14
Kabdekazonvia verließ ihre Nische den ganzen Morgen nicht. Kurz bevor die Eunuchen auftauchten, bat Großmutter Prinrut und mich, Kabdekazonvia herauszuholen. Ich hockte mich vor ihre Nische, aus der mir ein fauliger, süßlicher Gestank entgegenschlug.
Rasch stand ich auf und zog Prinrut weg.
»Nicht«, sagte ich, während es in meinem Kopf summte. »Nicht.«
Prinrut sah weg, richtete ihren Blick auf einen der schmalen Fensterschlitze hoch oben in der Wand der Gewölbekammer. Draußen prasselte der Regen vom Himmel, und die Feuchtigkeit hing fühlbar in der Luft. »So. Dann ist sie jetzt frei.«
»Sie ist tot!«, fuhr ich sie gereizt an. »Das ist ein Unterschied.«
»Tatsächlich?« Prinrut sah mich wieder an. Die entzündete Haut um ihre Augen herum schimmerte feucht.
Ich hätte sie gern gehalten, sie geliebt, sie beschützt. Gleichzeitig wollte ich sie schlagen, sie schütteln, sie aus ihrer Apathie aufrütteln. Ich tat jedoch nichts dergleichen, sondern informierte stattdessen Großmutter, dass Kabdekazonvia nicht mehr lebte.
Als der fette Eunuch von Kabdekazonvias Ableben erfuhr, bekam er einen beeindruckenden Tobsuchtsanfall, schleuderte wüste Beschimpfung und Kissen gegen uns, heulte, schlug sich an die Brust und rannte in der Gewölbekammer im Kreis herum, als wäre er verrückt geworden. Dann stürzte er sich auf Sutkabde, die schlechteste Esserin unter uns, jetzt, nach Kabdekazonvias Verscheiden, und stopfte ihr ein Stück Gebäck nach dem anderen in den Schlund, bis sie blau anlief und ohnmächtig wurde. Er zerrte die Bewusstlose zu den Wassereimern an der Tür und hielt ihren Kopf hinein, um sie aus ihrer Betäubung zu reißen.
Gurgelnd kam sie zu sich und erbrach sämtliche Nahrung, die er ihr aufgezwungen hatte.
Er schleppte sie zu dem Tablett mit dem Gebäck zurück und zwang ihr mit gnadenloser Entschlossenheit noch eine Klaue voll Gebäckstücke in den Mund.
Wir anderen lösten uns aus Furcht in Luft auf, standen vollkommen regungslos das. Prinrut fiel wieder in ihre katatonische Starre.
In dieser Nacht konnte ich Prinrut nicht aufwecken, so häufig ich sie auch aufsuchte, wie sehr ich sie auch anflehte, sie schüttelte, sie verfluchte oder anschrie. Prinrut blieb starr und mit blicklos aufgerissenen Augen in ihrer Nische liegen. Schließlich kamen die Eunuchen.
»In die Vorbereitungszelle mit ihr«, befahl der fette Eunuch und wedelte mit den Händen, als wollte er einen räudigen Köter verscheuchen. Der junge Eunuch kniete sich hin und krabbelte in ihre Nische, um sie herauszuzerren. Er erinnerte mich an einen Mistkäfer.
Ich trat stolpernd einen Schritt vor, um zu protestieren. Misutvia hielt mich am Arm fest und schüttelte fast unmerklich den Kopf.
»Lass sie gehen, Naji.« Sie bewegte kaum die Lippen, und ihre Stimme war beinahe nicht zu hören. »Wenn sie es will.«
»Aber …«
»Lass sie los.«
Ich konnte nicht mit ansehen, wie der trippelnde Eunuch und der Junge Prinrut aus der Viagand schleppten. Ich kehrte dem leisen Schleifen von Prinruts nackten Füßen über den Steinboden den Rücken und starrte auf eine Wand.
Ich sah sie nie wieder.
Gegen Mittag erwachte ich aus einem rastlosen, kalten Schlaf. Ich hatte ständig von dem in einen Kokon gehüllten Geist meiner Mutter geträumt, der sich in meinem Bauch wand. Lärm hatte mich geweckt, Geräusche von Betriebsamkeit. Ich kroch aus meiner Nische, richtete mich steif auf und schlurfte aus dem Schatten, als sechs mir nicht bekannte Frauen in die Gewölbekammer der Viagand stolperten. Sie stanken förmlich nach Gift.
Sie blieben eine Weile schwankend und benommen in der Mitte des Raums stehen. Wie von einem unsichtbaren Signal geleitet, stolperten sie dann in verschiedene Richtungen davon, gingen zu den Nischen, die sie offenbar zuvor belegt hatten. Eine Frau näherte sich mir und richtete den Blick ihrer blutunterlaufenen Augen auf meine Nische. Ich trat zur Seite und sah zu, wie sie hineinkroch.
Ich atmete tief den intensiven, zitronigen Duft des Giftes ein, den sie verströmte. Großmutter trat zu mir.
»Wir werden nach dem Mittagsmahl zum Badehaus geführt«, sagte sie tonlos.
Es überlief mich kalt. Badehaus? Sollte ich es wagen, die Frage zu stellen, warum wir dorthin geführt wurden? Besser nicht, nein.
»Warum?« Ich spannte mich an, in Erwartung, dass sie meine Frage als anmaßend und von daher zu einem Fehlverhalten erklärte.
Stattdessen jedoch erwiderte Großmutter nur: »Um gewaschen zu werden.«
Ich beließ es dabei, obwohl ich wusste, dass sehr bald etwas Schreckliches passieren würde. Etwas, dem ich nur durch den Tod entkommen konnte.
Beim Mittagsmahl leisteten uns die sechs Frauen Gesellschaft, die in die Viagand zurückgekehrt waren. Als der fette Eunuch sie rief, krochen sie aus ihren Grotten. Einige schleppten sich auf ihren Ellbogen vorwärts, sahen aus wie Salamander, die auf ihren Bäuchen über den Boden eines ausgetrockneten Teichs krochen. Auf Großmutters Geheiß halfen wir den sechs auf die Kissen. Die Haut der Frau, deren Arm ich hielt, sah aus wie Eiweiß und fühlte sich an wie Gelatine. Der Geruch des Gifts strömte aus ihren Poren, als wäre sie bis zum Rand mit Drachengift angefüllt.
Die sechs verweigerten ausnahmslos selbst den kleinsten Bissen Nahrung. Ich erwartete, dass der fette Eunuch vor Wut einen Schlaganfall erleiden würde, aber er schnalzte nur nachsichtig mit der Zunge.
»Brave Mädchen, ihr habt hart gearbeitet; also bekommt ihr heute eine Gnadenfrist. Aber morgen, heho! Morgen will ich diese Wangen voll sehen, die Bäuche rund, ja?«
»Ja«, hauchten sie und blickten aus starren Augen geradeaus, Augen, die von eiternden Falten roter Haut umringt waren.
Die drei Eunuchen verspeisten gewohnt theatralisch die Reste der Mahlzeit. Anschließend führten sie Großmutter, Misutvia, Sutkabde und mich zum Badehaus.
Auf Anweisung des fetten Eunuchen zogen wir uns aus und stellten uns mit gespreizten Beinen und ausgestreckten Armen auf. Der trippelnde Eunuch und der Junge wuschen uns. Man befahl uns, dass wir uns nicht berühren sollten, während unsere Haut mit Bürsten aus Schweineborsten gereinigt wurde, also standen wir reglos da, bis auf unser gemeinsames Bibbern.
Sie hatten ein System, der trippelnde Eunuch und der Junge. Der Trippelnde wusch uns von der Hüfte an aufwärts, während der Junge auf den Knien über den blau gefliesten Boden rutschte, unsere Knöchel säuberte, zwischen den Falten unserer Vulven herumstocherte und kleine Rollen aus alter Haut und Schmutz von unseren Schenkel rieb.
Als wir fertig waren, durften wir uns nicht selbst abtrocknen. Das erledigte der fette Eunuch, der unsere Körper ausführlich pries oder schmähte.
Ich wehrte mich nicht. Die Furcht und die Resignation der anderen Frauen nahmen mir jede Neigung zum Trotz. Mir kam nicht einmal der Gedanke, zu rebellieren. Stattdessen bemühte ich mich, den Eunuchen zu gefallen, genau das zu tun, was man mir sagte. Gehorsam würde mich beschützen, würde die Eunuchen von Wächtern in Freunde verwandeln. Das wollte ich jedenfalls glauben.
Vom Badehaus wurden wir zu den Baracken der Wächter geführt. Dort fand ich heraus, dass die Tadel hinter meinem Namen für die Zahl der Wächter standen, die ich erfreuen sollte. Der Geist meiner Mutter wütete in seinem vom Gift gesponnenen Kokon, versuchte mit seinen Klauen verzweifelt, diesen psychischen Schild zu zerfetzen, um in meinen Körper zu strömen und jene anzugreifen, die mich besudelten.
»Aber, aber, Naji«, brummte der fette Eunuch tröstend, als er meinen malträtierten Körper eine, wie mir schien, Ewigkeit später durch den nachtdunklen Korridor führte. »Sieh doch, wie sehr die Wächter dich mochten, hm? Wenn du ihre Art ein bisschen besser verstehst, so wie Großmutter es tut, dann werden deine Fähigkeiten dir helfen, nicht so stark zu bluten.«
Die Höhle der Ärzte war eine feuchte, von Spinnweben übersäte Grotte. Eine Apothekerkiste und ein dreibeiniger Tisch mit stählernen Instrumenten standen vor einer Bambuspritsche. Zu welcher mich der Eunuch führte. Dann verschwand er und nahm die Laterne mit. Ich lag zitternd da, bis schließlich ein Mann hereinkam. Seine Gewänder rochen nach Tabakrauch. Seine vielen Zöpfe glänzten im Licht der Laterne, als er vor mir stand und die Lippen über seinem sauber gestutzten Bart zusammenpresste.
»Hättest du dich nicht vorher waschen können?«, fragte er fast ungläubig. Er stellte seine Laterne achtlos ab und vernähte meine Wunden.
In dieser Nacht träumte ich, als ich allein und ohne die Hilfe des Giftes in der Grotte der Ärzte lag. Ich träumte von Kiz-dan und ihrem Baby. Kiz-dan war die heilige Schwester, die ich auf meiner Flucht aus dem Konvent von Tieron mitgenommen hatte. Doch nachdem wir Brut Re erreicht hatten, hätte meine Abhängigkeit von dem Gift beinahe Kiz-dans Baby das Leben gekostet. Als ich eines Tages nach Hause zurückkehrte, zu dem Bestattungsturm in der Zone der Toten, die wir zu unserer Heimstatt gemacht hatten, waren sie und ihr Kind verschwunden.
Vielleicht träumte ich von ihr, während mein misshandelter Körper unkontrolliert in der feuchten Grotte der Ärzte bebte, weil mir die brutale Misshandlung in der Baracke der Wachen die trügerische Sicherheit und das Gefühl von Gemeinschaft in der Gwölbekammer der Viagand gewaltsam entrissen hatte. Ich hatte wieder einmal ein Gefühl von Heimat an die Gewalt verloren, wie illusorisch und sonderbar dieses Heim auch gewesen sein mochte.
In meinem Traum stand Kiz-dan auf einer wackligen Hängebrücke aus Holz und Tauen, hoch über einem tiefen Abgrund, während sie den kleinen Yimyam in den Armen hielt. Er spielte mit ihrem Kinn, versuchte, ihren Mund zu öffnen und mit ihren Zähnen zu spielen. Dabei plapperte er fröhlich.
Ich stand am Rand des Abgrunds und flocht Grashalme zu Schnüren. Warum, wusste ich nicht. Ich musste es einfach tun. Um mich herum lagen Stapel dieser Schnüre, in denen das Ungeziefer nur so wimmelte.
Kiz-dan hob eine Hand und winkte mir zu. Der kleine Yimyam hob den Kopf bei ihrem Gruß und gurgelte vor Entzücken, als er mich sah. In dem Moment rissen die Taue der Brücke.
Das Geräusch klang wie ein Peitschenhieb, nur hundertfach lauter; Kiz-dan schrie auf, sprang auf mich zu, drückte mit einer Hand Yimyam an ihre Brust, während sie die andere nach mir ausstreckte. Sie war nah, ihre Hand; ihre Fingerspitzen kratzten über mein Bein.
Aber ich ergriff ihre Hand nicht.
Nein.
Ich drehte mich um und wälzte mich in den von Ungeziefer wimmelnden Stapeln von Grasschnüren, während Mutter und Kind kreischend in den Tod stürzten.
Ich erwachte, schweißgebadet und schluchzend. Anschließend brauchte ich lange, bis ich wieder einschlafen konnte.
Ich lag lange in der undurchdringlichen Dunkelheit der Grotte. Ich schlief, erwachte, hungerte; meine Wunden eiterten. Dann tauchte der fette Eunuch auf, die Laterne in seiner Hand. Misutvia humpelte hinter ihm her. Ihre teigigen Wangen waren eingefallen, als sie vor Schmerz die Luft einsog. Einen Arm drückte sie an ihre Brust.
»Setz dich auf den Boden«, befahl der Eunuch brüsk. »Der Arzt kommt bald, heho!«
Er ging hinaus, nahm die Laterne mit, warf die Tür hinter sich zu und ließ uns im Dunkeln zurück. Nach einer kurzen Stille hörte ich, wie Misutvia an einer Wand zu Boden rutschte.
Meine Zähne klapperten, als mich ein Schauer überlief.
»Wir werden morgen früh zu den Stallungen gebracht. Das Gift hilft«, sagte Misutvia. Ihre Stimme klang heiser, als hätte jemand sie gerade erst mit starken Händen gewürgt.
»Die Wächter kümmern sich dort um die Drachen, misten die Ställe aus, füttern sie, pflegen sie. Es sind allesamt Verbrecher, die eine lebenslange Strafe im Dienst des Tempels verbringen. Außerdem sind es höchst unachtsame Wächter, die nicht einmal diese Pflicht ernst nehmen; wir sind vom Dschungel umgeben. Dieser Ort liegt versteckt und ist nur dem Ranreeb und einigen wenigen verwirrten Drachenjüngern bekannt, die sich in ihrem Dienst hier abwechseln. Verstehst du mich, Naji?«
Sie sprach schnell; mir wurde klar, dass sie nicht nur sich selbst und mich von dem ablenken wollte, was man uns antat, sondern auch diese seltene Gelegenheit nutzte, mir Informationen zu geben, ohne dass jemand anders dabei war, vor dem sie ihre Zunge hüten musste.
»Wie viele Wächter gibt es hier?« Mir klapperten immer noch die Zähne.
»Sieben.«
Mir war ihre Zahl viel größer erschienen. Erheblich größer.
»Und Drachenjünger?«
»Fünf, in jeder Jahreszeit. Allesamt fanatische Eiferer.«
»Werden die Drachenjünger …?« Mein Ekel erstickte meine Frage, aber sie verstand mich trotzdem.
»Nein, sie werden dich nicht so berühren. Aber sie werden dir wehtun, falls deine Interpretationen von dem, was du während deiner Vereinigung mit einem Drachen hörst, ihnen nicht gefallen. Sie haben ihre eigenen Methoden.«
»Wie kann ich sie erfreuen?«
»Hast du schon einmal bei einem Drachen gelegen?«
Ich zögerte; es war uns verboten, über unsere früheren Erfahrungen zu sprechen.
»Du weißt, dass ich kein Fehlverhalten melde, außer dem von Großmutter«, meinte Misutvia ungeduldig. »Beantworte die Frage. Wir haben nur wenig Zeit, bis ein Arzt auftaucht.«
»Ja, habe ich«, stieß ich hervor. »Ich habe bei einem Drachen gelegen.«
»Also hast du ihr sogenanntes Hohelied gehört.«
Hohelied. Ein ausgezeichneter Begriff für das, was ich vernommen hatte: Ein Lobgesang, ein Text, von einem Drachen gesungen, eine melodische Komposition aus Drachenkunde und Historie.
»Ich habe Bruchstücke davon gehört, ja.«
»Konzentriere dich auf die Emotionen, die diese Halluzinationen provozieren, verbinde sie mit deiner eigenen Lebenserfahrung, und ersinne daraus eine Interpretation. Denk an das, was der Tempel will, was er braucht: Macht. Füttere sie mit Namen, die andeuten, wie sie diese Macht zu verstärken vermögen.«
»Ich weiß nichts über Politik. Ich bin eine Rishi aus Brutstätte Re.«
Sie antwortete nicht. Ich konnte fast hören, wie sie darüber nachdachte, wie eine niedere, nahezu unsichtbare Leibeigene hier hatte enden können, in diesem geheimen Gefängnis für Frauen, wo die Gefangenen auf Geheiß des Ranreeb gezwungen wurden, mit Drachen intim zu sein.
»Verstehe. Nun, dann wird es härter für dich. Wir anderen sind Bayen; wir kennen die Politik des Ranon ki Cinai, kennen Menschen mit Macht und Einfluss. Wir haben in unserer Zeit außerhalb dieser Mauern ein bisschen von den Allianzen und den Verschwörungen in Erfahrung bringen können, welche die Gesellschaft von Malacar und dem Archipel durchziehen. Und wir benutzen dieses Wissen bei unseren Interpretationen.«
Allianzen. Verschwörungen. Menschen mit Einfluss und Macht. Davon wusste ich nichts.
Doch halt. Kratt und sein Drachenmeister.
Als ich mich an sie erinnerte, fiel mir auch wieder ein, was sie umtrieb: Sie suchten die Antwort auf das Rätsel, warum aus keinem Ei, das jemals von einem gezähmten Brutdrachen gelegt wurde, ein Drachenbulle schlüpfte. Ganz sicher suchte der Tempel eine Antwort auf dieselbe Frage. Natürlich tat er das. Hatte Misutvia das auch erraten? Was war ihrer Meinung nach der Zweck ihres Hierseins?
Ich fragte sie.
»Zweck?«, erwiderte sie verbittert. »Der Zweck besteht darin, die kranken Fantasien des Ranreeb zu befriedigen. Ihn mit vom Gift inspiriertem Geplapper zu versorgen, das den Tempel stärken könnte. Als Gefangene zu leiden und zu sterben, weil man mehr Freiheit wollte, als eine Frau begehren sollte.«
Sie hielt den Ritus nicht für heilig. Und ebenso wenig hatte sie das eigentliche Motiv des Ranreeb erraten.
»Wenn du es vermagst, Naji, dann ertrage dieses Leben so lange du nur kannst.« Misutvia sprach schneller. »Ich bin vom Caranku Bri von Lireh. Du hast von unserem Clan doch gewiss schon gehört, oder? Es ist die wohlhabendste Handelsgilde in Malacar, und ich weiß, dass meine Mutter mittlerweile meinen Bruder von meinem Verschwinden benachrichtigt hat. Ich bin sicher, dass er früher von einer Reise nach Norden zurückkehrt, jetzt, während wir sprechen. Er wird mich finden, Naji. Bis dahin muss ich durchhalten.«
Ihre Aufregung war ansteckend, nur konnte ich ihre Überzeugung nicht so einfach teilen.
»Wie soll er uns denn finden?«, fragte ich. »Dieses Gefängnis und alles, was sich hier zuträgt, ist ein Geheimnis, um das nur sehr wenige Menschen wissen.«
»Malaban, mein Bruder, hat ausgezeichnete Beziehungen. Er besitzt Land und Manufakturen, und seine Handelsflotte ist eine der größten und stolzesten an der gesamten Küste. Du hast doch gewiss schon von Malaban Bri von Lireh gehört?«
»Ich bin eine Rishi«, rief ich ihr ins Gedächtnis. »Besitzt er Drachen?«
»Der Tempel hat ihm niemals das Recht auf eine eigene Brutstätte gewährt, aber er hat die Erlaubnis erhalten, eine Klaue voll Drachen zu erwerben. Im Moment besitzt er fünfzehn Drachen, von denen fünf noch ihre Schwingen haben.«
Also war der Mann so mächtig, wie sie gesagt hatte. Vielleicht hatte sie recht, vielleicht konnte ihr Bruder uns hier finden. Aber dennoch zweifelte ich. Immerhin war sie trotz ihrer Stellung eingekerkert worden.
Ich frage sie, wie das hatte geschehen können, wie eine Frau von ihrem gesellschaftlichen Rang in dem Geheimgefängnis des Ranreeb hatte enden können.
»Glaubst du, dass wir ein Leben voller Luxus und Müßiggang führen, nur weil wir Bayen sind?«, antwortete Misutvia. »Einige von uns sind hier, weil wir zu viel wollten. Zu viel Wissen, zu viel Gleichheit, zu viel Freiheit. Wir waren nicht unterwürfig und häuslich genug für die Person, die schließlich genug Druck auf den Tempel ausübte, damit er uns einkerkerte. Andere von uns sind hier, weil wir nicht gefallen haben. Als Frau bist du immer entbehrlich und ersetzbar, vergiss das nicht.«
»Selbst Bayen?«
»Bayen, Rishi, das macht keinen großen Unterschied.« Sie klang brüsk. »Der Arzt wird bald hier sein, aber vorher müssen wir noch über eines sprechen: über Prinrut. Wenn wir von den Drachen wieder in die Viagand zurückkehren, muss eine von uns in die Vorbereitungszelle zurückkehren, um Prinruts Geschichte in die Wände zu ritzen. Du hast die Geschichten gelesen, als du da warst, richtig?«
»Ja.«
»Niemand weiß davon außer uns Frauen der Viagand. Die Wächter, die Eunuchen und Drachenjünger betreten die Vorbereitungszelle nicht, nicht einmal, um sie zu reinigen. Ich habe gehört, dass sie Hunde hineinschicken, die den Schmutz vom Boden fressen. Die Geschichten auf diesen Wänden sind eines der Geheimnisse, die Großmutter in ihrer unergründlichen Frömmigkeit niemals verraten hat.«
»Wie lange ist sie schon hier?«
»Ich rede von Prinrut«, erwiderte Misutvia scharf. »Hör zu. Eine von uns muss in die Vorbereitungszelle zurückkehren. Du solltest das verlangen. So machen wir es immer. Du weigerst dich zu essen, verhältst dich in Gegenwart der Eunuchen aufsässig und erklärst, dass du die Reinigung der Abgeschlossenheit benötigst, um deinen Verstand von den hartnäckigen Gedanken zu befreien, die dich plagen. In der Vorbereitungszelle suchst du die Wände nach den unvollständigen Geschichten ab. Prinruts Geschichte kannst du anhand ihres Alters erkennen. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, als sie hierher kam. Präge dir das ein: zweiundzwanzig.«
»Ich kann nicht in die Vorbereitungszelle zurückkehren«, erwiderte ich entsetzt.
»Hast du nicht den Wunsch, das für sie zu tun? Willst du nicht erfahren, wer sie war?«
»Ich kann nicht dorthin zurückkehren«, stammelte ich.
»Es ist ja nur für kurze Zeit.«
»Und wenn ich nicht gehe?«
»Dann bleibt ihre Geschichte ungeschrieben, und ihr Name wird niemals auf diesen Wänden erscheinen. Du wirst niemals erfahren, wer sie wirklich war, und ihr Geist wird hier gefangen bleiben, als Prinrut, bis du ihren wahren Namen aussprichst und ihn befreist.«
»Mach du es. Geh du.«
»Denk darüber nach.«
»Ich kann nicht.«
»Oh, und Kabdekazonvia; schreib auch ihr Verscheiden auf die Wände. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt.«
In dem Moment schimmerte Laternenlicht unter der Tür hindurch, und wir hörten Schritte.
Wir verstummten, als der Arzt hereinkam.
Mein Blut rauschte in meinen Ohren, und ich war mir sicher, er wusste, dass Misutvia und ich geredet hatten, nur wegen des schuldbewussten Pochen meines Herzens. Aber nach einer kurzen Untersuchung meiner Wunden wandte er sich Misutvia zu und schiente ihren Arm.
Wir bekamen keine Gelegenheit, weiter miteinander zu sprechen, Misutvia und ich, denn sobald der Arzt ihre gebrochenen Knochen gerichtet hatte, tauchte der fette Eunuch auf und holte uns beide ab. Ich konnte kaum laufen, also zog der Eunuch mich einfach hinter sich her, hielt mein Handgelenk in einer seiner pummeligen Hände. Dabei murmelte er Worte, die eine Aufmunterung sein sollten.
»Nur ein kleines Stück, Naji; nicht weit, dann sind wir in den Stallungen. Nicht lange, nicht weit. Noch eine Treppe, dann bist du da.«
Es war Tag. Grünliches Licht fiel durch die von Schlingpflanzen überwucherten Fenster, an denen wir vorbeigingen, und tagaktive Echsen huschten blitzschnell über die Steinwände.
Draußen prasselte immer noch der Regen herab; die Zeit der Nässe hatte jetzt ernsthaft begonnen. Rinnsale aus Regenwasser rieselten unablässig über die Innenseite der Fenster, spritzten auf die Schlingpflanzen, die sich über die Flure wanden, und bildeten kleine Lachen auf dem Steinboden.
Offenbar war diese schäbige Festung in aller Hast erbaut worden, ausschließlich zu dem Zweck, dass der Ranreeb das Geheimnis erfuhr, wie man Drachenbullen in Gefangenschaft züchten konnte. Ich empfand fast so etwas wie Mitgefühl für dieses steinerne Bauwerk. Es lag an einem Ort, wo es nicht hingehörte, war erfüllt und entstellt von aggressivem, gleichgültigem Leben und unterschied sich so kaum von meinem Körper. Ich hasste die Steinmauern nicht, die mich umgaben. Nein. Ich verstand nur zu gut, dass der wahre Feind sich in den Herzen meiner Wächter befand.
Was ich jedoch damals nicht begriff, war, dass mein eigener Feind auch in mir lag. In der Unterwürfigkeit, die meine Furcht erzeugt hatte.
Wenn der Bann der Einsamkeit einen Geruch hatte, das Versprechen der Ekstase einen Duft, dann war es der des Giftes.
Als der zitronige Duft des Drachengifts stärker wurde, wusste ich, dass wir uns den Stallungen näherten. Ich stolperte, keuchte, fühlte ungebetene Tränen über meine Wangen laufen. Trotz meines schrecklichen körperlichen und geistigen Zustandes, vielleicht auch gerade deswegen, sehnte ich mich mit einer Intensität nach der Berührung eines Drachen, dass ich mich schüttelte. Ohne zu wissen, woher die Worte kamen, begann ich zu flüstern.
Umarme mich mit deinem
obsidiangeschmückten Maul,
eine Kreatur, aus geronnenem Blut
geschaffen.
Umarme mich! Und das honigfarbene
Licht,
von Schwingen entfacht,
wird mich lehren,
was sie den Menschen nicht
gewähren.
Der Eunuch blieb unvermittelt stehen. Verärgert über diese Pause, sah ich von ihm zu Misutvia. Der Eunuch wirkte vollkommen verdattert. Misutvia hockte wie eine Raubkatze im Schatten, schien nur aus Augen zu bestehen, argwöhnisch, die Muskeln gespannt, bereit zum Sprung.
»Was sprichst du da?«, flüsterte sie.
»Die Drachen rufen!«, antwortete ich und zog den Eunuchen weiter, dem Licht entgegen.
Die Stallungen waren nichts als Gift, Stein und gelbe Streu, klebrig von schimmeligem Gift. Licht strahlte von Fackeln, die an den von Gift schwitzenden Wänden flackerten, und verbannten jeden Schatten. Vier Stallboxen, vier Drachen. Vier Schnauzen, die unter schrägen, bernsteingelben und starren Augen schnauften. Fünf Drachenjünger, die ihre Strophen sangen, während sie ölgetränkte Wedel über den Köpfen zweier Frauen schwangen, die unterwürfig vor ihnen knieten. Jeder Drachenjünger sang eine andere Strophe, und ihre murmelnden Stimmen schienen sich zu einer zu verbinden, wie Wellen, die von gegenüberliegenden Ufern eines Sees aufeinandertreffen.
Ich mache dich zu
Meinesgleichen,
ungeachtet dessen, was kommen
muss,
wenn dein Glück sich wendet
mit dem Lauf der Zeit.
Meine Schande!
Die Worte drangen zischend aus meinem Mund, so prachtvoll und schockierend wie Parfum und Perlen, Ebenholz und Kokosnüsse, so bedrohlich wie die wogende See, über welche Schiffe diese unterschiedlichen Schätze trugen.
Die Drachenjünger unterbrachen ungläubig ihren Singsang. Und die Blicke der Drachen bohrten sich in meine Augen.
Sie waren knochig, vernachlässigt, zitronengelbe Narben liefen wie anklagend ausgestreckte Finger über ihre Flanken, dort, wo ihnen nach ihrem Schlüpfen die Schwingen amputiert worden waren. Ihr Rückgrat, ihre Brust und ihre Augenränder traten deutlich hervor. Schuppen im dumpfen Grün von Wüstenkakteen und dem Braun von getrocknetem Blut hingen so locker wie faule Zähne auf ihrer faltigen Haut. Der faulige Gestank von Druckwunden auf den Tatzenballen lag unter dem starken Geruch des Giftes.
Worte drangen aus meinem Mund, wie Drachenseide, die vom Wind erfasst und emporgerissen wird.
Ich sah, was ich niemals
im Leben zu erblicken hoffte,
den Hund, der mich verriet, wohlgenährt und
gepflegt,
die schwarzen Schlangen
herausgeputzt,
die Guten sich nach dem Tode
sehnend.
Großmutter und Sutkabde starrten mich an, aus ihrer knienden Haltung, während ihnen das heilige Öl von ihrem langen, dünnen Haar tropfte, ihre bleichen Gesichter mir zugewandt, wie Orchideen sich dem Licht zuwenden.
»Was ist das für eine Blasphemie?«, zischte einer der Drachenjünger. »Eunuch, weise dein Mündel zurecht! Ist sie verrückt geworden? Sie soll knien; wie kann sie es wagen, die Luft mit ihrer Stimme zu verunreinigen?«
Der Eunuch stieß mich nach vorn, wütend vor Angst, und zwang mich, neben Großmutter und Sutkabde zu knien. Misutvia kniete sich neben uns. Ihre Augen waren unter ihren gesenkten Lidern verborgen.
»Was für eine Anmaßung!«, knurrte einer der Drachenjünger. »Benimmt sie sich immer so?«
Ich erschauerte furchtsam, als ich mich an die Baracke der Wächter erinnerte, an den Folianten, in dem der Eunuch den Tadel hinter unsere Namen notierte. Welcher Wahnsinn hatte mich gepackt, so zu reden?
»Heilige Hüter des Ranon ki Cinai«, murmelte der Eunuch, der vor den Drachenjüngern einen Kotau machte. »Sie hat sich nie zuvor so verhalten.«
»Das liegt am Gift«, meinte einer der Drachenjünger. Seine Stimme klang überzeugt und selbstgefällig ob seiner Klugheit. »Ich habe andere gesehen, die so reagierten, manchmal. Der Kanon der Medizin empfiehlt in diesen Fällen den Saft von Sellerie und Honig, gemischt mit Galangale und mit dem Blut eines Mauseohrs, als Gegenmittel gegen dieses Giftfieber. Falls diese Medizin versagt, folgt Zungenamputation, dazu dreimal täglich weißer Pfeffer, der auf den Stumpf aufgetragen wird.«
Die anderen Drachenjünger grunzten beifällig.
»Ich bereite die Tinktur sogleich zu, heilige Hüter«, murmelte der Eunuch. »Ich bezweifle, dass sie einer Zungenamputation bedarf, werde jedoch nicht zögern, sie nötigenfalls durchzuführen. Aber du machst keinen weiteren Ärger, nicht wahr, Naji?«
Seine korpulente Gestalt beugte sich über meine Schulter, und er kniff mich hart in den Rücken, über meinem Gesäß.
»Vergebt mir meine Anmaßung«, murmelte ich und warf mich zu Boden.
Erneut grunzten die Drachenjünger.
Der Eunuch verschwand. Nach einem Moment setzten die Drachenjünger ihre Anrufung fort, während sie mit feisten Lippen in den aufgequollenen Gesichtern die heiligen Strophen rezitierten. Ihre Wedel spritzten das geweihte Öl über meinen Kopf, das in der von Knöchelhieben aufgeplatzten Haut meiner Wangen brannte. Aber ich unterdrückte den Schmerz und konzentrierte mich auf meine unmittelbare Zukunft, erwartete das Brennen des Giftes.
Als würde der Geist meiner Mutter meinen unmittelbar bevorstehenden Abstieg in das Reich des Giftes erahnen, tobte er in meinem Inneren wie eine Made, die der Sonne ausgesetzt wird. Die Haut auf meinem Bauch wellte sich unter meinem Bitoo wie der einer Frau, die hochschwanger ist und deren Kind tritt und schlägt.
Erschauernd erwartete ich das Eintauchen, das Eindringen, die Verschmelzung mit dem Göttlichen.