Fünftes Kapitel
Poirots Vorschlag kam völlig unerwartet. Das Ergebnis war kein Protestgemurmel oder irgendein Kommentar, sondern eine plötzliche unbehagliche Stille. Unter Ausnutzung dieser momentanen Lähmung ging Mrs Hubbard mit Poirot zurück in ihr Zimmer, nachdem sie sich ebenso rasch wie höflich durch ein »Gute Nacht alle zusammen«, verabschiedet hatte.
Mrs Hubbard schaltete das Licht ein, schloss die Tür und bat Monsieur Poirot, im Lehnstuhl am Kamin Platz zu nehmen. Ihr gutmütiges Gesicht war von Zweifel und Sorge gezeichnet. Sie bot ihrem Gast eine Zigarette an, was Poirot mit der Erklärung dankend ablehnte, dass er seine eigene Marke bevorzuge. Er bot ihr eine von seinen an, worauf sie wie abwesend bemerkte: »Ich rauche nicht, Monsieur Poirot.«
Dann, nachdem sie sich ihm gegenüber gesetzt hatte, sagte sie nach kurzem Zögern: »Ich glaube, Sie haben Recht, Monsieur Poirot. Vielleicht sollte man wirklich die Polizei einschalten, besonders nach dieser üblen Geschichte mit der Tinte. Aber mir wäre lieber gewesen, Sie hätten das nicht gesagt – so in aller Öffentlichkeit.«
»Ach«, sagte Poirot, während er eine seiner winzigen Zigaretten anzündete und zusah, wie der Rauch aufstieg. »Sie meinen also, ich hätte das verheimlichen sollen?«
»Nun ja, ich denke, wahrscheinlich ist es anständig und fair, wenn man die Karten auf den Tisch legt – aber dennoch wäre es vielleicht besser gewesen, nichts davon zu sagen und stattdessen erst einmal unter vier Augen mit einem Polizisten zu sprechen. Was ich sagen will – wer immer diese dummen Dinge tut – nun ja, der ist jetzt gewarnt.«
»Ja, vielleicht.«
»Ganz bestimmt, würde ich sagen«, sagte Mrs Hubbard in ziemlich scharfem Ton. »Da gibt es kein Vielleicht! Selbst wenn es einer der Angestellten ist oder ein Student, der heute Abend nicht da war, das wird sich schnell herumsprechen. Das ist immer so.«
»Das ist wohl wahr. Das ist immer so.«
»Und dann ist da noch Mrs Nicoletis. Ich weiß wirklich nicht, was sie zu dieser Geschichte sagen wird. Das weiß man nie bei ihr.«
»Es wäre interessant, das herauszufinden.«
»Natürlich können wir nicht zur Polizei gehen, wenn sie nicht zustimmt – oh, wer ist das denn jetzt?«
Jemand hatte kräftig an die Tür geklopft. Das Klopfen wiederholte sich, und fast noch bevor Mrs Hubbard gereizt »Herein!« rufen konnte, öffnete sich die Tür und Colin McNabb trat ein, die Pfeife zwischen den Zähnen und mit verdrießlichem Gesicht.
Er nahm die Pfeife aus dem Mund, schloss die Tür hinter sich und sagte: »Bitte entschuldigen Sie, aber ich wollte unbedingt Monsieur Poirot sprechen.«
»Mich?« Poirot sah ihn aus unschuldigen Augen überrascht an.
»Ja, genau Sie«, sagte Colin erbittert.
Er zog sich einen ziemlich unbequemen Stuhl heran, setzte sich darauf und fixierte Hercule Poirot.
»Sie haben uns heute Abend einen netten kleinen Vortrag gehalten«, sagte er nachsichtig. »Und ich will nicht abstreiten, dass Sie über eine reichhaltige und langjährige Erfahrung verfügen. Aber, wenn ich das so direkt sagen darf, Ihre Methoden und Vorstellungen sind völlig veraltet.«
»Aber Colin«, sagte Mrs Hubbard und wurde rot. »Das ist äußerst ungehörig.«
»Das ist nicht persönlich gemeint, aber ich muss doch eines klarstellen: Verbrechen und Strafe, Monsieur Poirot – das ist alles, an was Sie denken können.«
»Das scheint mir eine natürliche Abfolge zu sein«, sagte Poirot.
»Sie folgen damit dem engen Blickwinkel des Gesetzgebers – ja, in der Tat, den altmodischsten Ansichten des Gesetzgebers. Aber heutzutage kann selbst der Gesetzgeber sich nicht länger vor der Frage verschließen, was das Verbrechen auslöst. Es sind die Ursachen, auf die es ankommt, Monsieur Poirot.«
»Aber in diesem Punkt«, rief Poirot, »kann ich Ihnen doch nur zustimmen.«
»Also müssen wir die Ursache für das finden, was sich in diesem Hause abgespielt hat – wir müssen herausfinden, warum diese Dinge getan worden sind.«
»Aber auch darin kann ich Ihnen nur zustimmen – ja, genau darauf kommt es an.«
»Denn für alles, was geschieht, gibt es Gründe, und es kann sein, dass es für die entsprechende Person sogar sehr gute Gründe gibt.«
An dieser Stelle konnte Mrs Hubbard sich nicht länger zurückhalten. »Unfug«, sagte sie scharf.
»Da sind Sie im Irrtum«, sagte Colin und drehte sich leicht in ihre Richtung. »Sie müssen den psychologischen Hintergrund in Betracht ziehen.«
»Psychologischer Unfug«, sagte Mrs Hubbard. »Ich habe kein Verständnis für solches Geschwätz.«
»Das liegt daran, dass Sie absolut nichts davon verstehen«, wies Colin sie barsch zurecht. Er wandte sich wieder Poirot zu.
»Ich interessiere mich für diese Dinge. Im Augenblick mache ich ein Doktorandenstudium in Psychiatrie und Psychologie. Da lernt man die kompliziertesten und erstaunlichsten Fälle kennen, und deshalb sage ich Ihnen, Monsieur Poirot, dass man dem Straftäter nicht einfach nur Bosheit oder absichtliche Missachtung der Gesetze unterstellen darf. Man muss sich mit den Wurzeln des Übels auseinander setzen, wenn man die jugendlichen Täter jemals bessern will. Das war zu Ihrer Zeit noch unbekannt oder man hat es nicht berücksichtigt, und ich zweifle nicht daran, dass es Ihnen noch heute schwer fällt, das zu akzeptieren…«
»Diebstahl ist Diebstahl«, rief Mrs Hubbard unbeirrt dazwischen.
Poirot bemerkte mit sanfter Stimme: »Meine Vorstellungen mögen altmodisch sein, Mr McNabb, aber ich bin durchaus bereit, Ihnen zuzuhören.«
Colin schien angenehm überrascht. »Das ist nett gesagt, Monsieur Poirot. Jetzt will ich einmal versuchen, Ihnen die ganze Angelegenheit zu erklären. Ich werde mich dabei ganz simpel ausdrücken.«
»Danke«, sagte Poirot sanft.
»Der Einfachheit halber will ich mit dem Paar Schuhe anfangen, das Sie heute Abend mitgebracht und Sally Finch zurückgegeben haben. Vielleicht erinnern Sie sich, dass nur ein Schuh gestohlen worden war. Nur einer.«
»Ich erinnere mich, dass mir das auch aufgefallen war«, sagte Poirot.
Colin McNabb beugte sich voller Eifer vor. »Ja, schon, aber Sie haben die Bedeutung dieser Tatsache nicht erkannt. Es ist eines der schönsten und klarsten Beispiele, die man nur finden kann. Wir haben es hier ganz zweifellos mit einem Fall von Aschenputtel-Komplex zu tun. Sie erinnern sich vielleicht an das Märchen von Aschenputtel.«
»Ein französisches Märchen – mais oui.«
»Aschenputtel, die unbezahlte Schwerarbeiterin, sitzt am Feuer. Ihre Schwestern gehen zum Ball, in ihren besten Abendkleidern. Eine Fee schickt Aschenputtel auch zu diesem Ball. Aber Punkt Mitternacht werden ihre feinen Kleider wieder zu Lumpen. Sie flieht in Eile und lässt einen Schuh zurück. Also haben wir es hier mit einem Hirn zu tun, das sich selbst mit Aschenputtel vergleicht (unbewusst natürlich). Wir haben es mit Frustration, Neid und einem Minderwertigkeitsgefühl zu tun. Das Mädchen stiehlt einen Schuh. Warum?«
»Ein Mädchen?«
»Selbstverständlich ein Mädchen«, sagte Colin tadelnd. »Das sollte selbst dem schlichtesten Gemüt klar sein.«
»Aber Colin«, sagte Mrs Hubbard.
»Fahren Sie bitte fort«, sagte Poirot höflich.
»Wahrscheinlich weiß es selbst nicht, warum es das tut – aber sein innerer Wunsch ist klar. Es will die Prinzessin sein, will vom Prinzen gefunden und geheiratet werden. – Ein anderer wichtiger Punkt ist natürlich, dass der Schuh einem attraktiven Mädchen gestohlen wird, das zu einem Ball geht.«
Colins Pfeife war längst ausgegangen. Er fuchtelte in steigender Erregung damit in der Luft herum.
»Und jetzt wollen wir einmal die anderen verschwundenen Gegenstände ins Auge fassen. Lauter schöne Dinge – alles Sachen, die mit weiblicher Schönheit zu tun haben. Puderdose, Lippenstift, Ohrringe, ein Armband, ein Ring – da haben wir gleich eine doppelte Bedeutung. Das Mädchen will Aufmerksamkeit erregen. Es will sogar bestraft werden – wie das ja oft der Fall ist bei jugendlichen Straftätern. Diese Dinge fallen alle nicht unter die Kategorie normaler krimineller Diebstähle. Es ist nicht der Wert der Dinge, worauf es ankommt. Es ist genauso, wie wenn wohlhabende Frauen ins Kaufhaus gehen und Dinge entwenden, die sie sich genauso gut kaufen könnten.«
»Unfug«, sagte Mrs Hubbard kämpferisch. »Einige Leute sind eben einfach unehrlich, das ist alles.«
»Und doch war ein Diamantring von einigem Wert unter den gestohlenen Gegenständen«, sagte Poirot, Mrs Hubbards Einwurf ignorierend.
»Der wurde zurückgegeben.«
»Aber ich denke, Mr McNabb, sie würden ein Stethoskop nicht als ein typisch weibliches Schmuckstück bezeichnen?«
»Das hat eine tiefere Bedeutung. Frauen, die das Gefühl haben, dass es ihnen an weiblichen Reizen fehlt, suchen häufig eine Ersatzbefriedigung in der beruflichen Karriere.«
»Und das Kochbuch?«
»Ein Symbol für Haus, Ehe und Familie.«
»Und das Borax?«
»Mein lieber Monsieur Poirot«, sagte Colin gereizt. »Niemand würde Borax stehlen. Warum sollte er?«
»Genau das habe ich mich auch gefragt. Ich muss zugeben, Mr McNabb, dass Sie eine Antwort auf alle Fragen zu haben scheinen. Würden Sie bitte die Güte haben, mir die Bedeutung der verschwundenen alten Flanellhose zu erklären – Ihrer Flanellhose, soweit ich weiß.«
Zum ersten Mal wirkte Colin verunsichert. Er wurde rot und räusperte sich. »Ich könnte das erklären – aber das wäre ziemlich kompliziert und vermutlich – nun ja, etwas peinlich.«
»Danke, dass Sie es mir ersparen, rot zu werden.« Plötzlich lehnte Poirot sich vor und tippte dem jungen Mann aufs Knie. »Und die Tinte, die der Studentin über ihre Arbeit gegossen wurde? Und der zerschnittene und zerfetzte Seidenschal? Beunruhigt Sie das gar nicht?«
Alle Selbstgefälligkeit und Überlegenheit wich plötzlich aus Colins Verhalten. »Doch«, sagte er. »Glauben Sie mir, das beunruhigt mich. Das ist ernst. Sie muss in Behandlung – sofort. Aber in medizinische Behandlung, das ist der Punkt. Das ist kein Fall für die Polizei. Sie handelt völlig zwanghaft. Wenn ich…«
Poirot unterbrach ihn. »Sie wissen also, wer es ist?«
»Nun, ich habe zumindest einen starken Verdacht.«
Poirot murmelte, als ob er zusammenfassen würde: »Ein Mädchen, nicht besonders erfolgreich bei Männern. Ein schüchternes Mädchen. Ein gefühlvolles Mädchen. Ein Mädchen, das etwas langsam denkt. Ein Mädchen, das sich frustriert und einsam fühlt. Ein Mädchen…«
Es klopfte. Poirot unterbrach sich. Das Klopfen wiederholte sich.
»Herein«, sagte Mrs Hubbard.
Die Tür öffnete sich, und Celia Austin trat ein.
»Ja, genau«, sagte Poirot und nickte mit dem Kopf. »Ganz genau. Miss Celia Austin.«
Celia sah Colin gequält an. »Ich hab nicht gewusst, dass du hier bist«, sagte sie außer Atem. »Ich bin gekommen – ich bin gekommen, um…«
Sie atmete tief ein und stürzte dann zu Mrs Hubbard.
»Bitte, bitte, holen Sie nicht die Polizei. Ich bin das gewesen. Ich habe diese Sachen genommen. Ich weiß selbst nicht warum. Keine Ahnung. Ich wollte es nicht. Es ist – es ist einfach über mich gekommen.« Sie wirbelte herum und sah Colin an. »So, jetzt weißt du, was ich für eine bin – und ich nehme an, du wirst nie wieder ein Wort mit mir sprechen. Ich weiß, ich bin ganz schrecklich…«
»Aber nein, ganz und gar nicht«, sagte Colin, die kräftige Stimme voll Wärme und Freundlichkeit. »Du bist nur ein bisschen durcheinander, das ist alles. Das ist so eine Art Krankheit, die du gehabt hast. Du hast sozusagen einige Sachen nicht ganz richtig eingeschätzt. Du kannst mir vertrauen, Celia. Ich werde dafür sorgen, dass du ganz schnell wieder gesund wirst.«
»O Colin – ist das wahr?« Celia sah ihn mit unverhohlener Bewunderung an. »Ich hab mir so schreckliche Sorgen gemacht.«
Er ergriff ihre Hand auf eine leicht onkelhafte Weise. »Nein, du brauchst dir jetzt wirklich keine Sorgen mehr zu machen.« Er stand auf, hakte Celias Arm unter und wandte sich mit fester Stimme an Mrs Hubbard.
»Ich hoffe«, sagte er, »dass das dumme Gerede von der Polizei damit vom Tisch ist. Es ist nichts gestohlen worden, was wirklich wertvoll wäre, und was entwendet wurde, wird Celia zurückgeben.«
»Ich kann das Armband und die Puderdose nicht zurückgeben«, sagte Celia ängstlich. »Ich habe sie in einen Gully gesteckt. Aber ich werde sie ersetzen.«
»Und das Stethoskop?«, fragte Poirot. »Wo haben Sie das hingesteckt?«
Celia wurde rot. »Ich habe kein Stethoskop genommen. Was sollte ich denn auch mit einem dummen alten Stethoskop?« Sie errötete noch stärker. »Und ich habe auch nicht die Tinte über Elizabeths Papiere geschüttet. Ich würde nie im Leben so etwas – so etwas Bösartiges tun.«
»Und doch haben Sie den Seidenschal von Miss Hobhouse zerschnitten, Mademoiselle.«
Das war Celia offenbar peinlich. Sie sagte mit ziemlich unsicherer Stimme: »Das war etwas anderes. Ich meine – Valerie hat das ja nichts ausgemacht.«
»Und der Rucksack?«
»Nein, den hab ich nicht zerschnitten. Da hatte wohl jemand so eine Art Wutanfall.«
Poirot nahm die Liste zur Hand, die er sich aus Mrs Hubbards kleinem Buch abgeschrieben hatte.
»Sagen Sie mir«, sagte er, »und das muss jetzt wirklich die Wahrheit sein: Für welche dieser Vorfälle sind Sie verantwortlich und für welche nicht?«
Celia warf einen Blick auf die Liste. Ihre Antwort kam prompt: »Ich weiß nichts von dem Rucksack und den Glühbirnen und dem Borax und dem Badesalz, und der Ring war nichts als ein Irrtum. Als ich erfahren habe, dass er wertvoll ist, habe ich ihn gleich zurückgegeben.«
»Aha.«
»Ich wollte ja nichts Unrechtes tun. Es war nur so…«
»Nur wie?«
Celia wirkte plötzlich müde. »Ich weiß nicht – ich weiß es wirklich nicht. Ich bin ganz durcheinander.«
Colin unterbrach sie mit gebieterischer Stimme: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie nicht weiter bedrängen würden. Ich kann Ihnen versichern, dass sich diese Dinge nicht wiederholen werden. Von jetzt an übernehme ich die Verantwortung für sie.«
»Oh, Colin, du meinst es so gut mit mir.«
»Ich möchte gern, dass du mir mehr über dich erzählst, Celia. Deine Kindheit, dein Zuhause zum Beispiel. Sind dein Vater und deine Mutter gut miteinander ausgekommen?«
»O nein, es war schrecklich zu Hause…«
»Das dachte ich mir. Und…«
An dieser Stelle unterbrach Mrs Hubbard ihn. Sie sprach mit der Stimme der Autorität. »Das reicht fürs Erste von euch beiden. Ich bin froh, Celia, dass du gekommen bist und alles zugegeben hast. Du hast natürlich eine Menge Ärger und Unruhe hervorgerufen, und dafür solltest du dich wirklich schämen. Aber ich will auch sagen, dass ich dir glaube, dass du nicht die Tinte über Elizabeths Aufzeichnungen geschüttet hast. Ich glaube nicht, dass du so etwas tun würdest. Jetzt geht beide, du und Colin. Für heute Abend habe ich von euch beiden genug.«
Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, holte Mrs Hubbard tief Luft.
»Nun«, sagte sie, »was halten Sie davon?«
Mit leichtem Augenzwinkern sagte Poirot: »Ich glaube – dass wir Hilfestellung geleistet haben bei einer Liebesgeschichte – einer modernen Liebesgeschichte.«
Mrs Hubbard widersprach heftig.
»Autres temps, autres múrs«, murmelte Poirot. »In meiner Jugend haben die jungen Männer den Mädchen Bücher über Theosophie geliehen oder mit ihnen über Maeterlincks ›Blauen Vogel‹, diskutiert. Alles war nur Gefühl und hohe Ideale. Heute sind es Verhaltensstörungen und Komplexe, die Jungen und Mädchen zusammenbringen.«
»Nichts als Unsinn«, sagte Mrs Hubbard.
Poirot widersprach. »Nein, keineswegs. Die Prinzipien, die dem zugrunde liegen, sind ja durchaus vernünftig. Aber wenn man ein eifriger junger Wissenschaftler wie Colin ist, sieht man nur Komplexe und die unglückliche Kindheit des Opfers.«
»Celias Vater ist gestorben, als sie vier Jahre alt war«, sagte Mrs Hubbard. »Und sie hatte eine ziemlich sorglose Kindheit mit einer netten, aber dummen Mutter.«
»Aha. Aber sie ist klug genug, dem jungen McNabb nichts davon zu erzählen! Sie wird ihm genau das sagen, was er hören will. Sie ist sehr verliebt.«
»Glauben Sie womöglich diesen ganzen Quatsch, Monsieur Poirot?«
»Ich glaube nicht, dass Celia einen Aschenputtel-Komplex hat oder dass sie Dinge entwendet hat, ohne zu wissen, was sie tut. Ich denke, sie hat es bewusst riskiert, einige unbedeutende Dinge zu stehlen, um so die Aufmerksam des ernsthaften Colin McNabb zu erregen – womit sie durchaus Erfolg hatte. Wenn sie das hübsche, scheue, unauffällige Mädchen geblieben wäre, hätte er sie wahrscheinlich nie angeguckt. – Ich bin der Meinung«, sagte Poirot, »dass ein Mädchen durchaus das Recht hat, zu extremen Mitteln zu greifen, um seinen Mann zu bekommen.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass sie genug Verstand hätte, um sich so etwas auszudenken«, sagte Mrs Hubbard.
Poirot antwortete nicht. Er runzelte die Stirn. Mrs Hubbard fuhr fort:
»Also war das Ganze nur ein Täuschungsmanöver! Ich muss mich wirklich entschuldigen Monsieur Poirot, dass ich Ihre Zeit für so etwas Triviales in Anspruch genommen habe. Aber immerhin: Ende gut, alles gut.«
»Nein, nein«, Poirot schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass dies schon das Ende ist. Wir haben jetzt lediglich etwas Triviales aus dem Weg geräumt, was uns den Blick versperrt hat. Aber es bleiben noch Dinge, die nicht erklärt sind. Und ich, ich habe das Gefühl, dass es sich dabei um etwas Ernstes – um etwas sehr, sehr Ernstes handelt.«
»Ach. Monsieur Poirot, glauben Sie das wirklich?«
»Ja, das ist mein Eindruck. – Ich frage mich, Madame, ob ich wohl mit Miss Patricia Lane sprechen könnte. Ich würde gern einmal den Ring sehen, der ihr gestohlen wurde.«
»Natürlich, gern, Monsieur Poirot. Ich werde nach unten gehen und sie zu Ihnen raufschicken. Ich muss sowieso noch etwas mit Len Bateson besprechen.«
Patricia Lane kam kurz danach mit einem fragenden Gesichtsausdruck ins Zimmer.
»Es tut mir Leid, Sie zu stören, Miss Lane.«
»Ach, das macht nichts. Ich war nicht beschäftigt. Mrs Hubbard sagte, Sie würden gern meinen Ring sehen.« Sie streifte ihn vom Finger und hielt ihn ihm hin. »Es ist wirklich ein ziemlich großer Diamant, aber die Fassung ist natürlich sehr altmodisch. Es war der Verlobungsring meiner Mutter.«
Poirot, der den Ring untersuchte, nickte. »Lebt sie noch, Ihre Mutter?«
»Nein. Meine Eltern sind beide tot.«
»Das ist traurig.«
»Ja. Es waren beides sehr nette Menschen, aber irgendwie haben sie mir nie so nahe gestanden, wie sie hätten sollen. Hinterher tut einem das dann Leid. Meine Mutter hat sich immer eine sorglose, hübsche Tochter gewünscht, gut gekleidet und sehr gesellig. Sie war sehr enttäuscht, als ich mich auf die Archäologie gestürzt habe.«
»Sie sind immer ein eher ernsthaftes Mädchen gewesen?«
»Ja, ich glaube schon. Das Leben ist doch so kurz, da sollte man sich auf Sachen konzentrieren, die es wirklich wert sind.«
Poirot sah sie nachdenklich an.
Er schätzte Patricia Lane auf Anfang dreißig. Mit Ausnahme einer achtlos aufgetragenen Spur von Lippenstift trug sie kein Make-up. Ihr mausfarbenes Haar hatte sie achtlos nach hinten gekämmt. Ihre recht hübschen blauen Augen blickten ernst durch eine Brille. »Keinerlei persönliche Reize, bon Dieu«, sagte Poirot gefühlvoll zu sich selbst. »Und erst ihre Kleidung! Wie sagt man hierzulande? Rückwärts durch eine Hecke gezogen? Ma foi, das trifft es genau!« So etwas gefiel ihm nicht. Auch empfand er Patricias wohlerzogene, akzentfreie Aussprache ermüdend für das Ohr. »Sie ist intelligent und gebildet, dieses Mädchen«, sagte er zu sich selbst, »aber leider wird sie von Jahr zu Jahr immer langweiliger werden! Wenn sie alt ist…« Seine Gedanken wanderten für einen flüchtigen Moment zurück zu Gräfin Vera Rossakoff. Welche exotische Fülle dort, selbst im Verfall! Diese Mädchen heutzutage…
»Aber das ist natürlich, weil ich selbst alt werde«, sagte Poirot zu sich selbst. »Und selbst dieses exzellente Mädchen mag auf irgendeinen Mann wie eine wahre Venus wirken.« Aber er bezweifelte das.
Patricia sagte: »Ich bin wirklich schockiert über das, was Bess – ich meine, Miss Johnston – passiert ist. Und das mit der grünen Tinte sieht mir so aus, als ob absichtlich jemand den Anschein erwecken will, dass Nigel das getan hat. Aber ich kann Ihnen versichern, Monsieur Poirot, Nigel würde so etwas nie tun.«
»Aha.« Poirot betrachtete sie mit mehr Interesse. Sie war rot geworden und sprach jetzt sehr engagiert.
»Nigel ist nicht leicht zu verstehen«, sagte sie ernsthaft. »Sie müssen wissen, er hatte eine sehr schwere Kindheit.«
»Mon Dieu, noch einer!«
»Bitte?«
»Nichts. Sie sagten gerade…«
»Nigel. Er ist schwierig. Er hat schon immer dazu geneigt, sich gegen jede Art von Autorität aufzulehnen. Er ist sehr gescheit – geradezu brillant. Aber ich muss zugeben, dass er manchmal ein etwas unglückliches Benehmen zeigt. Zynismus – wissen Sie. Und er ist viel zu arrogant, sich jemals zu erklären oder zu verteidigen. Selbst wenn alle hier denken würden, dass er hinter dem Streich mit der Tinte steckte, so würde er sich doch nie dazu aufraffen, einfach zu sagen, dass er es nicht war. Er würde sich sagen: ›Sollen sie doch denken, was sie wollen.‹ Und diese Haltung ist natürlich äußerst dumm.«
»So etwas könnte leicht missverstanden werden.«
»Es ist eine Art von Stolz, glaube ich. Weil er schon so oft missverstanden worden ist.«
»Sie kennen ihn schon seit vielen Jahren?«
»Nein, erst seit einem Jahr etwa. Wir haben uns auf einer Tour zu den Schlössern der Loire kennen gelernt. Er bekam eine Erkältung, die sich zu einer Lungenentzündung entwickelte, und ich habe ihn gepflegt. Er ist sehr empfindlich und nimmt absolut keine Rücksicht auf seine Gesundheit. Obwohl er so selbstbewusst wirkt, braucht er in mancherlei Hinsicht so viel Aufmerksamkeit wie ein Kind. Er braucht wirklich jemanden, der auf ihn aufpasst.«
Poirot seufzte. Plötzlich fand er die Liebe reichlich ermüdend. – Erst Celia mit dem anbetenden Blick eines Spaniels. Und jetzt Patricia, die guckte wie eine ernste Madonna. Zugegeben, es musste Liebe geben, junge Leute mussten sich treffen und einen Partner finden, aber er, Poirot, war glücklicherweise darüber hinaus. Er erhob sich.
»Würden Sie mir wohl gestatten, Mademoiselle, Ihren Ring noch ein wenig zu behalten? Sie werden ihn so bald wie möglich zurückbekommen.«
»Natürlich, wenn Sie möchten«, sagte Patricia, ziemlich überrascht.
»Das ist nett von Ihnen. Und bitte, Mademoiselle, nehmen Sie sich in Acht.«
»Ich? Wovor?«
»Wenn ich das nur wüsste«, sagte Poirot.
Er war noch immer besorgt.