16

Wir zertrümmerten nicht nur die Staffeleien, sondern ich brachte den drei neuen Frauen auch bei, wie man jemandem die Nase brach, indem man ihm seine Handwurzel gegen den Sattel der Nase hämmerte. Diese Fähigkeit hatte ich als Neunjährige erlernt, als ich mit der Karawane eines Händlers gereist war. Sie waren die Kräftigsten von uns, die drei neuen Frauen, und besaßen die meiste Energie. Also war es am wahrscheinlichsten, dass sie sich den Wächtern widersetzen und überleben konnten. Sie hörten genau zu, und ihre Augen glänzten.

»Wenn ihr nah genug am Mann seid, dann setzt eure Stirn ein, so etwa«, ich packte Misutvias Schläfen und demonstrierte, natürlich ohne sie zu berühren, wie man Knorpel und Knochen zerschmettern konnte, indem man die Stirn gegen eine Nase rammte. »Und denkt an ihre Hoden: Ein Mann verliert sofort seine Kraft, wenn man einen Schlag in diese Gegend landet. Aber bewegt euch schnell und entschlossen, ja?«

Ich schwankte und lehnte mich haltsuchend an eine Wand; das lange Reden strengte mich an, und mir schwindelte durch den Wassermangel und meine ohnehin angegriffene Gesundheit. Wir alle ruhten eine Weile, hocherregt, und doch regungslos, während unsere Blicke immer wieder zur Tür zuckten, auf deren anderer Seite die Wachen standen. Schließlich ergriff Misutvia das Wort.

»Wir wissen, was zu tun ist. Also handeln wir.«

»Jetzt«, flüsterte ich, während mein Herz wie verrückt hämmerte und meine Finger so aufgeladen waren, als wäre ein Blitz hineingefahren.

»Jetzt«, keuchten die drei neuen Frauen wie aus einem Munde.

»Kwano Eine Schlange, Erster Vater, Urahn und Geist aller Kwano überall, ich flehe dich an, weiche von uns!«, intonierte Großmutter, deren blutunterlaufene Augen sich auf mich richteten. Sie stammelte das Gyin-Gyin, das ich das letzte Mal in den Stallungen des Drachenmeisters von Brut Re gehört hatte, als Ringus fieberhaft diese Anrufung zum Schutz gegen den Geist meiner Mutter intonierte. »Ich rufe die Mächte des Ranon ki Cinai an, gelenkt von dem Erhabenen Imperator Mak Fa-sren …«

Sutkabde schlang ihre Arme um sich und begann sich zu wiegen, fast wie ein Kind, das den Mord an seinem Vater mit ansehen musste.

Wir hielten unsere improvisierten Speere mit den gezackten Enden voran und näherten uns der Tür. Misutvia legte eine Hand auf den hölzernen Griff.

»Wir wissen, was zu tun ist. Tut es schnell, zaudert nicht«, hauchte sie kaum hörbar.

»Wir können es schaffen«, meinte ich, und alle nickten.

»Auf acht öffne ich die Tür.« Sie zählte, und einen Moment lang schien der Raum zu schwanken.

Ich schmeckte Tod, und der Geist meiner Mutter lag wie eine eiskalte Auster in meinem Mund, hinten auf meiner Zunge, am Rachen, versuchte, sich den Weg in die Freiheit zu bahnen.

»Acht.« Misutvia riss die Tür auf, und wir stürmten hinaus, wie Gespenster und mörderisch.

Unser Angriff verpuffte sehr rasch.

Wir wirbelten verwirrt nach rechts, nach links, hierhin und dorthin, so darauf erpicht, zu stechen und zu hauen, dass wir fast bei jeder schwindelnden Drehung übereinander gestolpert wären. Dann blieben wir stehen, schweratmend, und sahen uns verblüfft um. Eine Gänsehaut lief mir über den ganzen Körper.

»Es ist keiner da«, stieß ich hervor.

Der dämmrige Flur war nicht beleuchtet, abgesehen von dem grünlichen Licht, das durch ein schmales, von Efeu überwuchertes Fenster am Ende des Korridors hereindrang.

»Es ist keiner da«, wiederholte ich. Die Realität durchdrang uns auf von Hoffnung befiederten Flügeln. Wir stürmten im Pulk zum Ende des Gangs.

Als Misutvia und ich das Ende als Erste erreichten, stolperten wir und keuchten und konnten uns kaum noch auf den Beinen halten.

Dann blieben wir stehen und sahen ungläubig hin.

Wo der Flur nach rechts abgebogen war, in einen anderen Korridor, und das noch vor wenigen Tagen, befand sich jetzt eine Steinmauer. Eine der neuen Frauen streckte ihre zitternde Hand aus und berührte sie, überzeugte sich davon, dass sie echt war.

»Wir sind eingeschlossen worden«, flüsterte sie. Blankes Entsetzen überkam uns, und meine Kopfhaut prickelte. »Es gibt keinen Weg nach draußen.«

 

Wir kehrten in unsere Gewölbekammer zurück und schlossen die Tür. Es fühlte sich irgendwie sicherer an, wenn diese Tür geschlossen war.

Misutvia ging direkt zu Großmutter, die regungslos dasaß und immer noch das Gyin-Gyin murmelte.

»Halt den Mund, alte Frau!«, fuhr sie sie an. »Kein Mord ist geschehen. Wir wurden eingemauert!«

Großmutter hielt den Atem an. Dann holte sie tief Luft, so dass ihr Brustkorb anschwoll, und stieß keuchend hervor: »Der Eine Drache hat unsere bösen Pläne vereitelt. Jetzt werden wir erwarten, was uns als Nächstes ereilen wird.«

Sutkadbe starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf den Boden.

Dämmriges Licht kroch durch die Fensterschlitze in der Gewölbekammer, und die Luft kühlte ab, wurde feucht, kündigte Regen an. Ein Windstoß klatschte die breiten Hosta-Blätter aneinander, was klang, als würde man filetiertes Fleisch auf einen Schlachttisch klatschen. Ich brach auf einem Diwan zusammen, während mein Herz und meine Gedanken rasten.

Jetzt erinnerte ich mich auch daran, welches Unbehagen der fette Eunuch bei seinem letzten Besuch ausgestrahlt hatte, wie kalt, schlecht und lieblos zubereitet das Abendessen gewesen war. Seine Schienbeine waren zerkratzt gewesen, als wäre er kürzlich erst gefallen … oder als hätte er über eine schon teilweise fertige Mauer klettern müssen, um uns zu erreichen. Der Wasserjunge hatte wiederholt über seine Schulter zur Tür geschaut, die ganze Zeit, während er uns die Kelle mit dem Wasser hingehalten hatte.

Natürlich. Er hatte Angst gehabt, dass er mit uns eingemauert wurde.

Warum waren uns Frauen diese subtilen und doch so bedeutungsvollen Veränderungen nicht aufgefallen? Vor allem jene nicht, die deutlichste: Der trippelnde Eunuch hatte uns an jenem Abend nicht zu den Latrinen geführt, sondern stattdessen zwei Nachttöpfe hervorgeholt und uns angewiesen, sie zu benutzen. Warum hatten wir seine gestammelte Erklärung nicht hinterfragt, dass die Latrinen repariert würden und nicht vor dem morgigen Tag benutzt werden konnten?

Passivität konnte erstickend sein und genauso tödlich wie das Gift einer Natter.

Die Eunuchen hatten vor wenigstens drei Tagen gewusst, welches Schicksal uns erwartete. Sie hatten uns eine lieblose, letzte Mahlzeit gebracht, noch während die Wächter eine Steinmauer hochzogen, um uns einzumauern. Hatte Großmutter erraten, dass etwas nicht stimmte? Oder hatte sie in ihrem unerschütterlichen Glauben angenommen, dass die Latrinen tatsächlich repariert würden? Und wir anderen, wie hatten wir den Lärm am Ende des Korridors überhören können, die Aktivität auf der anderen Seite der Tür?

All das spielte jetzt keine Rolle mehr.

Draußen fegte ein Regenschauer gegen Farnwedel und Blätter. Mir schnürte sich bei diesem Überfluss an Wasser die Kehle zu, und meine geschwollene Zunge klebte an meinem Gaumen wie ein Stück Kreide.

»Wir brauchen Wasser«, krächzte ich. Mein Blick fiel auf die Farbtöpfe, die randvoll mit Urin waren. »Misutvia. Wenn wir drei Diwane zu dieser Wand dort schieben und sie aufeinanderstapeln, könnten wir da nicht bis zu dem Fensterschlitz hochklettern und das Regenwasser in diesen Töpfen auffangen?«

»Und es dann trinken?«, schrie eine der neuen Frauen. »Wir haben diese Gefäße beschmutzt, wir können unmöglich daraus trinken! Und ganz gewiss können wir kein Wasser zu uns nehmen, das nicht vorher vom Tempel geläutert wurde!«

»Regenwasser ist sauber genug«, erwiderte ich brüsk. »Rishi trinken es ständig, auch ohne dass sich der Tempel einmischt.«

»Ich bin keine Rishi!«, entgegnete die Frau aufgebracht.

»Nein, du bist eine Gefangene. Das ist allerdings ein Unterschied.«

Sie deutete mit einem Finger auf mich. »Du bist eine Leibeigene, stimmt’s? Eine schmutzige, zweitklassige Hündin!«

»Ich bin nicht anders als du.«

»Du bist nicht den Speichel in meinem Mund wert.«

»Bei dem wenigen Speichel, den du im Moment im Mund hast, dürftest du wohl recht haben«, erwiderte ich und richtete mich auf. »Ich bin weit mehr wert!«

»Wie kannst du es wagen!«

»Uns zu streiten bringt uns nicht weiter!«, fuhr Misutvia dazwischen. »Zarq hat recht. Wir müssen das Regenwasser auffangen. Wer dabei hilft, darf trinken, ungeachtet ihres Status außerhalb dieser Mauern! Verstanden?«

Niemand antwortete. Nach einem Moment befahl Misutvia zwei der neuen Frauen, einen Diwan unter den Fensterschacht zu schieben.

Doch mein Plan funktionierte nicht. Der Fensterschacht war zu schmal, als dass ein Krug hindurchgepasst hätte. Stattdessen zogen wir einen Vorhang von einer Wand, schüttelten den Staub heraus, rollten ihn zu einem Tau zusammen, schoben ihn hindurch und warteten, bis er sich vollgesogen hatte. Als er schließlich schwer von Wasser war, zogen wir ihn zurück und wrangen das Wasser aus. Es war eine mühsame Arbeit, die nur wenig Trinkwasser einbrachte. Sutkadbe saugte das Tuch aus, nachdem wir es ausgewrungen hatten, weigerte sich jedoch zu helfen und bekam folglich auch nichts zu trinken. Großmutter saß derweil da und hatte uns resolut den Rücken zugekehrt.

Es wurde Abend.

Erschöpft und kurz davor, erneut in die Passivität der Verzweiflung zu verfallen, ließen wir von unseren Bemühungen ab. Draußen fegten Windstöße gegen den Blätterwald. Jede von uns hatte weniger als zwei Löffel Wasser getrunken, und dennoch fiel das Wasser in berauschendem Überfluss vom Himmel, nur außerhalb unserer Reichweite. Ich schlurfte zu meiner Nische, rollte mich zusammen und stopfte mir die Finger in die Ohren, um das höhnische Prasseln auszuschließen.

Im selben Augenblick wurde ich mir des Geistes bewusst, der in seinem Kokon in meinem Bauch eingesperrt war.

Die Membrane, die ihn einschlossen, waren so dünn wie die Haut eines Neugeborenen. Ich hatte schon viele Tage ohne Gift auskommen müssen, und der Geist in mir war immer stärker geworden. Wäre alles normal verlaufen in der Viagand, hätte der Eunuch an diesem Tag Misutvia, Großmutter, Sutkabde, die neuen Frauen und mich zu den Stallungen geführt. Als der Geist die Veränderung aufgrund des unerwarteten Mangels an Giftnachschub spürte, tobte er umso heftiger in meiner Psyche.

Er würde mich bald besiegen und mich dann in meiner eigenen Haut einkerkern. Dann wäre ich zwiefach gefangen: von Stein und von der Boshaftigkeit eines gestörten Geistes.

Ich kroch aus meiner Nische, weil ich zu viel Angst hatte, um allein sein zu können.

Misutvia war noch nicht in ihre Nische zurückgekrochen. Sie lehnte an der Wand unter dem Fensterschacht, neben den aufgestapelten Diwanen, einen Teppich über die Schultern geschlungen. Ohne ein Wort sackte ich neben ihr zusammen.

»Es ergibt keinen Sinn«, sagte Misutvia, deren Worte mich aus meiner Betäubung rissen. »Warum sollten sie uns einmauern, wenn sie unseren Tod wollen? Warum enthaupten sie uns nicht einfach oder überlassen uns der Willkür der Wächter?«

Ich zuckte mit den Schultern. Zum Denken war ich zu erschöpft. Ich schloss die Augen, sah jedoch nur Stein. Steinmauern über mir, neben mir, um mich herum, die mich von Wasser, von Licht und vom Leben fernhielten …

Ich riss die Augen auf.

»Sie verbergen uns!«, sagte ich und richtete mich auf, als ich die Wahrheit meiner Worte begriff. »Sie haben dasselbe mit den Stallungen der Brutdrachen getan. Sie haben die Drachen ebenfalls eingemauert.«

»Was meinst du damit, ›sie verbergen uns‹?«, fragte Misutvia verbittert. »Vor wem denn? Niemand kennt diesen Ort; die ganze Feste liegt im Dschungel versteckt.«

»Jemand ist hier. Jemand, der nicht hier sein sollte. Jemand, den man nicht ermorden kann, um sein Schweigen zu gewährleisten. Sie haben uns eingemauert, um uns zu verstecken und um den Zweck dieses Ortes zu verheimlichen.«

»Als wenn nicht allein die Abgeschiedenheit und Anlage dieses Ortes seinen wahren Zweck verraten würde.«

Ihr verächtlicher Ton veranlasste mich, meine Schlussfolgerung zu verteidigen. »Nicht notwendigerweise, nein. Drachenjünger und Tempelbonzen verschanzen sich immer hinter Mauern …«

»Aber nicht im Herzen des Dschungels. Heilige Hüter lieben ihre Bequemlichkeiten, Zarq. Ein solch nüchterner Ort wie dieser hier würde kaum jemandem in den Sinn kommen, außer vielleicht den glühendsten Eiferern …« Sie unterbrach sich unvermittelt, und ich fühlte, wie ihr Puls sich beschleunigte, als liefe ein Blitz über ihre Haut.

»Ein Mobasanin«, stieß sie keuchend hervor. »Sie haben uns eingemauert, damit dieser Ort hier wie ein Mobasanin aussieht.«

»Ein was?«

»Eine Zufluchtsstätte für fanatische Drachenjünger, die Läuterung durch Abgeschlossenheit suchen. Es sollen recht nüchterne Orte sein, die immer im dichtesten Dschungel liegen.«

»Dann ist es genau das«, erwiderte ich. »Das haben sie gemacht. Aber wer hat den Ort aufgespürt, wenn sie seinen wahren Zweck verstecken müssen?«

Wir schwiegen, während wir angestrengt nachdachten.

»Mein Bruder«, stieß Misutvia schließlich bebend hervor. »Malaban ist gekommen, um mich zu holen!«

Sie drehte sich um und umklammerte mit ihrer knochigen Hand mein Handgelenk.

»Ich habe es dir doch gesagt, Zarq. Er hat mich gefunden!«

Ihre Aufregung wirkte ansteckend, aber ich hatte Angst, es für möglich zu halten, fürchtete mich vor enttäuschter Hoffnung.

»Wie?«, fragte ich sie.

»Ich habe es dir doch gesagt! Er hat gute Beziehungen, besitzt Ländereien und Manufakturen, eine eigene Flotte! Hast du wirklich noch nie etwas von Caranku Bri von Lireh gehört? Unser Clan ist mächtig, unsere Familie hat sehr großen Einfluss. Malaban ist da, ich bin ganz sicher!«

Ich ließ zu, dass ihr überzeugter Ton auch in mir Glauben weckte. »Dann müssen wir ihn rufen. Lärm machen, Vorhänge aus den Fensterschlitzen hängen. Die Drachenjünger werden deinen Bruder unter irgendeinem Vorwand in ihren Wohnquartieren gehalten haben, während die Wachen uns eingemauert haben.«

»Er hat vielleicht die Festung schon durchsucht«, meinte Misutvia. Ihre Nervosität strahlte fast sichtbar wie eine schillernde Farbe aus all ihren Poren. »Er ist vielleicht schon überzeugt, dass dies hier ein Mobasanin ist. Rasch, wir müssen Lärm machen und ihn rufen!«

Diesmal hielt ich sie fest. »Er wird uns nicht hören, nicht bei diesem Sturm da draußen. Spar dir deine Energie für morgen früh auf.«

»Soll ich das Risiko eingehen, dass er ohne mich diesen Ort wieder verlässt?«

»Unsinn. Denk nach. Wie ist er angekommen?«

Sie schüttelte sich und riss sich mit sichtlicher Mühe zusammen. »Die einzige Möglichkeit, hierher zu gelangen, ist mit Drachen.«

»Du hast gesagt, er besäße eigene, geflügelte Drachen, richtig?« Ich erinnerte mich an ihre Worte aus unserem Gespräch in der Grotte der Ärzte. Diese Tatsache konnte man nur schwer vergessen.

»Fünf Escoas, ja.«

Ich nickte langsam, während die Hoffnung so fahl wie das Licht des Vollmondes in mir leuchtete.

»Wenn er noch hier ist, wird er nicht vor Tagesanbruch losfliegen.« Ich dachte laut, während mein Herzschlag sich beschleunigte. »Warum sollte er in der Nacht fliegen, mitten in einem Monsun, wenn es nicht notwendig ist.«

»Oh, Zarq, wir können das hier überleben; wir werden es überleben.«

In dem Moment wurde mir klar, dass keine von uns wirklich geglaubt hatte, dass uns die Flucht aus dieser Festung oder das Überleben im Dschungel gelingen würden. Wir waren bereit gewesen, allein für den Versuch den Tod in Kauf zu nehmen, aber wir hatten trotzdem nicht wirklich an unseren Erfolg geglaubt.

Bis jetzt.

»Also warten wir«, meinte Misutvia schließlich und verschränkte vor Aufregung ihre Finger. »Sobald der Sturm abflaut, klettern wir auf die Diwane und schreien aus diesem Fensterschlitz heraus.«

»Wir rufen seinen Namen«, meinte ich. »Sehr wahrscheinlich wird er ihn hören. Man hört seinen eigenen Namen, ganz gleich, wie leise er gerufen wird.«

Sie betrachtete mich und legte den Kopf auf die Seite. »Du bist sehr klug, für eine Rishi.«

Falls sie das böse gemeint hatte, war in ihrer Stimme nichts davon zu erkennen. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, das Zentrum des Wesens einer Frau, und hielt mir die andere Hand hin. Ich nahm sie und legte sie auf meinen Bauch, als wären wir zwei Fremde, die sich zum ersten Mal begegnen und sich gegenseitig ihres Vertrauens versichern. »Ich bin Caranku Bri von Lirehs Yenvia«, sagte sie. »Mein Bruder und meine Freunde kennen mich als Jotan Bri. Bitte nenn mich so.«

»Jotan? Du bist eine Lehrerin?«

»Ich habe an der Ondali Wapar Liru gelehrt. Ich wurde verhaftet, nachdem ich eine Demonstration gegen die Verhaftung und das anschließende Verschwinden einer Kollegin organisiert hatte.«

»Ich weiß nicht, was diese Ondali Wapar Liru ist.«

»Du hast noch nie von der Wapar gehört?«, fragte sie ungläubig. Dann fiel es ihr wieder ein. »Oh, verzeih mir. Du bist eine Rishi.«

Sie gab mir einen Moment, um mich von der Schande meiner Unwissenheit zu erholen.

»Ondali Wapar Liru ist der geistige Quell der Hauptstadt unserer Nation«, murmelte sie. »Es ist ein Ort größter Gelehrsamkeit. Wissenschaft, Künste, fremde Religionen und große Philosophien, all dies wird dort gelehrt.«

»Wen?« Diesmal war ich es, die ungläubig fragte.

»Jeden, der dafür zahlt.«

»Dann habe ich natürlich noch nichts davon gehört. Das ist kein Ort für eine Rishi.«

»Das würde ich nicht sagen«, meinte sie verteidigend. »Gewisse Gönner unterstützen die Armen, die ein aufrichtiges Bedürfnis nach Gelehrsamkeit besitzen.«

»Reisen diese Gönner zu den Brutstätten und sammeln interessierte Rishi aus den Kus, in denen sie arbeiten?«

»Nein«, gab sie schließlich zu. »Aber wenn ein Rishi wirklich das Bedürfnis und das Interesse hat, an der Wapar zu lernen, findet er oder sie sicher einen Weg, einen Gönner zu erreichen.«

»Wenn eine Gefangene das Bedürfnis und das Interesse hat, ihrem Gefängnis zu entfliehen, findet sie sicher einen Fluchtweg«, erwiderte ich leise.

Sie holte tief Luft.

»Armut und die Lebensumstände können so unentrinnbar sein wie ein Gefängnis aus Stein, Jotan Bri«, fuhr ich fort. Ich berührte ihr Knie, um meinen Worten die Schärfe zu nehmen. »Doch bitte, erzähl mir mehr von diesem Ort, diesem Quell des Wissens. Können Frauen ihn besuchen?«

Sie bewegte sich und zog ihren Teppich um ihre Schultern, als er hinabzurutschen drohte.

»Es werden mehr. Es hat einen harten Kampf um die Frage gegeben, ob Frauen lernen dürfen, geschweige denn lehren. Die Frauen einflussreicher Händler wie auch die der hohen Militärs des Imperators, die in Liru stationiert sind, haben viel Einfluss, wenn sie gemeinsam handeln. Zusammen haben wir in diesem Punkt einen Sieg gegen den Tempel errungen: Wir dürfen die Wapar besuchen. Und seit kurzer Zeit auch lehren.«

»Aber weibliche Lehrende werden unter der Anklage, sie hätten Laster mit anderen Frauen begangen, verhaftet«, erwiderte ich. »Viele Namen in der Vorbereitungszelle führen das als Grund für ihre Einkerkerung an.«

»Ich habe genau gegen so etwas protestiert, als ich festgenommen wurde.«

Ich betrachtete ihr blasses Gesicht, biss mir auf die Zunge, um eine Frage zurückzuhalten, und stellte sie dann doch. »War dir nicht klar, dass du dann verhaftet werden würdest?«

Sie starrte in die Dunkelheit und schwieg so lange, dass ich schon glaubte, sie so schrecklich beleidigt zu haben, dass sie mir nicht antworten würde.

»Das hatte ich nicht erwartet, Zarq«, murmelte sie schließlich. »Nicht das hier!«

Eine weitere Frage ließ mir keine Ruhe. »Würdest du es wieder tun, wenn du in der Zeit zurückgehen könntest? Würdest du protestieren, wenn du wüsstest, wo du enden würdest?«

Ihr Kopf fuhr herum, und ihre Augen wirkten in dem dämmrigen Licht so blutig und körnig wie zerstoßenes Fleisch. »Wenn niemand gegen eine Ungerechtigkeit protestiert, wird sie zur Normalität und akzeptiert. Und schon bald folgt ihr eine größere Ungerechtigkeit. Die Gesellschaft wird von Zwist geformt, Zarq, und die Gerechtigkeit wird aus Beschwerden geboren.«

Jetzt erinnerte ich mich an meinen Schwur, ein Drachenmeister zu werden, meinen Einfluss zu nutzen, um Kratt zu entlarven und den Rishi von Brutstätte Re ein gewisses Maß an Gleichberechtigung zu verschaffen. Diese Pläne waren so ehrgeizig und meine derzeitige Situation so weit davon entfernt, dass mir angesichts dieser Kluft und meiner früheren Naivität schwindelte. Ich schüttelte den Kopf. Als ich sprach, redete ich mehr zu mir selbst als zu ihr. »Ich weiß nicht, ob ich den Kampf und die Unruhe will, die mit diesem Zwist kommen. Ich glaube nicht mehr, dass ich für meine Überzeugungen zum Märtyrer würde.«

»Ich bin kein Märtyrer«, erwiderte Misutvia hitzig. »Vergleiche mich nicht mit Großmutter.«

Ich erschrak über ihre heftige Reaktion. »Ich habe nicht an Großmutter gedacht. Oder an dich.«

Sie ließ den Kopf sinken und atmete mehrmals bebend durch.

»Ich hasse diese Frau«, flüsterte sie schließlich. »Ich habe davon geträumt, sie zu erwürgen, viele Male, ihr mit einem Stein ihren verrückten Schädel einzuschlagen.«

»Verrückt?«, murmelte ich. »Oder fromm? Ist sie eine Wahnsinnige oder eine Märtyrerin?«

»Ihr Glaube ist nur eine Entschuldigung für ihre Passivität. Sie ist keine Heldin.«

»Bist du dir dessen so sicher?« Ich sah auf meine wächsernen Hände, meine hervorstehenden Knochen, die so zart aussahen wie Fischgräten. »Du hast die Drachen gehört. Glaubst du wirklich, dass sie nicht göttlich sind? Vielleicht hat Großmutter recht. Vielleicht hasst du sie deshalb so. Ihr Glaube ist beeindruckend. Deiner dagegen existiert nicht.«

»Halt den Mund, Naji!« Misutvia nannte mich aus Ärger wieder bei meinem Gefangenennamen. »Ich brauche jetzt Schlaf. Wir beide brauchen Schlaf. Verschwenden wir unsere Energie nicht mit der Diskussion über eine irregeleitete alte Frau, die am Rand des Todes steht.«

 

Obwohl ich schlief, erholte ich mich nicht. Meine bruchstückhaften, gnadenlosen Träume wurden in der Leere der Nacht intensiver, pulsierten mit meinem Herzschlag, mutierten, vermehrten sich.

Ich war von Kokons umringt, die mich vollkommen umgaben. Ich stöhnte im Schlaf, öffnete die Augen und sah die Dunkelheit als Verräter, sah Kissen und Diwane als sternenfunkelnde Gestalten, die hockten und sich mit boshaftem Schwung paarten. Der Geist in mir tobte, im Gegenrhythmus zu meinen Atemzügen.

Eine Klaue zerfetzte schließlich den Kokon und schlug in mein Wesen hinein.

Ich gurgelte und krallte mich an Misutvia fest, die zusammengesunken neben mir schlief. Eine zweite Klaue bahnte sich den Weg durch den Kokon in meiner Psyche, und dann drang der Geist meiner Mutter aus der Hülle heraus, überzog meine Seele mit fauliger Wut. Mein zerrütteter, dunkler Verstand heulte, als die Verwandlung begann, als der Geist meiner Mutter mein Gewebe durchdrang, besessen und besitzergreifend.

Ich wand mich in Krämpfen auf dem Boden.

»Gift!«, schrie ich.

Ein Kissen aus geschmolzenem Wachs legte sich über mich. Kurz dämmerte mir, dass es sich um Misutvia handelte.

Dann konnte ich nichts mehr sehen, meine Sehkraft war mir von widerlichen, außerweltlichen Augen gestohlen worden. Mein Körper wurde ausgehöhlt, als wäre ich infiziert; ich fühlte, wie ich aus Fingern und Armen vertrieben wurde, fühlte, wie ich wie ein Wasserfall den Hals hinab in die Gefängnishöhle meines Brustkorbs floss. Mein ganzes Selbst wurde an einen Ort gespült, ein Polyp, der in meinem eigenen Leib gebettet wurde. Ich wurde zusammengepresst. Ich war Dunkelheit, die sich in sich selbst zusammenfaltete.

In diesem engen Gefängnis spürte ich, wie der Körper, in dem ich mich befand, sich bewegte. Wut, Krämpfe, hektisches Fieber. Gewalt und ungeheure Anstrengung. Zerstörung und Vernichtung, ohne erkennbares Ziel.

Der Geist konnte mich nicht in dem Polypen halten, nicht, während sich seine berserkerhafte Energie ausschließlich auf Zerstörung konzentrierte. Ich wand mich, fühlte, wie der Polyp um mich herum so breiig wie gemuste Früchte wurde. Ich verstärkte meine Anstrengungen. Das Mus verdünnte sich zu Serum und verdunstete unter der Hitze meiner Entschlossenheit. Triumphierend strömte ich in meinen Körper zurück. Der Geist meiner Mutter zersplitterte, ausgelaugt von seinem Werk der Zerstörung, in tausend winzige Scherben, die in die entferntesten Ecken meines Wesens flogen.

Sicht. Geräusche. Empfindungen.

Meine Brust hob und senkte sich, Luft strömte in meine Kehle und meine Lungen, als hätte ich sie aus einem glühenden Brennofen gesogen. Meine Beine konnten mich nicht mehr tragen, und ich brach an einer Wand zusammen. Vor mir ausgestreckt sah ich meine Beine, meine Schienbeine waren blutüberströmt, Brocken von Steinen und Mörtel klebten an meinen Waden. Langsam blickte ich hoch.

Staub hing in der dunklen Luft, ein dichter, körniger Staub, der meine Augäpfel überzog. Um mich herum lagen Steintrümmer.

Ich lag zusammengesunken in dem Flur vor der Gewölbekammer der Viagand. Misutvia stand in der Tür der Kammer und hielt sich daran fest. Um sie herum scharten sich die neuen Frauen, die mich furchtsam anstarrten.

Ich blickte auf meine Hände. Sie glühten in einem sonderbaren, blauen Licht. Meine Fingerspitzen pulsierten auf diese besondere Art und Weise wie damals im Konvent von Tieron, als der Geist von mir Besitz ergriffen hatte und aus meinen Händen Feuer gelodert hatte. Nur war jetzt kein Feuer aus meinen Händen gedrungen, sondern eine dunkle Macht, welche die Steinmauer zertrümmert hatte.

Denn es war die Mauer, mit der wir eingeschlossen worden waren, deren Schutt im Korridor lag, dazu zwei Wachen, als Akolythen verkleidet. Sie lagen tot zwischen den Trümmern.

 

Die Frauen der Viagand ließen mich stehen und zogen sich in die Kammer zurück, schlossen die Tür vor mir. Draußen, außerhalb der Festung, tobte nach wie vor der Monsun. Mit klappernden Zähnen, benommen und erschöpft, blieb ich ausgestreckt auf dem Boden liegen. Meine Knochen waren so kalt und steif wie die der Leichen, die verkrümmt im Schutt lagen.

Schließlich, kurz vor Mitternacht, öffnete sich knarrend die Tür zur Gewölbekammer der Viagand. Misutvia näherte sich mir vorsichtig; sie wirkte in der Dunkelheit wie eine graugrüne Spindel. Ihr Bitoo blieb an spitzen Steinen hängen, als sie sich vorsichtig den Weg durch die Trümmer zu mir bahnte.

Ein Stück vor mir blieb sie stehen und wartete, stumm und argwöhnisch.

»Der Regen«, krächzte ich und deutete mit einem Nicken auf den dunklen Korridor vor mir, hinter dem Schutt. »Pfützen.«

Sie rührte sich nicht, dann verstand sie. Sie suchte sich einen Weg über die Trümmer und die toten Wächter und stolperte weiter in den Korridor hinein. Durch die von Schlingpflanzen überwucherten Fenster, die in die Wände des Korridors eingelassen waren, tropfte das Wasser über Blätter und Schlingpflanzen auf den Boden, bildete eine dunkle Pfütze, so schwarz wie Teer. Misutvia kniete sich daneben, legte den Kopf auf den Boden. Sie trank, bis sie ihr Durst gestillt war, dann tauchte sie den Zipfel ihres Ärmels hinein und kehrte zu mir zurück.

Sie hielt mir den nassen Ärmel über den Mund, wrang ihn und träufelte vorsichtig das Wasser auf meine Zunge.

»Mehr«, keuchte ich.

»Ich hole einen Topf«, flüsterte sie. Kurz darauf kam sie mit einem leeren Farbtopf aus der Kammer zurück. Die drei neuen Frauen folgten ihr. In ihrem Versuch, einen Bogen um mich zu schlagen und gleichzeitig so schnell wie möglich das Wasser zu erreichen, stolperten sie eine Klaue von Malen über die Trümmer.

Misutvia hockte sich erneut vor mich, und ich trank aus dem Topf, den sie mir an die Lippen hielt.

»Mehr«, keuchte ich.

»Ich suche eine andere Pfütze, in einem anderen Flur.«

»Nein. Du könntest auf einen Wächter stoßen.«

»Oder auf Malaban«, antwortete sie.

»Wir brauchen einen Plan.«

Sie nickte. »Wir reden, wenn wir wieder in der Kammer sind. Kannst du stehen? Kann ich dich berühren?«

»Ja. Er schläft, sammelt Kraft.«

»Der Dämon in dir?«

Es war zu anstrengend, es ihr zu erklären. »Ja.«

»Warum hast du diese Macht erst jetzt benutzt? Warum hast du überhaupt zugelassen, dass du verhaftet und hierher gebracht wirst, wenn ein solcher Dämon deinem Befehl gehorcht?«

»Er gehorcht mir nicht, ganz und gar nicht.« Ich schüttelte schwach den Kopf. »Wenn ich auf dem Boden meiner Geburtsbrutstätte bin, dann kann diese Kreatur, die du einen Dämon nennst, nicht in mich eindringen und ihre Macht durch meinen Körper ausüben. Sie kann nur versuchen, mir ihren Willen aufzuzwingen, indem sie mich in jedem Moment, ob ich wache oder schlafe, mit Visionen und ihrem Flüstern verfolgt. Nur das Gift schützt mich vor der Präsenz dieses Geistes.«

»Und wenn du nicht in deiner Geburtsbrutstätte bist?«, erkundigte sich Misutvia.

Ich seufzte. »Dann wird der Geist in mir eingesperrt. Ich weiß nicht wie oder warum, es ist einfach so. Wenn ich nicht in meiner Geburtsbrutstätte bin, dann reist dieser Geist in mir, hält die Zügel, beherrscht meine Augen. Er benutzt mich wie eine Marionette, wann und wie er es will, und ich werde zu einer Gefangenen in meinem eigenen Leib. Es ist ein Gefühl, als würde ich lebendig begraben.«

Ich schloss erschöpft die Augen. »Dann brauche ich das Gift am meisten, verstehst du? Wenn ich nicht in meiner Geburtsbrutstätte bin und der Geist in mir ist. Das Gift hüllt ihn ein, erzeugt eine Membrane um ihn, die er nicht durchdringen kann. Und weil ich jetzt eine Weile kein Gift mehr bekommen habe, hat er heute Nacht seinen Kokon durchbrochen und mich überwältigt.«

»Verstehe«, murmelte Misutvia, obwohl sie es ganz eindeutig nicht verstand. Sie wusste nur das, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte: blaue Zungen der Macht, die aus meinen Händen zuckten, und dass ich in der Lage war, Wände damit zu zertrümmern und Menschen zu töten. »Ich habe Gerüchte gehört, dass Djimbi zuweilen solcherart besessen sind.«

Ich leckte mir die Lippen und schlug die Augen auf. »Ich bin nicht von einem Dämon besessen, Jotan. Das ist eine himmlische Kraft.«

»Ein himmlischer Dämon? Aha.« Sie glaubte mir nicht; sie hielt mich für ein Instrument der Einen Schlange.

Aber es störte sie nicht weiter.

Solange sie dabei selbst nicht zu Schaden kam, würde sie mich benutzen, um fliehen zu können. Ich konnte ihre Gedanken fühlen, sie strömten förmlich aus ihr heraus.

»Ich helfe dir aufzustehen«, murmelte sie.

In der Kammer der Viagand ließen wir uns erschöpft auf Kissen am Boden sinken. Sutkabde und Großmutter saßen auch dort, aschefarbene Hügel in der Dunkelheit. Die drei neuen Frauen gesellten sich ebenfalls vorsichtig zu uns.

»Du hast das Hindernis entfernt«, stieß Großmutter hervor. »Du hast zwei Wachen getötet. Sich dem Willen der Wachen und der Drachenjünger zu widersetzen ist ein Fehlverhalten. Ich beanspruche die Pflicht, beides zu melden.«

Misutvia lachte, schnaubend und humorlos. Großmutter hatte ganz offensichtlich nicht gesehen, noch hatte man ihr erzählt, auf welche Weise ich die Wand zerstört hatte, sonst hätte sie sich über andere Dinge Sorgen gemacht, statt einfach nur die Pflicht zu beanspruchen, Ungehorsam und Mord zu melden.

Ich ignorierte sie und holte bebend Luft. »Wissen wir, wie diese Festung aussieht?«

»Ich habe mir jeden Gang eingeprägt, durch den ich gegangen bin«, antwortete Misutvia.

»Zeichne sie auf.«

Einige Augenblicke später studierte ich die schimmernden Striche, die sie auf der Oberfläche eines ihrer zerrissenen Ärmel gemacht hatte. Ich deutete auf einen.

»Die Quartiere der Drachenjünger liegen hier, richtig? Zwei Korridore führen dorthin, wenn dein Gedächtnis dich nicht trügt, der hier und der. Beide werden von Wachen kontrolliert, die als Akolythen verkleidet sind. Der Eingang zur Festung dürfte sich vermutlich hier befinden.«

»Wenn Malaban hier ist, führt er uns zum Ausgang.«

»Wir müssen deinen Bruder erreichen und fliehen, ohne die Wachen zu alarmieren. Die Drachenjünger, die hier leben, werden uns alle ermorden lassen, einschließlich deines Bruders, bevor sie zulassen, dass die Wahrheit über diesen Ort ans Licht kommt. Es kümmert sie nicht, wie einflussreich deine Familie ist, Jotan. Sie werden dich nicht lebend entkommen lassen, nach allem, was du über die Drachen weißt.«

»Sie würden Malaban nicht einmal ermorden, wenn sie Angst hätten, dass ich verrate, was man mir angetan hat«, erwiderte sie. »Wenn sie meinen Bruder umbringen, dann würden sie sich den Zorn vieler mächtiger Familien der Händlergilde zuziehen, nicht nur den der Bri.«

Also stimmte es tatsächlich; sie hielt die Drachen nicht für göttlich. Sie glaubte wirklich, dass diese Festung, dass die Bestialität, der wir unterworfen wurden, nur dazu diente, die Macht des Tempels zu stärken, indem er sich von Gift beeinflusste Ratschläge einholte, die Allianzen betrafen, Verschwörungen und Strategien. Sie hatte keine Ahnung, wonach der Tempel tatsächlich suchte.

Ich wusste es besser.

Die Drachen waren göttlich, und die Drachenjünger, die hier stationiert waren, würden niemals eine Frau aus der Viagand entkommen lassen, nur weil sie eine Konfrontation mit einer einflussreichen Händlergilde scheuten.

Der Tempel würde niemals das Risiko eingehen, dass die Kriegerfürsten der Brutstätten durch eine flüchtige Viagand-Frau von dem Ritus erfuhren; dass sie wussten, was geschah, wenn sich eine Frau zu den Drachen legte. Denn ein Kriegerfürst in irgendeiner Brutstätte würde irgendwann das wahre Potenzial hinter diesem telepathischen Austausch erkennen.

So wie Kratt es erkannt hatte.

Nur würden sie im Unterschied zu Kratt wissen, weil Misutvia eine gewöhnliche Frau war, dass jede Frau bei einem giftigen Drachen liegen und sein Lied hören konnte, nicht nur die Tochter des Himmelswächters aus einer fast unbekannten Prophezeiung. Und aufgrund der vielen Drachen, die jeder Kriegerfürst jeder Brutstätte besaß, und wegen der vielen Tausend Rishi-Frauen in diesen Brutstätten, die diese Kriegerfürsten zur Vereinigung mit einem Drachen zwingen konnten, standen die Chancen sehr gut, dass der Tempel der Letzte sein würde, der das Geheimnis des Schlüpfens eines Drachenbullen lüften würde.

Der Tempel wollte ein Monopol auf diese Antwort, um die Macht des Imperators ins Uferlose und Unangreifbare zu steigern. Malaban Bri von Lireh war nur eine lästige Stechmücke, die der Tempel einfach zerquetschen würde.

»Wir wollen nichts überstürzen«, sagte ich zu Misutvia. »Wir wollen das erst genau durchdenken.«

Großmutter bewegte sich. »Es gibt nichts zu durchdenken. Unsere Pflicht ist klar. Wir müssen hier bleiben, was die Drachenjünger ganz eindeutig wünschen.«

Misutvia gab einen erstickten Laut von sich und krümmte in der düsteren, schlammigen Finsternis der Kammer ihre Hände zu Krallen.

Großmutter schmatzte trocken. »Ich hätte nicht hier sitzen bleiben sollen, während ihr den Mord an den beiden Wächtern plantet, die eurer Meinung nach die Tür bewachten. Ich habe meine Pflicht versäumt. Das werde ich jetzt nicht mehr tun.«

Ich starrte auf den aschefarbenen Berg, der Großmutter war. »Was meinst du damit?«

»Ich werde gehen. Und euer Verhalten melden.«

»Das wirst du nicht tun.«

»Du verrücktes, altes Weib«, zischte Misutvia.

Ich beugte mich vor. »Großmutter, sobald du dich den Wächtern näherst, sobald ihnen klar wird, dass wir die Mauer durchbrochen haben, werden sie dich niederschlagen. Sie werden das Risiko nicht eingehen, dass Malaban Bri von deiner Anwesenheit hier erfährt, auch wenn du es nur tust, um sie über unsere Pläne zu informieren.«

In dem Schweigen spürte ich förmlich den Gewissenskonflikt, der in Großmutter tobte. Ich saß angespannt da und fragte mich, wie stark ihr Glaube wohl war.

»Wenn der Tod mein Schicksal ist, weil ich die Drachenjünger davon verständige, dass ihr ihre Wand zerstört habt«, flüsterte sie schließlich, »dann sei dem so. Aber sie müssen von eurer Verderbtheit erfahren. Das ist meine Pflicht.«

»Ich bringe dich um!«, kreischte Misutvia und warf sich auf Großmutter. »Du verrückte Hure, ich reiße dir sämtliche Gliedmaßen aus!«

Etwas riss, Arme schwangen durch die Luft. Großmutter keuchte erstickt. Dann ertönte ein Knall, ein schrecklicher Knall wie der einer Melone auf Stein.

Großmutter lag auf ihrem Rücken und hielt sich die Kehle, rang nach Luft nach Misutvias Angriff. Misutvia lag regungslos über ihr. Sutkabde kniete neben Großmutters Kopf, einen Farbtopf in der Hand; sie hatte ihn Misutvia gegen den Schädel geschlagen, um Großmutter zu retten.

»Wenn ich sterben muss«, erklärte Sutkabde heiser, »dann am Maul eines Drachen. Ich werde nicht bei einem vergeblichen Fluchtversuch krepieren, Rishi Via. Ich glaube an das Göttliche. Ich diene den Drachen.«