III
»Valerie, glaubst du, dass du mir vielleicht einen Rat geben könntest?«
»Natürlich könnte ich dir einen Rat geben, Jean. Obwohl ich ehrlich gesagt nicht recht weiß, warum alle Leute Ratschläge hören wollen. Am Ende richtet sich sowieso niemand danach.«
»Es ist wirklich eine Gewissensfrage«, sagte Jean.
»Dann bin ich die Letzte, die du fragen solltest. Ich habe nämlich im Grunde genommen kein Gewissen.«
»O, Valerie, so etwas darfst du nicht sagen!«
»Nun, es stimmt aber«, sagte Valerie. Sie drückte ihre Zigarette aus, während sie sprach. »Ich schmuggle Kleider von Paris ein und erzähle den grässlichen Frauen, die in unsere salons kommen, die unglaublichsten Lügen über ihre Gesichter, ohne rot zu werden. Ich fahre sogar im Bus, ohne zu bezahlen, wenn ich knapp bei Kasse bin. Aber was soll’s. Worum geht es denn?«
»Um das, was Nigel beim Frühstück gesagt hat. Wenn jemand etwas über jemanden weiß, glaubst du, dass er das dann sagen sollte?«
»Was für eine alberne Frage! Das kann man doch nicht so allgemein beantworten. Was ist es denn, was du sagen oder nicht sagen willst?«
»Es geht um einen Pass.«
»Einen Pass?« Valerie setzte sich überrascht auf. »Wessen Pass?«
»Nigels. Er hat einen falschen Pass.«
»Nigel?« Valerie klang ungläubig. »Das glaube ich nicht. Das klingt höchst unwahrscheinlich.«
»Und doch ist es so. Und weißt du, Valerie, diese Frage ist schon aufgetaucht – ich glaube, ich habe gehört, dass die Polizei gesagt hat, dass Celia etwas über einen Pass gesagt hätte. Nimm mal an, dass sie das herausgefunden hat, und er hat sie dann getötet!«
»Klingt sehr melodramatisch«, sagte Valerie. »Aber ganz ehrlich, ich glaube kein Wort davon. Was ist das für eine Geschichte mit dem Pass?«
»Ich habe ihn gesehen.«
»Wo hast du ihn gesehen?«
»Nun ja, es war ein absoluter Zufall«, sagte Jean. »Ich wollte etwas aus meinem Aktenkoffer nehmen und muss dabei aus Versehen an den Koffer von Nigel geraten sein. Sie standen beide auf dem Regal im Aufenthaltsraum.«
Valerie lachte ziemlich hässlich. »Das kannst du deiner Oma erzählen!«, sagte sie. »Was hast du wirklich vorgehabt? Herumschnüffeln?«
»Wo denkst du hin!« Jean klang zu Recht beleidigt. »Es gibt etwas, das ich nie tun würde, und das ist, anderer Leute private Unterlagen anschauen. Das liegt mir völlig fern. Wirklich. Es war nur so, dass ich irgendwie geistesabwesend gewesen sein muss, und als ich den Koffer geöffnet und darin herumgesucht habe…«
»Also ehrlich, Jean, das glaubt dir doch kein Mensch. Nigels Aktenkoffer ist ein ganzes Stück größer als deiner, und die Farbe ist auch völlig anders. Wenn du schon dabei bist, Sachen zuzugeben, dann musst du auch zugeben, dass du genau diese Art von Dingen tust. Also gut. Du hattest die Gelegenheit, in einigen von Nigels Sachen rumzustöbern, und du hast sie genutzt.«
Jean erhob sich. »Wenn du natürlich so unangenehm und so völlig unfair und boshaft bist, dann…«
»Komm, setz dich wieder, Kind!«, sagte Valerie. »Und raus mit der Sprache. Das interessiert mich jetzt. Ich will das wirklich wissen.«
»Nun ja, da war dieser Pass«, sagte Jean. »Er lag ganz unten in dem Koffer, und ein Name stand drauf. Stanfield oder Stanley oder so etwas, und ich habe noch gedacht, ›Wie seltsam, dass Nigel den Pass von jemand anderem mit sich herumschleppt.‹ Ich habe ihn aufgemacht, und dann war da das Foto von Nigel drin! Heißt das nun, dass er ein Doppelleben führt? Und ich frage mich jetzt, ob ich das der Polizei sagen sollte. Glaubst du, dass das meine Pflicht ist?«
Valerie lachte. »Pech gehabt, Jean«, sagte sie. »Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung, glaube ich. Pat hat mir das erzählt. Nigel hat irgendwelches Geld geerbt, und zwar unter der Bedingung, dass er seinen Namen ändert. Er hat das völlig legal gemacht, als einseitiges Rechtsgeschäft, oder wie immer das heißen mag, aber das ist alles, was dahintersteckt. Ich glaube, sein ursprünglicher Name war Stanfield oder Stanley oder so ähnlich.«
»Oh!« Jean sah sehr niedergeschlagen aus.
»Frag Pat, wenn du mir nicht glaubst«, sagte Valerie.
»Ach – nein – nun ja, wenn es so ist, wie du sagst, dann habe ich mich wohl geirrt.«
»Vielleicht hast du mehr Erfolg beim nächsten Mal!«, sagte Valerie.
»Ich weiß nicht, was du damit meinst, Valerie.«
»Du würdest nur zu gern Nigel eins auswischen, nicht wahr? Und ihn bei der Polizei anschwärzen?«
Jean erhob sich. »Du wirst es nicht glauben, Valerie«, sagte sie. »Aber ich wollte nichts als meine Pflicht tun.« Sie verließ das Zimmer.
»Verdammter Mist«, sagte Valerie.
Es klopfte an der Tür, und Sally kam.
»Was ist los, Valerie? Du siehst ein bisschen blass um die Nase aus.«
»Das liegt an dieser ekelhaften Jean. Sie ist wirklich zu schrecklich! Du glaubst nicht, dass auch nur die kleinste Chance besteht, dass sie vielleicht die arme Celia umgelegt hat, oder? Ich würde mich irre freuen, wenn ich jemals Jean im Knast sehen könnte.«
»Dem kann ich nur zustimmen«, sagte Sally. »Aber ich glaube, da wirst du kein Glück haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jean sich jemals so weit hervorwagen würde, jemanden zu ermorden.«
»Was hältst du von der Sache mit Mrs Nick?«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich nehme an, wir werden es bald erfahren.«
»Ich würde sagen: Zehn zu eins, dass sie auch kaltgemacht worden ist«, sagte Valerie.
»Aber warum? Was geht denn hier vor?«, fragte Sally.
»Ich wünschte, ich wüsste es. – Sally, hast du auch manchmal so ein komisches Gefühl, wenn du die Leute ansiehst?«
»Was meinst du damit, Val, wenn ich die Leute ansehe?«
»Nun ja, dass du da stehst und dich fragst: ›Warst du das etwa?‹ – Ich habe das Gefühl, Sally, hier ist einer am Werk, der ganz einfach verrückt ist. Wirklich verrückt. Im bösen Sinne meine ich – nicht einfach nur geistig verwirrt.«
»Das kann gut sein«, sagte Sally. Sie schüttelte sich. »Kommt mir vor, als ob jemand über mein Grab geht.«