9

Nachdem Kratt die Stalldomäne wieder verlassen hatte, rief der Drachenmeister Dono zu sich, der zwischen den anderen Schülern stand und mit brennendem Interesse die Schwielen und Splitter in seiner Handfläche zu untersuchen schien. Der Drachenmeister flüsterte ihm aufgeregt etwas zu, warf mir einen gehetzten Blick zu, stampfte dann vom Hof und verschwand in der Nacht.

Beim Abendessen würdigte Dono mich keines Blickes.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich rührte meinen Eintopf überhaupt nicht an, der ohnehin kalt war, weil Ringus nicht genug Zeit gehabt hatte, ihn vollständig zu erhitzen, so benommen war er von dem, was sich gerade zugetragen hatte.

Uns restlichen Schülern erging es nicht anders. Kalt oder warm, ich hatte jedenfalls keinen Appetit, denn Kratts vorsätzliche Provokation des Himmelswächters hatte mich bis ins Mark erschüttert, und auch meine Gedanken waren zu verworren, als dass ich mich mit so etwas Gewöhnlichem wie Essen hätte abgeben können.

Denn Kratt hatte von dem Ritus gesprochen.

Es erstaunte mich, dass er von dem geheimen Ritus wusste, bei dem eine Frau und ein Drache sich vereinten. Ebenso wie mich sein Wissen verblüffte, dass bei dieser Intimität die unverständlichen Erinnerungen des Drachen auf die Frau übertragen wurden. Drachensprache, hatte Kratt es genannt.

Ich hatte mein halbes Leben in einem Konvent verbracht, in dem eben dieser Ritus regelmäßig heimlich von einer kleinen Gruppe heiliger Frauen durchgeführt wurde, und hatte selbst erst spät in meiner Jugend von diesem Ritual erfahren.

Sicher, in Malacar hielten sich Gerüchte über die Perversionen, welche die Dschungel-Djimbi mit den Drachen begingen, aber den Fleckbäuchen wurde ohnehin ein recht umfangreiches Repertoire an recht bildhaft geschilderten Gräueltaten zugeschrieben, ohne dass dabei auf Genauigkeit Wert gelegt wurde, weshalb das meiste davon als Ammenmärchen abgetan wurde. Wie also hatte Kratt von der Richtigkeit dieses animalischen Ritus erfahren?

Ich vermutete vom Drachenmeister.

Irgendwie wusste der Komikon Re davon.

Ich will die Geheimnisse der Drachen in Erfahrung bringen, bevor der Daron Re den wahren Grund für meine Entscheidung herausfindet, diese Ausgeburt in meinen Stallungen zu behalten. Ich will Bullenschwingen schlüpfen sehen!

Das waren Kratts Worte gewesen.

Was erschreckenderweise nahelegte, dass möglicherweise auch die hochrangigen Tempelhüter von dem Ritus wussten.

Ich legte meinen Kopf zwischen meine Hände, während meine Gedanken sich überschlugen.

Was bedeutete das alles, das Verhalten des Tempels, die Drachensprache?

Da kam mir die Erleuchtung, und ich richtete mich bei dieser Offenbarung kerzengerade auf.

Ich will Bullenschwingen schlüpfen sehen!

Das meinte er wörtlich. Kratt widersetzte sich dem Tempel nur, da er etwas dabei zu gewinnen hatte, und zwar die Antwort auf die Frage, warum aus Eiern, die von gezähmten Brutdrachen gelegt wurden, niemals Bullen schlüpften.

Welch nie da gewesene Macht und welch ungeheurer Wohlstand würde Kratt in die Hände fallen, wenn er die Antwort auf dieses Rätsel erführe, wenn er eines Tages Drachenbullen selbst in Gefangenschaft heranzüchten konnte!

Die ganze malacaritische Gesellschaftsordnung drehte sich um die Heiligkeit der Bullen. Der soziale und wirtschaftliche Einfluss, über den Kratt verfügen würde, falls er seine Stallungen mit Bullen füllen konnte, wäre beispiellos. Er könnte Zuchtdienste weit billiger anbieten als jede andere Brutstätte in Malacar. Er könnte seine Bullen mit seinen Brutdrachen paaren, wann immer er wollte, seine Herde in Riesenschritten vermehren, und das ohne auf die Arena zu warten. Er könnte sogar seine eigene Arena veranstalten, mit weniger Einschränkungen und weit geringeren Gebühren, als der Tempel sie allen abverlangte.

Er konnte sich ein eigenes Imperium schaffen. Waikar Re Kratt, Kind einer blauäugigen xxeltekischen Ebani, würde selbst einen Tempel errichten.

Dafür jedoch benötigte er zunächst die Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis der Drachen, und er nahm ganz offenkundig an, dass ich, als Dirwalan Babu, die uralten Erinnerungen dieser Bestien verstehen und so das Geheimnis in Erfahrung bringen konnte, wenn er mich zu einem seiner Reittiere legte.

Zwei Füße schoben sich in mein Blickfeld. Ich sah hoch, während mir schwindelte, ich meine Lage noch immer nicht ganz fassen konnte. Dono stand vor mir.

»Steh auf, heho.« Er klang nicht unfreundlich. »Du sollst mir folgen.«

Ich fuhr mit der Zunge über meine trockenen Lippen, und mein Herz raste. Ich rührte mich nicht.

»Wohin bringst du sie?«, erkundigte sich Eidon mit seiner tiefen, sonoren Stimme.

»Befehl des Drachenmeisters!«, blaffte Dono ihn an. Mit anderen Worten: Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.

Nach kurzem Zögern nickte Eidon, einmal, brüsk, und widmete sich dann wieder seinem Darali Abin Famoo. Gewiss, er gewährte mir seine Gunst, wenngleich zurückhaltend, aber er würde keinen Finger rühren, um mich vor dem Komikon zu beschützen.

Dono hielt mir die Hand hin.

Ich starrte sie an. Hier endlich war ein Zeichen seiner Unterstützung, nach dem ich mich so gesehnt hatte. Zitternd packte ich seine Hand. Seine Finger schlossen sich warm und kraftvoll um meine. Er sah mich jedoch nicht an, als ich aufstand.

»Hier lang«, knurrte er und setzte sich in Bewegung, über den Hof. Ich holte bebend Luft und folgte ihm.

 

Wir gingen schweigend, nicht jedoch nebeneinander. Ich hielt mich einige Schritte hinter Dono.

Während ich zitternd über den Hof ging, fröstelte mich, und meine Gedanken überschlugen sich förmlich, rasten, zuckten vom Tempel zu Kratt, von Drachenzungen zu den rätselhaften Drachenliedern. Der Mahlstrom von Emotionen, der jeden auch nur halb geformten Gedanken begleitete, überwältigte mich, und meine Gedanken wurden zusehends bruchstückhafter und sprunghafter. Schließlich unterlag mein Verstand einer Art völliger Denkblockade, und ich ging wie in Trance weiter.

Wir schritten über die Stallhöfe, an den Getreidesilos vorbei, in einen Abschnitt der Domäne des Stallmeisters, den ich noch nie betreten hatte. Ein großer steinerner Stall mit einem steilen, schindelgedeckten Spitzdach und gewaltigen, geschwungenen Giebeln ragte vor mir auf. Unsere Schritte klangen gedämpft, als wir uns dem Stall näherten. Der stechende Geruch von Moschus und Leder, der Duft eines Drachenbullen, lag in der Luft, durchsetzt von dem zitronigen Aroma des Giftes.

Gewaltige Himmelswächter aus Keramik umringten das Gebäude. Jedes im Schatten liegende Antlitz wirkte verzerrter und wilder als das vorherige, und die Spitzen der gespreizten Flügel der Vögel berührten jeweils die des Nachbarn. Als wir sie passierten, schienen sich die Blicke der tönernen Augen in unsere Rücken zu bohren.

Ich hatte das Gefühl, als würde ich von Tausenden Geistern meiner Mutter beobachtet.

Ein schwacher Wind wehte um uns, und über unseren Köpfen ertönte ein unheimliches Klappern. Ich blieb stehen und sah hoch. Hunderte Miniaturskelette baumelten von den Giebeln des Stalls herunter.

Dono hielt ebenfalls an und drehte sich zu mir um.

»Klangspiele«, murmelte er. Seine Stimme schien die unheilvolle Stille zu stören, die das Klappern von oben unterlegte. »Sie sind aus den Fußknöcheln von achthundert Drachen gemacht.«

»Warum?« Das Wort war ein bloßes Krächzen.

»Das Gyin-Gyin ist in jeden Knochen eingraviert«, erklärte Dono. »Jedes Mal, wenn sie klappern, bedeutet das achthundert Rezitationen des Tempel-Gesangs.«

Des Gesangs, der die triumphale Macht des Tempels des Drachen beschwor, des Einen Drachen im Himmlischen Reich und die unseres Brut-Bullen. Nichts Böses konnte einen solchen Schutz durchdringen.

Warum hatte ich dann das Gefühl, dass dieser Ort so düster wirkte?

Dono bückte sich und hob etwas vom Boden auf. Er wog es ein paar Mal in seiner Hand und hielt es mir dann hin.

»Nimm das«, befahl er barsch.

Ich gehorchte. Ein unbehauener, staubiger Felsbrocken fiel schwer in meine ausgestreckte Hand.

»Schlag mich damit auf den Rücken und den Kopf«, sagte Dono. »Und dann lauf.«

Ich starrte ihn verständnislos an.

»Tut es, Zarq. Schlag so hart zu, dass ich zu Boden gehe. Es muss echt aussehen.«

Ich blickte auf den Stein.

Und sah wieder zu Dono hoch.

»Der Komikon wird dich dafür auspeitschen«, flüsterte ich.

Er schluckte. »Weiß ich.«

»Dono …«

»Tu es einfach!«

Er kehrte mir den Rücken zu.

Ich starrte auf seinen runden Hinterkopf, auf die Stelle, die ich treffen sollte. Blickte erneut auf den Stein in meiner Hand. Und ließ ihn zu Boden fallen.

Dono zuckte bei dem dumpfen Laut zusammen, versteifte sich kurz und drehte sich dann um.

Unglauben zeichnete sich auf Donos Gesicht ab, dann Zorn.

»Ich mache es nicht«, erklärte ich. »Ich schlage niemanden nieder.«

»Benimm dich nicht wie ein Dotterhirn, Zarq! Hast du eine Ahnung, wohin ich dich bringe? Wozu der Drachenmeister dich zwingen will?«

»Ja«, antwortete ich. »Ja, das habe ich.«

Er verarbeitete meine Antwort einen Moment, dann traten die Muskeln an seinem Hals hervor. »Du schlägst wirklich aus der Art, nicht wahr?«

»Es ist nicht so, wie du glaubst.«

»Diese beiden Novizen, die letzten Monat aus der Hütte verschwunden sind, wurden hierhergebracht, Zarq. Ich war es, der ihre Leichen wegschaffen musste, nachdem der Drachenmeister mit ihnen fertig war.«

»Wie viele andere sind noch gestorben, in all der Zeit?«

Er sah weg, konnte kaum antworten. »Zu viele.«

»Wissen die anderen Schüler davon?«

»Nur ich.« Er sah mich an und schluckte schwer. Er bückte sich und hob den Stein auf. »Also gut, ich werde mich selbst bewusstlos schlagen. Dann lauf!«

Ich legte meine Hand auf seine warmen Finger.

»Ich werde es überleben, Dono. Bring mich zu ihm.«

 

Wir bogen um eine Ecke von Res Stall. Hinter dem großen Gebäude befand sich ein weiterer Sandsteinbogen über einem Durchgang. Darunter stand der Drachenmeister. Seine O-beinige Gestalt hob sich vor einem riesigen, ovalen Feld ab, das mit Staub, Sträuchern und großen Baumstümpfen bedeckt war.

Als wir uns dem Komikon näherten, drehte er sich um und ging über das gerodete Feld.

Dono folgte ihm. Er ging vornübergebeugt, als kämpfte er gegen einen Sturm an, und würdigte mich keines Blickes.

Ich ging hinter Dono und dem Drachenmeister her, zitternd, unter dem schwarzen Meer von funkelnden Sternen, über das ovale Feld, um die Baumstümpfe herum, die, das sah ich erst jetzt, gar keine Baumstümpfe waren, sondern dicke Steinpfähle, die aus dem Boden aufragten und auf deren Spitzen starke, nach oben gekrümmte Haken montiert waren. Der Boden war von Hunderten von Drachenklauen aufgewühlt.

Ein langes, niedriges Gebäude mit einer silberfarbenen Kuppel stand auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes. Wir gingen direkt darauf zu.

Mein Herz schlug unregelmäßig, und eine unheilvolle Ahnung trieb mir eine Gänsehaut über die Arme.

Schließlich erreichten wir das Kuppelgebäude.

Eine breite Rampe mit Mauern zu beiden Seiten verlief längs des Gebäudes und mündete in einen mit einem Eisentor versperrten Tunnel, der direkt unter das Gebäude zu führen schien. Schweigend ging der Drachenmeister die Rampe hinab.

Pechschwarz war der Tunnel am Fuß der Rampe. Eiskalt wehte es aus dem Schlund. Ich blieb stehen.

Der Drachenmeister hatte den Fuß der Rampe erreicht und wartete vor dem versperrten Tunnel. Er beugte sich vor, bewegte die Arme; rostiges Metall quietschte, als er das eiserne Torgitter des Tunnels hochkurbelte.

Dono hatte die Schultern zusammengezogen, während er über das ovale Feld blickte.

Im Licht der Sterne sah ich, wie ein Muskel in seiner Wange zuckte. »Ich warte hier«, knurrte er. »Du gehst allein dort hinein, mit ihm.«

Ich erschauerte, einmal, zweimal. Ich schlang die Arme um meinen Leib, um die feuchtkalte Luft abzuhalten, die aus dem Tunnel drang.

Langsam schritt ich die Rampe hinab.

Die Wände zu beiden Seiten reichten mir bis zum Kinn; mich beschlich ein Gefühl, als hätte mir jemand Scheuklappen angelegt, als würde ich allmählich blind.

Die Rampe bestand aus einem fugenlosen, steinharten Material, und unter meinen Füßen fühlte der unebene Boden sich glitschig an, als wäre er gerade aus einem Sumpf gezogen worden. Diese schlammige Feuchtigkeit nahm zu, je näher ich dem Schlund des Tunnels kam. Moskitos summten um meinen Kopf.

Ich trat in den Gang.

Ein Schritt. Zwei Schritte. Zwei Klauen voll Schritte vorwärts; dann fühlte ich Wasser unter meinen Füßen und blieb stehen. Vorsichtig schob ich meinen Fuß weiter. Ja, es war Wasser. Der Tunnel führte ins Wasser. Welch ein Ort war dies, in Res Namen?

Ich würde nicht blindlings in unbekanntes Wasser steigen, niemals. Ich presste die Kiefer zusammen, um das Klappern meiner Zähne zu unterdrücken, und sah zum Eingang zurück. Im Licht der Sterne, das in den Tunnel fiel, erkannte ich am Rande der Rampe etwas, was ich zuvor übersehen hatte: Einen ein ganzes Stück über Rampenniveau liegenden Gang, der so schmal war, dass ein ausgewachsener Mann gerade so dort gehen konnte.

Ich scheuerte mir Knie und Ellbogen auf, als ich von der Rampe keuchend auf den Pfad kletterte.

Er war wirklich sehr schmal. Einer meiner Ellbogen fuhr kratzend an der Wand des Tunnels entlang, als ich meinen Abstieg in die Eingeweide des Kuppelgebäudes fortsetzte, während ich mit der anderen Hand leicht über die feuchtglatte Oberfläche der Rampenwand strich, um mich zu orientieren. Die Menge der Moskitos, die um meinen Kopf summten, schwoll an, je weiter ich hinabstieg.

Vor mir schimmerte etwas, schwach und unverkennbar. War es die ganze Zeit da gewesen?

Der Pfad verbreiterte sich unversehens. Ich blieb stehen und versuchte zu fassen, was ich da sah.

Ein riesiges, vollkommen rundes Becken lag vor mir, dessen Wasser ölig schwarz schimmerte, bis auf die Stellen, an denen die Laterne, die der Drachenmeister, der am Rand des Beckens stand, in den Händen hielt, einen gelblichen Schein darauf warf.

Hoch über dem Becken erhob sich die Kuppel.

Ich räusperte mich. Das Geräusch hallte wie ein Steinschlag von den Wänden der Kuppel wider.

»Was ist das hier für ein Ort?«, erkundigte ich mich.

Die Laterne in der Hand des Drachenmeisters flackerte, als hätten meine Worte sie bedroht.

»Benutz deinen Verstand!«, erwiderte er knurrend. »Und sag du mir, was das hier für ein Ort ist.«

Mein Verstand? Ich hatte keinen, war die personifizierte Verwirrung und Verunsicherung.

»Benutz dein Hirn, Mädchen!«, blaffte der Komikon, und die Worte dröhnten durch die Kuppel hoch über unseren Köpfen. »Glaubst du, dass ich in der Arena neben dir stehe und dir das Offenkundige erkläre? Lerne, deine Furcht zu überwinden, denke im Entsetzen, durch das Entsetzen hindurch, sonst wirst du dieses Jahr nicht überleben!«

Ich biss mir auf die Unterlippe.

Dann sah ich mich um, betrachtete das Becken mit dem öligen Wasser, die breite, von Mauern gesäumte Rampe, die dorthin führte, und den schmalen, höher liegenden Pfad daneben. Blickte zur Kuppel hinauf. Nichts davon erschien mir logisch.

»Sieh dir die Einzelheiten an!«, brüllte der Drachenmeister, ergrimmt von meinem Schweigen, intolerant meiner Furcht gegenüber.

Einzelheiten, Einzelheiten! Was für Einzelheiten?

Doch da: Schuppen, die im Wasser trieben. Drachenschuppen, so groß wie Handteller, mit dem gräulichen Schimmer einsetzender Verwesung.

Mein Blick zuckte zu der Rampe zurück, die zu dem Becken führte. Sie war breit genug für einen Drachen. Dann richtete sich mein Blick auf die Mauern neben der Rampe, die sich durch den ganzen Tunnel zogen: Diese Mauern reichten einem Drachen bis zur Schulter, würden verhindern, dass ein Drache herumfuhr oder angriff. Verständnis dämmerte, als ich den schmalen Pfad betrachtete, der an der gesamten Rampe entlangführte.

Auf diesem Pfad konnte ein Veteran gehen, während er einen Drachen mit einem Maulstock über die Rampe neben sich leitete.

»Die Drachen«, stieß ich heiser hervor. »Ihr lasst sie hier schwimmen.«

»Und warum, bei Re, sollten wir das tun?«, knurrte der Drachenmeister.

Ich dachte angestrengt nach, stellte mir einen Drachen im Wasser vor, wie dessen Vorderbeine das Wasser aufwühlten, während seine mächtigen Hinterbeine ebenfalls Wasser traten, damit er nicht unterging, während seine Schwingen mit Bolzen zusammengenietet waren.

Dann wusste ich es.

»Ihre Vorderbeine. Wenn sie sich bei der Ausbildung ihre Vorderbeine verletzen, dann trainiert Ihr sie in diesem Becken. Damit sie aktiv bleiben, während ihre Verletzungen heilen.«

»Genau das passiert immer wieder«, gab der Drachenmeister zu. »Drachen sind Geschöpfe der Luft und nicht dafür geschaffen, lange auf dem Boden herumzulaufen. In der Wildnis benutzen sie ihre Vorderbeine, um ihre Beute im Flug zu ergreifen oder in der Dschungelkrone herumzuklettern oder ihr Territorium zu verteidigen, indem sie ihre Kontrahenten im Luftkampf damit schlagen. Sie laufen in Freiheit nicht so viel auf dem Boden herum, wie wir es von ihnen verlangen, vergiss das nie. Drachen sind vor allem Luftgeschöpfe.«

Das Licht der Laterne verwandelte den Kopf des Drachenmeisters in eine Art Totenschädel, mit dunklen Löchern, wo eigentlich Mund und Augen sein sollten.

»Wenn ein Schüler die Vorderbeine eines Drachen verletzt, weil er ihn auf dem Boden zu brutal reitet, treibe ich ihm Bambussplitter unter die Fingernägel, kapiert? Ich hämmere sie tief hinein und lasse sie eitern, Geschwüre bilden, und ziehe sie erst heraus, wenn die Beine des Drachen geheilt sind. Vergiss das nicht, Rishi-Balg!«

Ich schüttelte mich und drückte unwillkürlich die Hand mit dem auf die Weise verletzten Finger an die Brust.

Der Drachenmeister drehte sich um und ging zu einer Tür in der kreisförmigen Mauer, die das Becken umgab.

»Hier entlang.«

 

Wir stiegen einen kurzen, dunklen Gang hinab. Als die Tür hinter mir zugeschlagen war, wich der feuchte Geruch des Übungsbeckens schlagartig dem Duft von altem Holz, Dung und Streu. Der salzige Geruch von Drachenschuppen, der ledrige von Drachenhaut, durchsetzt mit dem Aroma von Gift, überlagerte alles andere.

An den niedrigen Dachbalken hatten sich Spinnweben gesammelt, und in der Dunkelheit huschte Ungeziefer umher. Mein Atem klang laut, ging schnell. Ich hörte das gedämpfte Schnauben eines Drachen.

Der kurze Gang ebnete sich und bog abrupt ab. Eine Reihe von Stallboxen lag vor mir. Sie waren alle leer, bis auf die letzte. Dort stand eine alte Drachenkuh, die ihre Schwingen angelegt hatte.

Der Drachenmeister blieb an der ersten leeren Stallbox stehen, stellte die Laterne auf den Boden und wandte sich zu mir. Er wartete, bis ich vor ihn trat. Das tat ich, staksig, mit steifen Beinen.

Er beugte sich vor.

»So. Du wirst etwas für mich tun. Du wirst es ohne Fragen oder Klagen tun, und du wirst es tun, wenn ich dich auffordere. Verstanden?«

Ich schluckte; mir war vollkommen klar, was er von mir verlangen würde. Und ich wusste auch, dass ich kaum erwarten konnte, es zu vollziehen.

»Jawohl, Komikon«, murmelte ich. Meine Wangen brannten, und ich starrte auf den Boden.

Sein Gesicht glühte vor Vergnügen, als er den Kopf zurückwarf und gellend lachte. Die Venen in seinem Hals traten wie zwei Taue hervor.

»Zieh dich aus!«

Hitze flammte in meinen Lenden auf. Mir lief vor Erwartung eine Gänsehaut über den Körper, und meine Brustwarzen verhärteten sich.

Ich hob meine Tunika über den Kopf und ließ sie zu Boden fallen. Nackt und mit geschlossenen Augen stand ich vor dem Drachenmeister.

»Sie ist alt, diese Drachenkuh«, murmelte er. »Ist schon lange in meinen Diensten und gehört mir, mir ganz allein. Sie ist sehr erfahren, hat mit vielen widerwilligen Schülern geübt, die ich betäubt und geknebelt und gequält habe, damit sie sich ihrer Zunge überließen. Mit Schülern, die davon nichts verraten können, da sie nicht mehr am Leben sind. Du brauchst eine derartige Aufmunterung nicht, nein, Tochter des Himmelswächters? Weil du so etwas schon einmal getan hast.«

Seine Finger schlossen sich um mein Kinn. »Mach die Augen auf«, flüsterte er. Ich gehorchte.

»Ah, ja. Du kannst sie vor einem Wissenden nicht verbergen. Ich habe es an dem Tag gesehen, als wir uns beim Mombe Taro begegneten: Du hast Drachenaugen.«

Seine eigenen Augen funkelten hell, und seine Schultern zuckten. »Du bist geil darauf, stimmt’s?«, hauchte er. »Du willst das Gift.«

»Nein«, flüsterte ich, aber er grinste nur wie ein Wahnsinniger über meine Lüge.

»Du weißt, was ich von dir erwarte, wenn du der alten Drachenkuh beigewohnt hast, heho?«

Ich weigerte mich zu antworten. Der Griff um mein Kinn verstärkte sich.

»Du sagst mir, was du gehört hast, Tochter des Himmelswächters. Du wirst mir die Geheimnisse der Drachen enthüllen. Verstanden?«

Er beugte sich vor, immer weiter, und ich schloss die Augen, als seine Lippen mein Ohr berührten.

»Denn mit diesem Geheimnis gibst du mir die Macht an die Hand, die Djimbi zu befreien«, zischte er, und ich schüttelte mich fast krampfhaft, als hätte er mir einen weiteren Bambussplitter unter einen meiner Fingernägel getrieben.

 

Die Djimbi Sha. Die Fleckbäuche. Sie sind Malacars wahre Ureinwohner.

Es gibt viele Sagen über die Djimbi Sha. Obszöne Geschichten, die flüsternd hinter den geschlossenen Türen der Paarungskammern erzählt werden, während der Männerorgien, lüsterne Geschichten, die sich die Kinder zuraunen, wenn keine Erwachsenen in Hörweite sind. Geschichten von den grünbraun gefleckten Djimbi und den ungezähmten Drachen in Malacars Dschungeln.

Wegen dieser Geschichten fühlten sich alle Rassen in Malacars Geschichte berechtigt, Frauen und Kinder der Djimbi zu entführen, zu versklaven und zu vergewaltigen. Die Männer der Djimbi wurden abgeschlachtet oder kastriert und ebenfalls versklavt. Wegen ihrer heidnischen Gesänge und ihres blasphemischen Glaubens, ihrer kehligen Sprache und ihrer unzivilisierten Lebensweise im Dschungel, in die das Bestialische so fest eingewoben ist, wurden die Djimbi von jeher unterdrückt und mit einer Hingabe geschmäht, die unermüdlich scheint.

Natürlich wusste ich, dass der Komikon von Brutstätte Re Djimbi-Blut in seinen Adern hatte. Alle wussten das, selbst jene, die nicht dem jährlichen Mombe Taro beiwohnten und die fleckige Haut des Drachenmeisters gesehen hatten, die sich deutlich unter seinen zahllosen Narben abzeichnete, die er wie eine Tunika trug.

Abgesehen von dieser Färbung seiner Haut, brandmarkte das berüchtigte verrückte Verhalten des Komikon ihn ebenso als Djimbi wie seine vielgerühmte Geschicklichkeit im Umgang mit Drachen.

Noch ein halbes Jahrhundert vor meiner Geburt wäre jemandem wie ihm nicht einmal erlaubt worden, seine Hoden zu behalten, geschweige denn, die Position eines Drachenmeisters zu bekleiden. Ein solch drachenerfahrener Djimbi wäre in seiner Jugend kastriert und dann zum Stalldienst gezwungen worden, und sein Herr vom Archipel hätte statt seiner die Ernennung zum Drachenmeister erhalten.

Konventionen sind ein Fluss, der häufig seine Richtung ändert, heho!

Hier nun stand der Drachenmeister über mir, seine gefleckte Haut wurde vom Licht der Laterne betont, und ich lag da, fügte mich seinem Willen und bot mein Geschlecht einem gebundenen weiblichen Drachen dar. Ja, ich würde mich genauso verhalten wie eine Person aus diesen Geschichten, über die ich als Kind noch gekichert hatte.

Vielleicht war es auch ganz angemessen, denn auch ich war nicht frei vom dem Makel der Djimbi. Meine Mutter war von einer reinrassigen Djimbi geboren worden, die als Sklavin gefangen und dabei von einem Krieger aus dem Archipel vergewaltigt worden war. Mutter hatte mit ihrer reinblütigen Djimbi-Mutter in Brut Xxamer-Zu gelebt, hatte einen halbblütigen Djimbi von diesem Drachensitz geliebt und hatte sein Kind zur Welt gebracht, was gegen die Tempelstatuten verstieß. Vereinigungen zwischen Fleckbäuchen waren vom Tempel strengstens untersagt, um das Djimbi-Blut zu verdünnen. Deshalb wurde meine Mutter als Strafe für ihr Vergehen nach Brut Re verschachert, mit ihrem fleckbäuchigen Baby, meiner Schwester Waivia.

Oder Halbschwester, falls jemand zur Pedanterie neigt.

Obwohl ich von einem Mann von Brut Re gezeugt wurde, der keinen Tropfen Djimbi-Blut in seinen Adern hatte, floss durch meine Adern Djimbi-Blut: das von meiner Mutter. Eigenartigerweise jedoch zeigte sich das nicht auf meiner Haut.

Was jedoch keine Rolle spielte. Die Djimbi-Lust an Drachen loderte stark in mir.

»Stell deine Knie auf«, knurrte der Drachenmeister. »Und spreize deine Schenkel!«

Ich lag zitternd auf dem kalten Boden und roch das Gift der Drachenkuh, die sich in ihre knarrenden ledernen Halteriemen stemmte, um mich zu erreichen.

»Spreiz deine Beine!«, wiederholte der Drachenmeister ungeduldig, und ich gehorchte bereitwillig. Ich ließ meine Knie zur Seite sinken, während mein Mund vor Verlangen austrocknete.

Ich hatte dies schon einmal getan, im Konvent von Tieron.

Aber in Tieron hatten berauschende Djimbi-Gesänge mich mit Magie erfüllt. Die Vision, wie Hände meine Brustwarzen erregten, wie menschliche Münder Bauch und Schenkel liebkosten, schimmerte damals wie goldene Pollen in meinem Kopf. Ein solches Rauschmittel existierte jetzt nicht für mich. In Ermangelung verführerischer Djimbi-Gesänge, die mein Herz mit Leidenschaft erfüllten, wurde mein Verhalten von der Gier gesteuert, die göttlichen Erinnerungen und Erfahrungen des Drachenfeuers in mir zu hören.

Das war mehr als genug, um mich feucht vor Verlangen zu machen.

Der Drachenmeister hatte zwischen meinen Beinen gehockt und richtete sich jetzt mit einem Knurren auf. Es war kein lüsterner Laut. Für ihn war dies kein sexueller Akt. Er verfolgte nur ein Ziel: Die Geheimnisse der Drachen in Erfahrung zu bringen. Der bevorstehende Akt war für ihn ein bloßes Mittel zu diesem Zweck.

Dass er erwartete, ich würde die Gedanken der Drachen verstehen, die ich während dieses intimen Verkehrs empfing, und dass er beabsichtigte, die Geheimnisse zu nutzen, um die Macht der Djimbi zu stärken, erstaunte mich.

Er trat zu der Drachenkuh und murmelte etwas Unverständliches. Sie schnaubte und schlug mit ihren Krallen auf den Boden. Stahl klickte, als er ihre Halteriemen löste.

Sie stürmte in diesem schiefen, springenden Gang auf mich los, der allen Drachen eigentümlich ist. Ich keuchte, setzte mich auf und krabbelte so weit vor ihr zurück, wie ich konnte. Fast augenblicklich prallten meine Schultern gegen die Wand. Der Drachenmeister brüllte etwas, aber ich konnte seine Worte nicht verstehen, zu laut hämmerte mein Herz, rauschten meine Atemzüge und schnaubte die Drachenkuh, als sie mit ihrer Schnauze meine zusammengepressten Schenkel auseinanderschob. Mit einem ihrer gelblichen, geschlitzten Augen starrte sie in meine.

Die gegabelte Spitze ihrer Zunge zuckte aus ihrem Maul und strich über mein Geschlecht, die beiden Ausläufer zitterten wie schmale Halme im Wind.

»Nein«, flüsterte ich.

Dann drang ihre Zunge in mich ein.

Ein wildes Brennen breitete sich in mir aus, heiß, feucht und gewaltig. Die Wärme des Gifts durchstrahlte mich, verflüssigte meine Muskeln, salbte meine Haut. Der Geschmack von Süßholz und Limonen erblühte in meinem Mund. Mein Kopf blähte sich auf, wurde transparent.

Ich löste mich auf, sickerte in den Boden unter mir.

Dann hörte ich sie, vernahm ihre Gedanken.

Und die ihrer Mutter, ihrer Großmutter, der Bullen, die sie beide gezeugt hatten, hörte Erinnerungsfetzen aller Drachen ihres Geschlechtes, wurde eingesogen in diese ungebrochene, unzweifelhafte Kette von Gedanken-Liedern, wurde geehrt mit den rührenden Emotionen und der unbegreiflichen Weisheit dieser göttlichen Tiere.

Nur zu verstehen, was sie da sangen, das vermochte ich nicht.

Frustration breitete sich in mir aus, wie Fäulnis in einer verdorbenen Pflaume.

»Nein!«, zischte ich, wollte verstehen, wollte weiter in dieses zwingende Mysterium eintauchen, wollte das musikalische Flüstern begreifen, das sich wie Seide und gesponnenes Gold durch meinen Verstand wob.

Doch die Drachenkuh zog sich von mir zurück.

Sie blieb einen Moment über mir stehen, den Kopf zur Seite geneigt. Ihre dunklen Kinnlappen funkelten orangefarben im Licht der Laterne. Das Auge, das mich betrachtet hatte, so melancholisch, so weise, glühte blutrot und walnussbraun. Sie war wunderschön, wunderschön und unnahbar. Sie war wahrlich göttlich.

Und kehrte mit einem Schnauben in ihre Stallbox zurück.

 

»Was hast du gehört?«

Der Drachenmeister kniete neben meinem Kopf und packte meine Schulter.

»Was hast du gehört?«, wiederholte er, und ich versuchte, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren, aber mir drehte sich alles vor den Augen, alles schillerte, als wären meine Augen Schwalben in vollem Flug.

Die Menge des Giftes, das ich erhalten hatte, war zu groß.

Als ich mich dieses eine Mal in Tieron einem Drachen dargeboten hatte, war das ein Kuneus gewesen, ein impotenter Bulle, dessen Gift von Alter und mangelhafter Ernährung verdünnt war. Auch wenn die Drachenkuh, die gerade in mich eingedrungen war, selbst am Rand der Senilität zu sein schien, war sie alles andere als schlecht genährt. Das Gift von ihrer Zunge, dessen ich teilhaftig wurde, war folglich das stärkste Gift, das ich jemals empfangen hatte, und trotz meiner Gewöhnung daran, die ich in all den Jahren erworben hatte, in denen ich es regelmäßig zu mir genommen hatte, schwindelte mir von der Dosis, die ich gerade erhalten hatte.

Ich war kurz davor, den Verstand zu verlieren.

Meine Beine, Arme, ja selbst mein Kopf schienen nicht mehr zu mir zu gehören. Mein Gesicht war gefühllos, meine Brust schwer wie ein Granitquader. Ich konnte mich nicht konzentrieren, hatte Schwierigkeiten, die Worte des Drachenmeisters zu begreifen. Meine Umgebung schwankte, die mit Spinnenweben übersäten Dachbalken, die steinernen Stallboxen, der Lehmboden, alles wogte, als befänden wir uns auf einem Schiff auf See.

Ich verlor das Bewusstein.

Als ich wieder zu mir kam, drückte etwas gegen meine Lippen. Ich dachte, eine Ratte würde auf mir hocken, und versuchte, sie wegzuschlagen; nur um festzustellen, dass meine Arme mir nicht mehr gehorchten.

»Trink«, befahl der Drachenmeister. Seine Stimme klang körperlos in der Finsternis, die uns umhüllte; keine flackernde Laterne erhellte die Wände und die Stallboxen. Vielleicht hatte der Komikon sie gelöscht, oder sie war leergebrannt. Möglicherweise hatte er mich auch woanders hingebracht, tief in die Eingeweide der kalten Erde.

»Trink«, wiederholte er. Ich wurde mir meines brennenden Dursts bewusst und trank.

Kühles, klares Wasser lief über meine Lippen und rann meine Kehle hinunter. Dicht neben mir schnaubte ein Drache.

Ah. Also befanden wir uns immer noch in den Stallungen unter dem Becken, in dem Kuppelgebäude neben diesem Ausbildungsfeld.

Das Gift glühte in mir, flackerte in meinem Verstand kurz auf, in meinem Bauch und meinen Gliedern, wie Kohlestücke, löste Selbstgefälligkeit und Allmachtsgefühle aus, wie Funkenschauer.

Ich hatte genug getrunken und entspannte mich in der Umarmung des Drachenmeisters.

»Was hast du gehört?«, flüsterte er mir ins Ohr; seine Stimme klang heiser vor Erschöpfung.

»Die Drachenkuh«, murmelte ich; meine Lippen waren geschwollen. »Ich habe sie gehört. Nicht nur sie, sondern auch den Bullen, der sie gezeugt hat, und nicht nur ihn, sondern auch die Drachenkuh, die das Ei legte, aus dem er schlüpfte. Ihre Großmutter, ihren Großvater. All ihre Vorfahren.«

»Und was haben sie gesagt?« Die Stimme des Drachenmeisters klang so erstickt vor Erwartung, dass ich ihn kaum verstehen konnte.

Seine Arme, mit denen er mich hielt, waren wie Stahlbänder. Es war keine Umarmung, sondern ein Gefängnis. Was hatte ich gehört? Göttliche Mysterien. Unentzifferbare Worte. Nein, keine Worte: Undeutliche Musik, rätselhafte Melodien. Zwingendes Flüstern, wie in einer fremden Zunge. Was ich gehört hatte, waren verfeinerte Emotionen, Empfindungen, uralte Erinnerungen, die durch göttliche Leidenschaft transportiert worden waren.

Die Gefühle, die diese Erinnerungen in mir ausgelöst hatten, verblassten allmählich. Je mehr ich versuchte, sie festzuhalten, sie zu definieren, desto schneller verblichen sie. Eine tiefe Traurigkeit erfüllte mich an ihrer Stelle.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich. Meine heisere Stimme schien sich der des Drachenmeisters anzupassen, nur war meine von Trauer durchsetzt, nicht von Gier. »Ich konnte die Musik nicht verstehen.«

»Musik?«, brüllte der Drachenmeister an meinem Ohr. Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. »Ist dein Verstand vernebelt?«

»Sie sprechen in Melodien, nicht in Worten!«, schrie ich. »Und in Emotionen. Ich konnte sie nicht verstehen, schon zog sie sich aus mir heraus, und dann war alles weg!«

Der Drachenmeister schwieg, erschüttert von meinem Ausbruch. Nach einer Weile ließ er mich los und stand auf.

»Wir werden diese Erfahrung wiederholen«, knurrte er. »Wir werden sie so lange wiederholen, bis du die Musik begriffen hast und die Worte enthüllen kannst, die darin liegen. Verstanden?«

Ich antwortete nicht. Das war auch nicht nötig.

Wir wussten beide, dass ich mich fügen würde.