noch nie passiert, jedenfalls nicht, seit ich hier bin.«
Wir alle sahen Großmutter an, als müsste sie das Verhalten der Eunuchen verteidigen oder es erklären, indem sie zum Beispiel sagte, dass so etwas durchaus in ihrer langjährigen Gefangenschaft schon vorgekommen wäre.
Sie tat nichts von beidem, starrte nur geradeaus. Ihr bleiches Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
»Bitte.« Eine der neuen Frauen ergriff das Wort. Ihre Stimme war ein gepresstes Flüstern. »Ich muss mich erleichtern.«
Die Dringlichkeit in ihrem Tonfall schien auch mein Bedürfnis zu steigern. Andere rutschten unruhig auf ihren Kissen herum, als sie sich ihres Dranges ebenfalls bewusst wurden. Wir saßen da, ohne uns zu rühren, bis eine der neuen Frauen aufschrie. Sie rappelte sich auf, lief zu einer Staffelei, schnappte sich einen Topf mit eingetrockneter Farbe, stellte ihn auf den Boden, hob ihren Bitoo an und hockte sich darauf.
Ich hätte mich fast eingenässt, als ich das plätschernde Geräusch hörte.
Im nächsten Moment erhoben wir uns alle. Es war chaotisch. Großmutter und Sutkabde waren zu entkräftet, als dass sie sich schnell genug hätten bewegen können. Sie nässten sich ein. Wir anderen kämpften um die wenigen verbliebenen Farbtöpfe und füllten sie bis an den Rand.
In der darauffolgenden Stille sahen wir uns entsetzt an.
»Dafür werden wir gesteinigt«, meinte eine der neuen Frauen, am ganzen Körper bebend.
»Immer noch besser als das, was stattdessen geschehen wird«, erwiderte Sutkabde.
»Du flößt mit deiner Bemerkung den Neuen eine sie schwächende Furcht ein«, tadelte Großmutter sie. »Das ist ein Fehlverhalten. Ich übernehme die Pflicht, es zu melden.«
»Und ich werde die Pflicht übernehmen zu melden, dass du den Boden und deinen Bitoo beschmutzt hast«, sagte Misutvia rasch.
Ihren Worten folgte einen Herzschlag lang Stille. Dann brach das Chaos aus, als wir alle atemlos die Pflicht für uns beanspruchten, das Fehlverhalten der anderen zu melden, die in die Farbtöpfe uriniert hatten. Unsere Welt war so furchteinflößend und klein, dass es damals nicht nur Sinn zu haben schien, sondern sogar ein wichtiger Bestandteil des Überlebens war.
Nachdem alle ihre Ansprüche angemeldet hatten und unsere Köpfe vor Anspannung und Durst pochten, zogen wir uns wieder auf Kissen und Diwane zurück und warteten. Dösten. Als wir aufwachten, quälte uns der Durst. Es war bereits dunkel. Kein Tageslicht fiel durch die Fensterschlitze, sondern nur die kühle Nachtluft drang herein. In der Dunkelheit erblühte die Angst.
»Was ist das? Hat man uns im Stich gelassen, damit wir sterben?«, flüsterte eine körperlose Stimme im Dunkeln.
In dem folgenden Schweigen schlugen unsere Herzen schneller.
»Wer hat da gesprochen?«, fragte Großmutter. »Eine solche Furcht zu säen ist ein Fehlverhalten. Nenne deinen Namen.«
Das Schweigen, das ihrem Befehl folgte, war erstaunlich. Niemand antwortete. Mir lief eine Gänsehaut über den Arm, und ich fühlte mich einen Augenblick mutig.
»Wir könnten die Wachen um Wasser bitten, welche die Tür bewachen«, schlug ich vor. »Sie ist nicht verschlossen. Jemand könnte sie einen Spalt öffnen.«
Niemand würde so eine Kühnheit wagen.
»Wir werden warten«, verkündete Großmutter. Ihre heisere Stimme schien ein Teil der Finsternis zu sein. »Es ist eine Prüfung unserer Reinheit, unseres Gehorsams. Wir warten.«
»Also ist das schon einmal vorgekommen«, erklärte eine scharfe, klare Stimme. Misutvia.
Es folgte eine Pause. Dann antwortete Großmutter: »Nein.«
»Dann haben wir keinen Grund anzunehmen, dass es sich um eine Prüfung handeln könnte«, sagte Misutvia. »Wir sind nie zuvor geprüft worden. Und ich habe auch noch nie von so etwas gehört.«
»Du gibst zu, dass du müßigem Tratsch frönst. Klatsch ist ein Fehlverhalten. Ich beanspruche die Pflicht …«
»Ich gebe nichts dergleichen zu«, unterbrach Misutvia. Ihr Ärger war ebenso erstaunlich wie das Schweigen, das zuvor auf Großmutters Befehl an die Sprecherin, sich zu erklären, geantwortet hatte. »Diejenige, die den Klatsch weitergibt, begeht ein Fehlverhalten, nicht diejenige, die ihn hört.«
Großmutter schwieg, während sie nach einer angemessenen Erwiderung suchte.
»Gäbe es keine neugierigen Ohren, gäbe es auch keinen Klatsch, sondern nur Gemurmel in der Luft«, erklärte sie schließlich. »Also war es dein Fehlverhalten.«
»Wenn man dein Argument weiter spinnt, hast du ebenfalls ein Fehlverhalten begangen, Großmutter«, konterte Misutvia. »Denn wenn die Ohren, die den Klatsch einer anderen hören, sich eines Fehlverhaltens schuldig machen, dann auch die Augen, die ein solches Fehlverhalten beobachten. Und du, Großmutter, als unsere unangefochtene und anerkannte Älteste, hast kein Wort gesagt, um unser Fehlverhalten von vorhin, als wir unsere Blasen in die Farbtöpfe leerten, zu unterbinden. Also erkläre ich dich hiermit verantwortlich für das Fehlverhalten von uns allen und werde die Pflicht auf mich nehmen, dieses ungeheuerliche Fehlverhalten zu melden.«
Tiefstes Schweigen folgte ihren Worten, als wir anderen allmählich begriffen, welch ein Schlangennest Misutvia da gerade aufgescheucht hatte.
Wer war verantwortlich für ein Fehlverhalten – der Zeuge, der es hätte verhindern können, oder der, der es beging? Beide? Aber bis zu welchem Maß? Wenn die Schuldige nun gar nicht wusste, dass sie gegen irgendein Gesetz verstieß, der Zeuge dagegen sehr wohl?
Mein zäher Verstand rang mit diesen Fragen. Gereizt sprach ich, ohne nachzudenken, und leckte mir über die spröden Lippen, nach Wasser gierend.
»Es spielt keine Rolle, wer das Fehlverhalten begeht und wer es bezeugt, wenn niemand da ist, dem es gemeldet werden kann.«
Ich zog die Schultern hoch, überrascht von meinem Mut, wartete auf eine körperlose Stimme aus dem Dunkel, die meine Äußerung als furchteinflößend bewertete und daher zu einem Fehlverhalten erklärte. Aus der Richtung, in der Großmutter saß wie ein geisterhaftes Gespenst, hörte ich ein tiefes Einatmen, als sie Luft und Kraft für genau solch eine Erklärung sammelte.
Doch Misutvia sprach, bevor Großmutter auch nur ein Wort sagen konnte.
»Wir kehren alle in unsere Nischen zurück und schlafen. Es ist sinnlos, hier länger herumzusitzen.« Misutvia klang entschlossen. »Wenn morgen früh ebenfalls niemand erscheint, werden wir Najis Vorschlag folgen. Wir werden die beiden Wachen vor der Tür um Wasser bitten.«
»Wir brauchen es«, krächzte ich heiser. Der Durst trieb die anderen Frauen dazu, fieberhaft murmelnd zuzustimmen. Wegen des Gifts in unseren Adern war Durst ein ständiger, unerwünschter Begleiter. Uns alle verlangte nach Wasser, unablässig. Dass wir heute ohne Wasser hatten auskommen müssen, hatte uns allen Kopfschmerzen bereitet und machte uns rastlos und gereizt. »Wir werden nicht lange ohne Wasser überleben.«
»Nein«, stimmte Misutvia mir zu. »Das werden wir nicht.«
Wegen dieser unerklärlichen und unerwarteten Änderung in unserem Tagesablauf kam mir die dichte, grabähnliche Schwärze der Nacht plötzlich noch undurchdringlicher, noch kälter vor, voll lauernder Bedrohung. Ich schleppte mich zu Misutvias Nische und kroch zu ihr.
Ihr knochiger Körper und ihre eisige Haut boten nur wenig Trost, aber ich suchte jetzt auch keinen physischen Beistand, sondern ich suchte Trost im Geiste.
»Die anderen Frauen aus der Viagand«, flüsterte ich ihr ins Ohr, »die kürzlich in den Drachenställen und den Erholungsnischen waren … Ich frage mich, ob sie auch so geprüft wurden.«
»Sei nicht so sensationsgierig!«, fuhr Misutvia mich an.
Ich erschauderte und schwieg. Allein an ihrer Gereiztheit merkte ich, dass auch sie von dieser plötzlichen Veränderung der Dinge beunruhigt war.
Wir fanden beide nur schwer Schlaf, und als ich schließlich eindämmerte, träumte ich unablässig von dem Geist, der sich in meinem Inneren zu befreien suchte.
Kurz vor Morgengrauen konnte ich weder die Vision noch die sie begleitenden Gefühle länger ertragen. Ich kroch aus Misutvias Nische und kehrte in meine zurück. In dem schwachen Licht kam ich an den grauen Schatten anderer vorbei, die ebenfalls in ihre Grotten zurückkehrten. Wir sahen uns nicht an, gemäß unserer stillschweigenden Vereinbarung, dass wir immer so taten, als würden wir uns nie sehen. Kurz darauf krochen wir aus unseren Nischen.
Mein Durst war überwältigend. Ich konnte kaum schlucken. Meine Augen waren vollkommen verklebt. Wir warteten, schwankend, auf die Erste, die ein Fehlverhalten einer anderen melden, auf die Erste, die das Fehlverhalten des unruhigen Schlafes melden wollte.
Ich hatte zu wenig Speichel, um ihn für Worte zu verschwenden. Ich würde warten, bis jemand mich eines Fehlverhaltens beschuldigte.
Wir blieben jedoch alle stumm, vom Durst zum Schweigen gebracht. Großmutter stand da wie betäubt, schien uns nicht zu bemerken, ebenso wenig unsere Lage. Erschöpft brach ich den Bann, indem ich zu den Kissen schlich. Die anderen folgten mir schlurfend.
Lange Augenblicke verstrichen, während das Sonnenlicht zögernd durch die schmalen Öffnungen in den Steinwänden drang, gedämpft von den Schlingpflanzen über den Fensterschlitzen, den dicken Baumstämmen, den Vorhängen aus Moos und den Baldachinen aus Blättern. Es regnete nicht mehr, aber Tau tropfte unablässig von allen Blättern.
Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich raffte mich auf, ging zu den kühlen, von Tautropfen bedeckten Wänden und leckte. Die staubigen Tautropfen verschwanden sofort auf meiner geschwollenen Zunge. Wie eine Echse leckte ich weiter die Wände ab. Es dauerte nicht lange, bis die anderen meinem Beispiel folgten.
Als unser Durst durch die Feuchtigkeit in unseren Mündern nicht gestillt, sondern eher maskiert war, kehrten wir zu den Kissen und Diwanen zurück. Großmutter hatte sich nicht erlaubt, die Wände abzulecken, das war mir aufgefallen. Sie saß stocksteif da und starrte ins Nichts; ihre Augen waren etwas größer als gewöhnlich, ihre Lippen leicht geöffnet, und ihre Zahnlücke war deutlich zu sehen.
Wir warteten, und mit jedem Herzschlag wuchsen unsere Anspannung und unser Durst. Schließlich ergriff eine der neuen Frauen das Wort. Sie wandte sich an Misutvia.
»Wer wird es denn tun? Um Wasser bitten?«
Wir blickten alle zur Tür. Auf der anderen Seite standen zwei Wächter, stämmige Kriminelle, die uns an festgelegten Tagen vergewaltigen durften, als Entschädigung für ihre Dienste an Festung, Tempel und Drachen.
»Naji wird es tun«, erwiderte Misutvia.
»Warum ich?«, rief ich.
»Jemand muss es tun, sonst werden wir ohnmächtig vor Durst.«
»Ich bin in die Vorbereitungszelle gegangen. Mach du es.«
Sie schüttelte den Kopf. Eine der neuen Frauen wimmerte.
»Und wenn die Wachen mit Vergewaltigung antworten?«, erkundigte sich Großmutter. Ihre Stimme klang rau aus ihrer ausgetrockneten Kehle, wie Sand, der über eine Schilfmatte reibt. »Oder uns einfach nur befehlen, wieder hineinzugehen und still zu sein? Was gewinnt Naji dann mit ihrer Kühnheit? Nichts als Schande und Strafe. Nein, wir bleiben hier. Wir warten. Es ist unsere Pflicht.«
Sutkabde, die neben Großmutter saß, regte sich nicht, nickte weder noch schüttelte sie den Kopf. Sie starrte Großmutter einfach nur an. Eine der neuen Frauen begann zu weinen.
Misutvia sah mich an. »Ich würde lieber wissen, dass ich sterbe, und leiden, wenn ich dieses Wissen sammle, als den Tod langsam herankriechen zu fühlen.«
»Ist es nicht genau das, was hier geschieht?«, keuchte die weinende Frau. »Ein schleichender Tod.«
»Es ist unsere Pflicht hier«, krächzte Großmutter, »dem Tempel zu dienen. Wir können in unserer Unwissenheit nicht die großen Pläne heiliger Geister begreifen, heiliger Sitten. Wir werden hier sitzen und auf die Rückkehr der Eunuchen warten.«
»Wir sind Gefangene, keine Akolythen«, knurrte Misutvia. »Ich habe keine Pflicht dem Tempel gegenüber. Ich diene ihm nicht freiwillig. Ich bin versklavt.«
»Du hast bei den Drachen gelegen«, stieß Großmutter atemlos hervor. »Also bist du des Göttlichen teilhaftig geworden. Du bist gebenedeit, weil dir eine solch heilige Berührung gestattet wurde!«
»Ich bin eine Gefangene!«, blaffte Misutvia.
»Du streitest ab, dass du Göttlichkeit erfahren hast?«, wollte Großmutter wissen.
»Selbstverständlich streite ich das ab. Wir alle erleiden nur Halluzinationen, die das Gift in uns auslöst. Es ist nichts Göttliches daran, sich zur Hure eines Drachen zu machen.«
»Eine Halluzination schließt das Göttliche nicht aus, sondern ist nur die Form, in welcher das Göttliche zu uns spricht«, keuchte Großmutter. »Als Empfängerinnen dieser Botschaft, als auserwählte Dienerinnen der Drachen, ist es unsere Pflicht, uns zu unterwerfen und zu gehorchen.«
»Uns vergewaltigen zu lassen? Demütigen zu lassen? Zu verrecken?«
»Wir verdienen uns mit unserem Leid die Belohnung, bei den Drachen zu liegen. Das Blut, das wir vergießen, reinigt uns von der Anmaßung.«
»Du musst verrückt sein, wenn du das glaubst.«
»Würde ich es nicht glauben, Misutvia, wie könnte ich mich dann täglich dem unterwerfen, was man mir zumutet?« Großmutter hatte das Kinn erhoben, ihre starren blutunterlaufenen Augen funkelten. »Wer ist verrückt, du, die du dich aus keinem Grund unterwirfst, oder ich, die ich mich unterwerfe, weil ich glaube?«
Misutvia starrte sie an, als ihr nichts mehr einfiel, und ich sah plötzlich ganz deutlich, was aus mir geworden war.
»Großmutter hat völlig recht«, sagte ich bedächtig. »Wenn wir nicht hier bleiben wollen, warum tun wir es dann? Diese Tür …«, ich deutete mit meinem knochigen, blassen Finger auf die Tür, »ist nicht verschlossen. Sie wird von unbewaffneten Männern bewacht. Wir sind zu siebt, sie zu zweit. Was hat uns daran gehindert, sie zu überwältigen, in der Nacht, wenn ihr Schnarchen die Tür erzittern lässt?«
»Womit?«, fragte eine der neuen Frauen. »Sieh doch nur, wie schwach wir sind.«
»Wir können die da benutzen.« Misutvia deutete auf die Staffeleien. »Wir zerbrechen sie und benutzen ihr Holz als Prügel und Stöcke.«
Ich runzelte die Stirn. »Die Wachen würden hören, wie wir die Staffeleien zerbrechen. Sie würden hereinkommen und uns daran hindern, bevor wir uns bewaffnet hätten.«
»Wir wickeln die Staffeleien vorher in Teppiche und legen Kissen vor die Tür, um die Geräusche zu ersticken.« Misutvias Wangen glühten.
Ich leckte mir die Lippen. »Und wie zerbrechen wir sie?«
»Mit unseren Füßen. Die Staffeleien sind alt und morsch. Ich habe nachgesehen.«
»Du hast schon vorher an so etwas gedacht«, sagte ich. Misutvia nickte langsam. »Aber warum …?«
Ich unterbrach mich, kaum dass ich die Frage begonnen hatte. Ich wusste, warum sie es vorher nicht vorgeschlagen hatte: Eine Revolte bedurfte eines kollektiven Bemühens, erforderte Zusammenarbeit und Einverständnis. Bis jetzt waren wir in unserer Unterwürfigkeit viel zu eingefahren gewesen, zu konzentriert darauf, gegenseitig unser Fehlverhalten melden zu wollen. Das plötzliche Wegbleiben der Eunuchen hatte uns geeint. Die alte Ordnung war zerbrochen.
Der andere Grund, aus dem Misutvia niemals eine Revolte vorgeschlagen hatte, war der, dass eine Flucht auch bedeutete, sich von der göttlichen Berührung der Drachen abzuwenden. Selbst wenn sie die Göttlichkeit des Ritus verhöhnte, war auch sie gegen die Sucht nach dem Rausch und der Lust, die das Gift bereitete, nicht immun. Wo sonst hätten Frauen jemals die Gelegenheit gehabt, sich der Zunge eines Drachen hinzugeben?
Großmutter spiegelte meine Gedanken, als sie laut sagte: »Sobald ihr diese Festung verlasst, verlasst ihr auch die Gnade der Drachen. Nie wieder werdet ihr in diese erhabene Welt des Lichts erhoben, die hinter unseren erbärmlichen Schicksalen liegt. Nie wieder werdet ihr dieses himmlischen Ruhms teilhaftig werden, mit der Gnade verschmelzen. Ihr werdet die Ekstase gegen Hunger im Dschungel eintauschen, die himmlische Vereinigung gegen die Furcht, dass die Zähne von Raubtieren euer Herz und euer Hirn zerfetzen.«
»Nein«, widersprach ich. Mein Herz hämmerte heftig, als hätte ich gerade erst einen Gifttrank zu mir genommen. »Einige Onai tun dies ebenfalls. Sie haben die altersschwachen Bullen in diesem Ritus ausgebildet, die sich in ihrer Obhut befinden. Wir könnten uns irgendwo einem Konvent anschließen. Dort hätten wir ebenfalls Zugang zu Drachen.«
Misutvia und die drei neuen Frauen starrten mich an.
Großmutter schüttelte den Kopf. »Es ist dir verboten, von deinem früheren Leben zu sprechen, Naji. Indem du es tust, lenkst du die Frommen von ihren Pflichten ab und verführst sie mit deiner Rede.«
Ich schluckte, als der Trotz gischtenden Aufruhr in meinen Eingeweiden aufsteigen ließ. »Mein Name ist nicht Naji. Mein Name ist Zarq.«
Schweigen folgte diesem Bekenntnis, ein Schweigen, das so gewaltig war wie ein Segel, das von einer plötzlichen Bö aufgebläht wurde.
»Zarq«, sagte Misutvia schließlich bedächtig. »Nach Zarq Car Mano. Eine Frau also, die nach einem Rebellen benannt wurde.«
Ich hob mein Kinn. »Ja.«
»Wie außergewöhnlich.«
»Böse«, stieß Großmutter hervor. »Hört nicht auf die verführerische Zunge des Bösen.«
»Du hast nicht vor, die Wachen um Wasser und Anweisungen zu bitten«, hauchte Sutkabde. »Du planst Mord und Flucht.«
Misutvia und ich weigerten uns, sie anzusehen.
»Wollen wir uns jetzt Prügel und Stöcke machen?«, erkundigte ich mich dann.
»Ja.« Misutvia lächelte. Es war das erste Mal, dass ich sie hinter diesen Mauern lächeln sah. Und das letzte Mal. »Bewaffnen wir uns.«