Zehntes Kapitel
Miss Tomlinson war eine ernst dreinblickende junge Frau von siebenundzwanzig, mit blondem Haar, ebenmäßigen Gesichtszügen und einem verkniffenen Mund. Sie setzte sich und sagte affektiert:
»Nun, Inspektor? Was kann ich für Sie tun?«
»Ich frage mich, Miss Tomlinson, ob Sie uns helfen können, Licht in diese tragische Angelegenheit zu bringen.«
»Es ist schockierend. Einfach schockierend«, sagte Jean. »Es war schon schlimm genug, als wir alle dachten, dass Celia Selbstmord begangen hätte, aber jetzt, wo es sogar noch Mord sein soll…« Sie unterbrach sich und schüttelte traurig den Kopf.
»Wir sind ziemlich sicher, dass sie sich nicht selbst vergiftet hat«, sagte Sharpe. »Sie wissen, wo das Gift herkam?«
Jean nickte. »Soweit ich weiß, stammt es aus dem St Catherine’s Hospital, wo sie arbeitet. Aber sieht das nicht eher nach Selbstmord aus?«
»Das war zweifellos die Absicht«, sagte der Inspektor.
»Aber wer außer Celia könnte das Gift denn besorgt haben?«
»Ziemlich viele Leute«, sagte Inspektor Sharpe, »wenn sie dazu entschlossen waren. Selbst Sie, Miss Tomlinson«, fügte er hinzu, »könnten sich das Gift beschafft haben, wenn Sie gewollt hätten.«
»Bitte, Inspektor Sharpe!«, entrüstete sich Jean mit scharfer Stimme.
»Nun, immerhin sind Sie ziemlich oft in der Medikamentenausgabe gewesen, oder etwa nicht, Miss Tomlinson?«
»Ja, um Mildred Carey zu treffen. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, den Giftschrank anzurühren.«
»Aber Sie hätten es tun können?«
»Selbstverständlich hätte ich das nicht tun können!«
»Kommen Sie, Miss Tomlinson. Wenn zum Beispiel Ihre Freundin damit beschäftigt war, die Stationskörbe zu füllen und das andere Mädchen am Patientenschalter Medikamente ausgegeben hat. Oft genug sind nur zwei Angestellte im vorderen Raum. Sie könnten ganz zufällig um die Regale mit den Flaschen in der Mitte des Zimmers herum zu dem Schrank gegangen sein. Sie könnten eine Flasche aus dem Schrank genommen und in die Tasche gesteckt haben, ohne dass auch nur einer der beiden Angestellten das gesehen hätte.«
»Diese Bemerkung nehme ich Ihnen sehr übel, Inspektor Sharpe. Das – das ist – eine schändliche Beschuldigung.«
»Das ist gar keine Beschuldigung, Miss Tomlinson. Nichts dergleichen. Sie müssen mich nicht missverstehen. Aber Sie haben gesagt, dass es für Sie unmöglich gewesen sei, so etwas zu tun. Ich habe nur versucht, Ihnen zu zeigen, dass es doch möglich gewesen wäre. Ich sage keineswegs, dass Sie es getan haben. – Warum sollten Sie auch?«
»Eben. Sie scheinen nicht zu wissen, Inspektor Sharpe, dass ich mit Celia befreundet war.«
»Es gibt nicht wenige Leute, die gerade von ihren Freunden vergiftet werden. Und manchmal muss man sich in der Tat die Frage stellen, ob der Freund wirklich ein Freund ist.«
»Es gab keinerlei Unstimmigkeiten zwischen Celia und mir, nichts dergleichen. Ich habe sie sehr gern gemocht.«
»Hatten Sie irgendeinen Grund zu vermuten, dass sie für die Diebstähle in diesem Haus verantwortlich gewesen sein könnte?«
»Nein. Ich muss sagen, ich war in meinem ganzen Leben noch nie so überrascht. Ich hatte immer geglaubt, Celia hätte so hohe Prinzipien. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass sie so etwas tun könnte.«
»Nun ist es ja wohl so«, sagte Sharpe, wobei er sie sorgsam beobachtete, »dass Kleptomanen nichts für das können, was sie tun, nicht wahr?«
Jean Tomlinson kniff die Lippen noch enger zusammen. Dann sagte sie: »Ich glaube nicht, dass ich mich mit dieser Vorstellung wirklich anfreunden könnte, Inspektor Sharpe. Ich habe altmodische Ansichten, und ich denke, Diebstahl bleibt Diebstahl.«
»Sie glauben also, dass Celia Dinge gestohlen hat, weil sie sie ganz einfach haben wollte.«
»Ja natürlich.«
»Einfach unehrlich?«
»Ich fürchte ja.«
»Ach!«, sagte Inspektor Sharpe und schüttelte den Kopf. »Das ist schlimm.«
»Ja, es ist immer bestürzend, wenn man das Gefühl hat, sich in einem Menschen getäuscht zu haben.«
»Wenn ich das richtig verstanden habe, wurde die Frage aufgeworfen, ob wir eingeschaltet werden sollten – die Polizei, meine ich.«
»Ja. Das wäre meiner Meinung nach richtig gewesen.«
»Vielleicht glauben Sie, das hätte auf jeden Fall geschehen sollen?«
»Ich glaube, das wäre richtig gewesen. Wissen Sie, ich bin nicht der Ansicht, dass man solche Dinge durchgehen lassen sollte.«
»Dass sich jemand als Kleptomane bezeichnet, der in Wahrheit nichts als ein Dieb ist?«
»Ja, mehr oder weniger, ja – das will ich damit sagen.«
»Und stattdessen ging alles gut aus, und Miss Austin hörte am Ende schon die Hochzeitsglocken läuten.«
»Natürlich kann einen nichts mehr überraschen, was Colin McNabb tut«, sagte Jean Tomlinson böse. »Ich bin sicher, dass er ein Atheist ist und dazu ein äußerst spöttischer, unangenehmer junger Mann. Er ist grob zu allen. Ich bin der Ansicht, dass er ein Kommunist ist!«
»Ach!«, sagte Inspektor Sharpe. »Schlimm!« Er schüttelte den Kopf.
»Er hat Celia unterstützt, glaube ich, weil er selbst ein gestörtes Verhältnis zum Eigentum hat. Er glaubt wahrscheinlich, jeder sollte sich einfach alles nehmen, was er haben will.«
»Wie dem auch sei«, sagte Inspektor Sharpe, »Miss Austin hat sich zu ihrer Tat bekannt.«
»Nachdem sie entdeckt worden war. Ja«, sagte Jean scharf.
»Wer hat sie entdeckt?«
»Dieser Mr – wie hieß er doch gleich – Poirot, der hier gewesen ist.«
»Aber wie kommen Sie darauf, dass er sie entdeckt hat, Miss Tomlinson? Davon hat er nichts gesagt. Er hat nur den Rat gegeben, die Polizei einzuschalten.«
»Er muss ihr klar gemacht haben, dass er alles wusste. Sie hat offensichtlich gesehen, dass das Spiel aus war, und da hat sie sich beeilt, ein Geständnis abzulegen.«
»Was ist mit der Tinte auf Elizabeth Johnstons Papieren? Hat sie das auch gestanden?«
»Das weiß ich nicht. Ich nehme es an.«
»Da irren Sie sich«, sagte Sharpe. »Sie hat entschieden bestritten, irgendetwas damit zu tun zu haben.«
»Nun, das mag sein. Ich muss sagen, es schien mir auch nicht sehr wahrscheinlich.«
»Sie glauben, dass es eher Nigel Chapman gewesen sein könnte?«
»Nein, ich glaube auch nicht, dass Nigel so etwas tun würde. Ich glaube eher, dass es Mr Akibombo gewesen ist.«
»Wirklich? Warum sollte er so etwas tun?«
»Eifersucht. All diese Farbigen sind sehr eifersüchtig aufeinander und ziemlich hysterisch.«
»Sehr interessant, Miss Tomlinson. Wann haben Sie Celia Austin das letzte Mal gesehen?«
»Nach dem Abendessen am Freitag.«
»Und wer von Ihnen beiden ist zuerst Schlafen gegangen?«
»Ich.«
»Und Sie sind nicht noch in ihrem Zimmer gewesen oder haben Celia getroffen, nachdem Sie den Aufenthaltsraum verlassen haben?«
»Nein.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wer ihr das Morphium in den Kaffee getan haben könnte – wenn es überhaupt im Kaffee war?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Sie haben auch nie Morphium hier im Haus oder in einem der Zimmer herumliegen sehen?«
»Nein. Nein, ich glaube nicht.«
»Sie glauben nicht? Was wollen Sie damit sagen, Miss Tomlinson?«
»Nun, ich frage mich gerade. Da war diese dumme Wette, wissen Sie.«
»Was für eine Wette?«
»Ein – nein, zwei oder drei der Jungs haben sich gestritten…«
»Worüber haben sie sich gestritten?«
»Mord, und wie man damit durchkommen könnte. Giftmord insbesondere.«
»Wer hat an dieser Diskussion teilgenommen?«
»Nun, ich glaube, Colin und Nigel haben damit angefangen, und dann ist Len Bateson dazugekommen, und Patricia war auch dabei…«
»Versuchen Sie bitte, sich so genau wie möglich an das zu erinnern, was gesagt wurde – wie die Diskussion abgelaufen ist!«
Jean Tomlinson überlegte einen Augenblick.
»Nun, es begann, glaube ich, mit einer Diskussion über Giftmord. Über die Schwierigkeiten, sich das Gift zu beschaffen, und dass der Mörder hinterher meist entweder über den Erwerb des Giftes oder über den Zugang zum Gift stolpert. Und Nigel sagte, dass das nicht unbedingt so sei. Er sagte, er könne sich drei verschiedene Möglichkeiten vorstellen, das Gift zu beschaffen, ohne dass irgendjemand etwas davon merkte. Len Bateson sagte, das sei pure Angabe. Nigel sagte, keineswegs, und er sei gern bereit, es zu beweisen. Pat sagte, dass Nigel völlig Recht habe. Sie sagte, dass sowohl Len als auch Colin sich wahrscheinlich jederzeit Gift aus dem Krankenhaus besorgen könnten, und das Gleiche gelte auch für Celia. Und Nigel sagte, das sei überhaupt nicht das, was er meinte. Er sagte, es würde auffallen, wenn Celia etwas aus der Medikamentenausgabe mitnehmen würde. Früher oder später würde jemand danach suchen und feststellen, dass es weg wäre. Und Pat sagte, nein, nicht wenn sie eine Flasche nehmen, einen Teil herausschütten und durch etwas anderes ersetzen würde. Colin hat gelacht und gesagt, dann gäbe es früher oder später sicher ernsthafte Beschwerden von irgendwelchen Patienten. Aber Nigel sagte, dass er nicht an irgendwelche besonderen Gelegenheiten gedacht habe. Er sagte, dass selbst er, der keinen Zugang zu Gift habe, da er weder Apotheker noch Arzt sei, sich sehr wohl drei verschiedene Arten von Gift auf drei verschiedene Arten beschaffen könne. Len Bateson sagte: ›Na schön, und was sind das für Arten?‹ Und Nigel sagte: ›Das werde ich euch nicht verraten. Aber ich bin bereit, mit euch zu wetten, dass ich innerhalb drei Wochen Proben von drei tödlichen Giften hier vorlegen kann‹, und Len Bateson sagte, er würde einen Fünfer darauf wetten, dass er das nicht könne.«
»Und?«, sagte Inspektor Sharpe, als Jean geendet hatte.
»Nun ja, eine ganze Weile ist nichts weiter passiert, und dann, eines Abends im Gemeinschaftsraum, da hat Nigel gesagt: ›So, Leute, nun guckt mal her! – Ich habe mein Wort gehalten.‹ Und dann hat er drei Dinge auf den Tisch geworfen. Ein Röhrchen mit Hyoscin-Tabletten, eine Flasche mit einer Digitalis-Tinktur und ein kleines Fläschchen mit Morphiumtartrat.«
Der Inspektor sagte scharf: »Morphiumtartrat. Irgendein Etikett auf der Flasche?«
»Ja, da stand St Catherine’s Hospital drauf. Ich erinnere mich daran, weil mir das natürlich ins Auge gefallen war.«
»Und die anderen?«
»Ich weiß nicht. Jedenfalls nicht aus dem Krankenhaus, so viel ist sicher.«
»Was geschah dann?«
»Nun ja, es gab natürlich eine Menge Aufregung und Gerede, und Len Bateson sagte: ›Also hör mal, wenn du einen Mord begangen hättest, würde das hier schnell auf deine Spur führen.‹ Und Nigel sagte: ›Kein Stück. Ich bin Laie. Ich habe keine Beziehung zu irgendeiner Klinik oder einem Krankenhaus, und niemand kann mich damit in Verbindung bringen. Ich habe diese Sachen auch nicht im Laden gekauft.‹ Und Colin McNabb nahm die Pfeife aus den Zähnen und sagte: ›Nein, das hast du ganz bestimmt nicht. Kein Apotheker würde dir diese drei Sachen ohne Verschreibung durch einen Arzt verkaufen.‹ Nun ja, dann haben sie sich noch eine Weile gestritten, und schließlich hat Len gesagt, er würde zahlen. Er sagte: ›Aber nicht sofort, weil ich im Augenblick ein bisschen knapp bei Kasse bin, doch kein Zweifel, Nigel hat bewiesen, dass er Recht hat.‹ Und dann sagte er: ›Was machen wir jetzt mit den Beweismitteln?‹ Nigel hat gegrinst und gesagt: ›Wir entsorgen sie lieber, bevor damit irgendein Unglück passiert.‹ Dann haben sie das Röhrchen geleert und die Tabletten ins Feuer geschmissen, und das Pulver aus der Morphiumtartratflasche, das haben sie auch ins Feuer geschüttet. Und die Digitalis-Tinktur haben sie im Klo weggespült.«
»Und die Flaschen?«
»Ich weiß nicht, was sie mit den Flaschen gemacht haben. Ich vermute, die haben sie einfach in den Abfalleimer geworfen.«
»Aber das Gift selbst war beseitigt?«
»Ja, da bin ich ganz sicher. Ich habe es selbst gesehen.«
»Und wann war das?«
»Ungefähr, hm, vor etwas über zwei Wochen, denke ich.«
»Schön. Danke, Miss Tomlinson.«
Jean blieb noch, offensichtlich in der Hoffnung, mehr zu erfahren. »Glauben Sie, dass das wichtig sein könnte?«
»Kann schon sein. Das weiß man nie.«
Inspektor Sharpe saß einige Minuten in Gedanken versunken. Dann bat er Nigel Chapman ein zweites Mal herein.
»Ich habe gerade eine ziemlich interessante Aussage von Miss Jean Tomlinson gehört«, sagte er.
»Ach! Und gegen wen hat die liebe Jean ihr Gift verspritzt? Gegen mich?«
»Sie hat in der Tat über Gift gesprochen, und zwar im Zusammenhang mit Ihnen, Mr Chapman.«
»Ich? Gift? Was um alles in der Welt…?«
»Wollen Sie abstreiten, dass sie vor einigen Wochen mit Mr Bateson gewettet haben, dass es Ihnen gelingen würde, Gift zu erwerben, ohne dass man Ihnen etwas nachweisen könne?«
»Ach, das!« Nigel erinnerte sich plötzlich. »Ja, natürlich. Komisch, dass ich daran überhaupt nicht gedacht habe. Ich erinnere mich nicht einmal daran, dass Jean überhaupt mit dabei gewesen ist. Aber Sie glauben doch nicht, dass das irgendeine Bedeutung haben könnte, oder?«
»Nun, ich weiß nicht. Aber Sie streiten das jedenfalls nicht ab, nicht wahr?«
»Nein, natürlich nicht, wir haben über dieses Thema diskutiert. Colin und Len taten sehr überlegen und selbstherrlich, und da habe ich ihnen gesagt, dass jeder mit einem bisschen Einfallsreichtum in der Lage sei, eine geeignete Menge Gift zu besorgen – in der Tat habe ich gesagt, ich wüsste auf Anhieb drei verschiedene Methoden, und ich könne das beweisen.«
»Was Sie auch getan haben?«
»Was ich dann auch getan habe, Inspektor.«
»Und welche drei Methoden waren das?«
Nigel legte den Kopf ein wenig zur Seite. »Verlangen Sie da nicht gerade, dass ich mich selbst belaste?«, sagte er. »Ich nehme an, Sie müssen mich vorher warnen?«
»Soweit ist es noch nicht, dass ich Sie warnen müsste, Mr Chapman, aber natürlich sind Sie nicht verpflichtet, sich selbst zu belasten. In der Tat sind Sie durchaus berechtigt, die Antwort auf meine Fragen zu verweigern.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich weigern sollte.« Nigel erwog diese Möglichkeit für einen Augenblick, und ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen. Schließlich sagte er: »Natürlich war das, was ich gemacht habe, ungesetzlich. Dafür können Sie mich drankriegen, wenn Sie wollen. Andererseits ist dies ein Mordfall, und wenn es irgendeine Bedeutung im Zusammenhang mit dem Tod der armen Celia hat, dann sollte ich es Ihnen wohl besser erzählen.«
»Das wäre sicher das Vernünftigste.«
»Nun gut, ich werde reden.«
»Welche drei Methoden waren das?«
»Also« – Nigel lehnte sich in seinem Stuhl zurück – »die Öffentlichkeit wird immer wieder in den Zeitungen gewarnt, wenn Ärzten gefährliche Arzneimittel aus dem Auto abhanden kommen.«
»Ja.«
»Nun, ich dachte mir, eine sehr simple Methode wäre, aufs Land zu fahren, einem Landarzt auf seiner Besuchsrunde zu folgen und, wenn sich die Gelegenheit ergäbe, einfach das Auto aufzumachen, in seinen Arztkoffer zu schauen und herauszunehmen, was ich haben wollte. Denn sie müssen wissen, dass Landärzte bei ihren Hausbesuchen den Koffer nicht immer mit nach drinnen nehmen. Es kommt darauf an, welche Art von Patienten sie gerade besuchen.«
»Und?«
»Und das ist alles. Das ist jedenfalls alles, was Methode Nummer eins angeht. Ich musste drei Ärzten hinterherfahren, bevor ich einen gefunden hatte, der sorglos genug war. Sobald ich den hatte, war alles sehr einfach. Das Auto stand vor einem Bauernhof in einer ziemlich einsamen Gegend. Ich machte die Tür auf, schaute in den Koffer, nahm ein Röhrchen Hyoscin-Hydrobromid, und das war’s.«
»So. Und die Methode Nummer zwei?«
»Dafür war es notwendig, Celia einzuspannen. Sie hatte nicht den geringsten Verdacht. Ich habe ja gesagt, dass sie ein dummes Mädchen war; sie hatte keine Ahnung, was ich vorhatte. Ich habe einfach ein bisschen lateinisches Kauderwelsch gesprochen, wie die Ärzte es bei Rezepten benutzen, und dann habe ich sie gefragt, ob sie mir ein Rezept für eine Digitalis-Tinktur aufschreiben könnte, in der Art, wie Ärzte das tun. Das hat sie auch ohne Verdacht zu schöpfen gemacht. Danach musste ich nur noch im Branchenbuch einen Arzt finden, der in einer entfernteren Ecke von London wohnte, und seine Initialen oder etwas unleserliche Unterschrift hinzufügen. Damit bin ich dann zu einer Apotheke in der Innenstadt gegangen, wo ich davon ausgehen konnte, dass man die Unterschrift dieses Doktors nicht kennen würde, und habe das Mittel ganz ohne Schwierigkeiten bekommen. Digitalis wird Herzpatienten in großen Mengen verschrieben, und ich hatte Celia die Rezeptur auf einen Hotel-Briefbogen schreiben lassen.«
»Sehr raffiniert«, sagte Inspektor Sharpe trocken.
»Ich belaste mich hier wirklich selbst! Ich höre es an Ihrer Stimme.«
»Und die dritte Methode?«
Nigel antwortete nicht sofort. Dann sagte er: »Nun mal ehrlich: Auf was genau lasse ich mich hier eigentlich ein?«
»Das Entwenden von Arzneimitteln aus einem unverschlossenen Auto ist leichter Diebstahl«, sagte Inspektor Sharpe. »Das Fälschen eines Rezeptes…«
Nigel unterbrach ihn. »Nicht wirklich gefälscht, oder? Ich meine, schließlich habe ich ja kein Geld dafür bekommen, und es war ja auch von keinem Rezeptblock und auch nicht wirklich die Nachahmung der Unterschrift irgendeines Arztes. Ich meine, wenn ich eine Rezeptur aufschreibe und am Ende ›H R James‹ drunter schreibe, dann kann man doch nicht sagen, dass ich damit die Unterschrift irgendeines bestimmten Dr. James fälsche, oder?« Und mit schiefem Lächeln fuhr er fort: »Sehen Sie, was ich meine? Ich halte hier meinen Kopf hin. Wenn Sie mir übel wollen – nun ja – dann sitze ich offensichtlich in der Tinte. Andererseits, wenn…«
»Ja, Mr Chapman, andererseits?«
Nigel sagte mit plötzlicher Leidenschaft: »Ich mag Mord nicht. Es ist eine bestialische, schreckliche Sache. Celia, der arme, kleine Teufel, hatte es nicht verdient, ermordet zu werden. Ich möchte helfen. Aber hilft es wirklich? Das sehe ich noch nicht. Wenn ich Ihnen meine Sünden beichte, meine ich.«
»Die Polizei hat einiges an Spielraum, Mr Chapman. Sie kann gewisse Vorfälle als den leichtsinnigen Scherz eines unverantwortlichen Gemüts auffassen. Ich akzeptiere Ihre Darstellung, dass Sie bei der Aufklärung dieses Mordfalles mithelfen wollen. Nun fahren Sie bitte fort und erzählen Sie mir, welches die dritte Methode war.«
»Ja«, sagte Nigel, »jetzt kommen wir ziemlich nahe an den Kern der Geschichte. Diese Methode war etwas riskanter als die anderen beiden, aber zugleich hat sie auch viel mehr Spaß gemacht. Wissen Sie, ich habe Celia das eine oder andere Mal in der Medikamentenausgabe besucht. Ich wusste, was wo aufbewahrt wurde…«
»Also waren Sie in der Lage, die Flasche aus dem Schrank zu stehlen?«
»Nein, nein, ganz so einfach war es nicht. Das wäre meiner Ansicht nach nicht fair gewesen. Und, nebenbei bemerkt, wenn es ein echter Mord gewesen wäre – ich meine, wenn ich das Gift gestohlen hätte, um damit jemanden umzubringen –, würde sich wahrscheinlich jemand daran erinnern, dass ich da gewesen bin. In Wirklichkeit war ich seit mehr als sechs Monaten nicht mehr bei Celia in der Medikamentenausgabe gewesen. Allerdings wusste ich, dass Celia immer um viertel nach elf in den hinteren Raum ging, um eine Tasse Kaffee zu trinken und einen Keks zu essen. Die Mädchen haben sich abgewechselt, immer zu zweit. Und da war ein neues Mädchen, das gerade erst angefangen hatte und mich noch nicht vom Sehen kannte. Also habe ich Folgendes gemacht: Ich bin in die Medikamentenausgabe geschlendert, im weißen Kittel, ein Stethoskop um den Hals. Nur das neue Mädchen war da, und sie war am Schalter für ambulante Patienten beschäftigt. Ich bin hineingeschlendert, zum Giftschrank gegangen, habe eine Flasche herausgenommen, bin damit um das Ende der Zwischenwand herumgegangen und habe das Mädchen gefragt: ›In welcher Dosierung haben wir Adrenalin vorrätig?‹ Sie hat mir geantwortet, und dann habe ich sie gefragt, ob sie mir zwei Veganin geben könnte, ich hätte einen fürchterlichen Kater. Die habe ich gleich geschluckt und bin dann wieder nach draußen gegangen. Sie hatte nicht den leisesten Verdacht, dass ich etwa kein Arzt oder Medizinstudent sein könnte. Es war kinderleicht. Celia hat nie erfahren, dass ich überhaupt da gewesen bin.«
»Ein Stethoskop?«, sagte Inspektor Sharpe neugierig. »Wo hatten Sie das Stethoskop her?«
Nigel grinste plötzlich. »Es war das von Len Bateson«, sagte er. »Ich habe es geklaut.«
»Hier aus dem Haus?«
»Ja.«
»Damit ist also der Diebstahl des Stethoskops geklärt. Das war nicht Celias Werk.«
»Guter Gott, nein! Niemand kann im Ernst geglaubt haben, dass ein Kleptomane ein Stethoskop klaut, oder?«
»Was haben Sie hinterher damit gemacht?«
»Nun, ich musste es in die Pfandleihe geben«, rechtfertigte sich Nigel.
»War das nicht ein bisschen hart Bateson gegenüber?«
»Sehr hart. Aber ohne ihn über meine Methoden aufzuklären, was ich ja nicht vorhatte, konnte ich ihm nichts davon erzählen. – Jedenfalls«, fügte Nigel fröhlich hinzu, »habe ich ihn eine ganze Weile später abends zu einer tollen Sauftour eingeladen.«
»Sie sind ein ziemlich verantwortungsloser junger Mann«, sagte Inspektor Sharpe.
»Sie hätten die Gesichter sehen sollen«, sagte Nigel, mit breiter werdendem Grinsen, »als ich diese drei tödlichen Gifte auf den Tisch geworfen und ihnen erzählt habe, dass ich jedes einzelne geklaut hatte, ohne dass jemand wissen konnte, dass ich es gewesen war.«
»Was Sie damit sagen wollen«, sagte der Inspektor, »ist, dass Sie drei Mittel zur Verfügung hatten, um jemanden damit zu vergiften, und dass in keinem der Fälle die Spur zu Ihnen geführt hätte.«
Nigel nickte. »Mehr oder weniger genau das«, sagte er. »Und unter den gegenwärtigen Umständen ist es natürlich nicht besonders angenehm, so was zuzugeben. Aber der entscheidende Punkt ist, dass all diese Gifte vor mindestens zwei Wochen, wenn nicht mehr, vernichtet worden sind.«
»Das glauben Sie, Mr Chapman, aber in Wahrheit mag das nicht so sein.«
Nigel starrte ihn an. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Wie lange hatten Sie diese Dinge in Ihrem Besitz?«
Nigel überlegte. »Nun, das Röhrchen mit dem Hyoscin etwa zehn Tage, würde ich schätzen. Das Morphiumtartrat etwa vier Tage. Und die Digitalis-Tinktur habe ich erst an dem Nachmittag bekommen.«
»Und wo haben Sie diese Dinge aufbewahrt – das Hyoscin, das Hydrobromid und das Morphiumtartrat?«
»In der hintersten Ecke einer Schublade meiner Kommode, versteckt unter den Socken.«
»Hat irgendjemand gewusst, dass das Gift da war?«
»Nein. Nein, da bin ich ganz sicher.«
Da war allerdings ein leichtes Zögern in seiner Stimme, das Inspektor Sharpe wohl bemerkte. Im Moment wollte er aber diesen Punkt nicht vertiefen.
»Haben Sie irgendjemandem erzählt, was Sie getan haben? Die Methoden? Wie man an diese Dinge herankommen konnte?«
»Nein. Zumindest – nein, habe ich nicht.«
»Sie sagten ›zumindest‹, Mr Chapman.«
»Nein, habe ich nicht. Um ehrlich zu sein, ich war nahe dran, es Pat zu erzählen, aber dann dachte ich, dass sie das Ganze missbilligen würde. Sie ist sehr penibel, und so habe ich sie mit vagen Andeutungen abgespeist.«
»Sie haben ihr nichts von dem Auto des Arztes gesagt oder von dem Rezept oder von dem Morphium aus dem Krankenhaus?«
»Nun ja, ich habe ihr hinterher die Sache mit dem Digitalis erzählt, dass ich mir selbst ein Rezept ausgestellt, die Flasche vom Apotheker geholt und mich in der Klinik als Doktor verkleidet hatte. Leider muss ich zugeben, dass Pat das gar nicht lustig fand. Da habe ich ihr lieber gar nicht erst erzählt, dass ich auch Sachen aus dem Auto geklaut hatte. Dann wäre sie wohl explodiert.«
»Haben Sie ihr gesagt, dass Sie das Zeug nach der gewonnenen Wette vernichten würden?«
»Ja. Sie war sehr besorgt und ganz aufgeregt deswegen. Bestand darauf, dass ich die Sachen zurückbringen sollte und so.«
»Auf diesen Gedanken sind Sie selbst nie gekommen?«
»Guter Gott, nein! Das wäre tödlich gewesen. Es hätte Ärger ohne Ende bedeutet. Nein, wir drei haben einfach das Zeug ins Feuer und ins Klo geschüttet, und damit war der Fall erledigt. Kein Schaden angerichtet.«
»Das sagen Sie, Mr Chapman, aber es ist sehr wohl möglich, dass Schaden angerichtet worden ist.«
»Wie soll das möglich sein, wenn das Zeug vernichtet wurde?«
»Sind Sie jemals auf den Gedanken gekommen, Mr Chapman, dass jemand beobachtet haben könnte, wo Sie das Zeug versteckt hatten? Oder dass jemand diese Dinge gefunden, das Morphium aus der Flasche genommen und durch etwas anderes ersetzt haben könnte?«
»Guter Gott, nein!« Nigel starrte ihn an. »Darauf bin ich in der Tat nie gekommen. Und ich glaube es auch nicht.«
»Aber es wäre eine Möglichkeit, Mr Chapman.«
»Aber niemand kann davon gewusst haben.«
»Ich würde meinen«, bemerkte der Inspektor trocken, »dass an einem Ort wie diesem eine Menge mehr Dinge allgemein bekannt sind, als Sie jemals für möglich halten würden.«
»Schnüffelei, meinen Sie?«
»Ja.«
»Vielleicht haben Sie Recht.«
»Welche Studenten könnten irgendwann in Ihrem Zimmer gewesen sein?«
»Nun ja, ich teile das Zimmer mit Len Bateson. Die meisten anderen Studenten sind ab und zu bei uns im Zimmer. Die Mädchen natürlich nicht. Die sollen sich ja nicht in den Schlafräumen auf unserer Seite des Hauses aufhalten. Schicklichkeit. Keusches Leben.«
»Sie sollen nicht, aber sie könnten natürlich trotzdem kommen, nehme ich an?«
»Jeder könnte«, sagte Nigel. »Tagsüber jedenfalls. An den Nachmittagen ist ja niemand da.«
»Kommt Miss Lane denn manchmal zu Ihnen ins Zimmer?«
»Ich hoffe, Sie meinen das nicht so, wie es klingt, Inspektor. Pat kommt manchmal in mein Zimmer, um mir Socken zurückzubringen, die sie für mich gestopft hat. Das ist alles.«
Indem er sich vorbeugte, sagte Inspektor Sharpe: »Ihnen ist vermutlich klar, Mr Chapman, dass derjenige, der am leichtesten das Gift aus der Flasche gegen etwas anderes ausgetauscht haben könnte, Sie selbst sind?«
Nigel blickte ihn an, sein Gesicht wirkte plötzlich hart und eingefallen.
»Ja«, sagte er. »Das ist mir auch vor etwa anderthalb Minuten klar geworden. Genau das könnte ich getan haben. Aber ich hatte keinen Grund, das Mädchen aus dem Weg zu räumen, Inspektor, und ich habe es auch nicht getan. Allerdings – und dessen bin ich mir wohl bewusst – haben Sie nichts als mein Wort dafür.«