Neuntes Kapitel
Inspektor Sharpe seufzte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rieb sich mit dem Taschentuch die Stirn. Er hatte jetzt ein ungehaltenes und tränenreiches französisches Mädchen, einen hochnäsigen und unkooperativen jungen Franzosen, einen sturen und verdächtigen Holländer sowie einen redegewandten und aggressiven Ägypter verhört. Außerdem hatte er einige knappe Sätze mit zwei nervösen jungen türkischen Studenten gewechselt, die nicht recht verstanden, was er eigentlich wollte, und dasselbe galt für einen charmanten jungen Iraker. Und er war ziemlich sicher, dass keiner von ihnen irgendetwas mit dem Tod von Celia Austin zu tun hatte oder ihm auch nur irgendwie weiterhelfen konnte. Er hatte sie alle nacheinander mit ein paar beruhigenden Worten entlassen und schickte sich gerade an, dasselbe mit Mr Akibombo zu tun.
Der junge Westafrikaner sah ihn lächelnd aus traurigen Kinderaugen an. Seine weißen Zähne blitzten. »Ich gern helfen – ja – bitte«, sagte er. »Sie immer nett zu mir, die Miss Celia. Hat mir Schachtel ›Edinburgh Rock‹ gegeben – sehr schöne Pralinen, die ich nicht gekannt. Sehr traurig, dass jemand sie getötet. Kann vielleicht gewesen sein Blutrache? Oder vielleicht Väter und Onkel gekommen, sie zu töten, weil falsche Geschichten über sie gehört, dass sie hat schlimme Sachen gemacht?«
Inspektor Sharpe versicherte ihm, dass nichts davon auch nur im Entferntesten denkbar wäre. Der junge Mann schüttelte traurig den Kopf.
»Dann nicht wissen, warum passiert«, sagte er. »Warum irgendjemand ihr Böses wollen. Aber Sie mir geben ein Stück von ihrem Haar und Fingernägel. Dann ich versuchen mit alte Methode. Nicht wissenschaftlich, nicht modern, aber weit verbreitet, da, wo ich her komme.«
»Vielen Dank, Mr Akibombo, aber ich glaube nicht, dass das nötig ist. Wir – äh – behandeln solche Fälle hier auf andere Weise.«
»Ja, Sir, das ich verstehe schon. Nicht modern. Nicht Atomzeitalter. Machen moderne Polizisten bei uns zu Hause auch nicht mehr – nur alte Männer aus Busch. Ich bin sicher, neue Methoden weit überlegen und führen zu vollem Erfolg.« Mr Akibombo verneigte sich höflich und entfernte sich.
Inspektor Sharpe murmelte vor sich hin: »Ich hoffe nur, dass sie wirklich zu vollem Erfolg führen – und sei es nur, um das Prestige zu wahren.«
Sein nächstes Verhör war mit Nigel Chapman, der sofort versuchte, die Gesprächsführung selbst in die Hand zu nehmen.
»Das ist wirklich eine völlig außergewöhnliche Angelegenheit, nicht wahr? Ich hatte ja gleich gedacht, dass Sie auf der falschen Spur waren, als Sie darauf bestanden, dass es Selbstmord gewesen sei. Ich muss schon sagen, irgendwie freut es mich, dass die ganze Beweisführung daran hängt, dass Celia ihren Füller mit meiner grünen Tinte gefüllt hat. Das war etwas, was der Mörder unmöglich voraussehen konnte. – Ich nehme an, Sie haben sich bereits Gedanken darüber gemacht, was das mögliche Motiv für diesen Mord sein könnte?«
»Ich stelle hier die Fragen, Mr Chapman«, sagte Inspektor Sharpe trocken.
»O natürlich, selbstverständlich«, sagte Nigel und wedelte unbekümmert mit der Hand. »Ich hatte nur versucht, das Ganze etwas abzukürzen, das war alles. Aber ich vermute, wir müssen durch den ganzen Formalismus durch, wie immer. Also Name: Nigel Chapman. Alter: fünfundzwanzig. Geboren in Nagasaki, glaube ich – absurder Ort. Ich habe keine Ahnung, was mein Vater und meine Mutter da gemacht haben. Weltreise vermutlich. Wie auch immer, damit bin ich jedenfalls nicht gleich automatisch ein Japaner, soweit ich weiß. Ich mache jetzt mein Diplom an der Universität London in Geschichte: Bronzezeit und Mittelalter. Wollen Sie sonst noch was wissen?«
»Wie lautet ihre Privatanschrift, Mr Chapman.«
»Keine Privatanschrift, Sir. Mein Vater und ich, wir haben uns zerstritten, und seine Adresse ist daher nicht länger die meine. Hickory Road 26 also und Coutts Bank, Zweigstelle Leadenhall Street, das kommt immer an, wie man so schön sagt, wenn man Reisebekanntschaften seine Adresse gibt, von denen man hofft, dass man sie nie wieder trifft.«
Inspektor Sharpe zeigte keine Reaktion auf Nigels lässige Unverfrorenheit. Er hatte schon andere Nigels getroffen in seinem Leben und nahm insgeheim an, dass Nigels Frechheiten nur seine natürliche Nervosität überdeckten, in Zusammenhang mit einem Mord befragt zu werden.
»Wie gut haben Sie Celia Austin gekannt?«, fragte er.
»Das ist wirklich eine schwierige Frage. Ich habe sie praktisch jeden Tag gesehen, und ich hatte ein ganz gutes Verhältnis zu ihr, aber wirklich gekannt habe ich sie überhaupt nicht. Das liegt natürlich daran, dass ich mich nicht im Geringsten für sie interessiert habe, und ich glaube, dass sie mich auch gar nicht mochte.«
»Gab es einen bestimmten Grund dafür, dass sie Sie nicht mochte?«
»Nun, ich glaube, sie hat meine Art von Humor nicht sonderlich geschätzt. Ich bin natürlich nicht solch ein grüblerischer Rüpel wie Colin McNabb. Diese Art von Rüpelhaftigkeit ist offenbar die perfekte Technik, um Frauen anzuziehen.«
»Wann haben Sie Celia Austin zuletzt gesehen?«
»Gestern beim Abendessen. Wir haben ihr alle großzügig die Hand gereicht, müssen Sie wissen. Colin ist aufgestanden und hat herumgedruckst und gestottert und schließlich schüchtern und verschämt zugegeben, dass sie verlobt seien. Dann haben wir ihn alle ein bisschen angepflaumt, und das war’s dann.«
»War das beim Abendessen oder hinterher im Gemeinschaftsraum?«
»Beim Abendessen. Hinterher, als wir in den Gemeinschaftsraum gingen, ist Colin irgendwohin abgehauen.«
»Und der Rest von Ihnen hat im Gemeinschaftsraum Kaffee getrunken?«
»Wenn Sie die Flüssigkeit, die da serviert wird, als Kaffee bezeichnen wollen – ja«, sagte Nigel.
»Hat Celia Austin Kaffee getrunken?«
»Das nehme ich an, ja. Ich meine, ich habe nicht direkt gesehen, dass sie Kaffee getrunken hat, aber sie muss ihn wohl getrunken haben.«
»Sie haben ihr nicht zum Beispiel selbst den Kaffee gegeben?«
»Was für schreckliche Suggestivfragen! Wenn Sie das sagen und mich dabei so ansehen, dann bin ich ganz sicher, dass ich Celia den Kaffee gegeben habe, nachdem ich vorher Strychnin hineingetan habe, oder was immer es gewesen sein mag. Ein bestechender Vorschlag, nehme ich an, aber, um bei der Wahrheit zu bleiben, Mr Sharpe, ich bin gar nicht in ihre Nähe gekommen – und, um ehrlich zu sein, ich habe überhaupt nicht bemerkt, ob sie beim Kaffee dabei war oder nicht. Und ich versichere Ihnen, ob Sie es nun glauben oder nicht, ich hatte zu keiner Zeit irgendwelche Gefühle für Celia, und die Bekanntgabe ihrer Verlobung mit Colin McNabb hat in mir folglich auch nicht den Drang zu mörderischer Rache ausgelöst.«
»Ich habe nichts Derartiges unterstellt, Mr Chapman«, sagte Sharpe milde. »Und wenn ich mich nicht sehr irre, hat dieser Fall auch überhaupt nichts mit Liebe zu tun, sondern es ist einfach so, dass jemand Celia Austin aus dem Weg haben wollte. Warum?«
»Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, Inspektor. Das verblüfft mich wirklich, weil Celia eine so harmlose Sorte Mädchen war, wenn Sie wissen, was ich meine. Schwer von Begriff, ein bisschen langweilig; durch und durch nett, und, wenn ich das so sagen darf, überhaupt nicht der Typ, um sich ermorden zu lassen.«
»Waren Sie überrascht, als sie hörten, dass Celia Austin für die diversen Diebstähle und sonstigen Vorfälle in diesem Haus verantwortlich war?«
»Guter Mann, das hat mich richtig umgehauen! Völlig untypisch, das war’s, was ich gedacht habe.«
»Sie haben ihr nicht vielleicht vorgeschlagen, diese Dinge zu tun?«
Nigels Überraschung schien sehr echt. »Ich? Ihr das vorgeschlagen? Warum sollte ich?«
»Ja, das wäre in der Tat die Frage, oder? Manche Leute haben eine etwas seltsame Art von Humor.«
»Nein, wirklich. Ich mag ja blöd sein, aber ich kann das kein bisschen komisch finden, all diese Diebstähle, die da passiert sind.«
»Das ist also nicht Ihre Art von Scherz?«
»Ich hatte nie das Gefühl, dass das irgendwie komisch sein sollte. Ich denke doch, Inspektor, dass es da irgendein psychologisches Problem gegeben hat, oder?«
»Sie glauben also ernsthaft, dass Celia Austin eine Kleptomanin war?«
»Aber kann es denn eine andere Erklärung geben, Inspektor?«
»Vielleicht haben Sie etwas weniger Erfahrung mit Kleptomanie als ich, Mr Chapman.«
»Nun gut, ich kann mir jedenfalls keine andere Erklärung vorstellen.«
»Sie halten es also nicht für möglich, dass irgendjemand Miss Austin das Ganze suggeriert hat als ein Mittel, um – sagen wir mal – Mr McNabbs Aufmerksamkeit zu erregen?«
Nigels Augen glänzten voll bewundernder Bosheit. »Das ist allerdings eine äußerst reizvolle Erklärung, Inspektor«, sagte er. »Wissen Sie, wenn ich darüber nachdenke, könnte ich es mir durchaus vorstellen, und natürlich würde Colin das restlos geschluckt haben.« Nigel kostete diese Vorstellung genüsslich ein paar Sekunden lang aus. Doch dann schüttelte er betrübt den Kopf.
»Aber Celia hätte da nicht mitgespielt«, sagte er. »Sie war hin und weg von ihm.«
»Und Sie haben keine eigene Theorie, Mr Chapman, was die Dinge angeht, die sich in diesem Haus abgespielt haben? Zum Beispiel darüber, warum jemand Tinte über Miss Johnstons Papiere gegossen haben könnte?«
»Wenn Sie glauben, dass ich das war, Inspektor Sharpe, dann liegen Sie völlig falsch. Natürlich sieht es so aus, wegen der grünen Tinte, aber wenn Sie mich fragen, so war das nichts als Boshaftigkeit.«
»Was war Boshaftigkeit?«
»Meine Tinte zu nehmen. Jemand hat mit Absicht meine Tinte genommen, damit es so aussieht, als ob ich es gewesen sei. Es gibt hier eine ganze Menge Boshaftigkeit, Inspektor.«
Der Inspektor sah ihn scharf an. »Was genau meinen Sie damit, dass es hier eine Menge Boshaftigkeit gibt?«
Aber Nigel zog sich in sein Schneckenhaus zurück und wurde unverbindlich. »Ich habe an nichts Bestimmtes gedacht – nur, wenn so viele Leute zusammenwohnen, dann können sie manchmal ziemlich kleinlich werden.«
Die nächste Person auf Inspektor Sharpes Liste war Leonard Bateson. Len Bateson fühlte sich noch weniger wohl in seiner Haut als Nigel, nur dass es sich bei ihm anders äußerte. Er war misstrauisch und widerspenstig.
»Na gut!«, platzte er heraus, nachdem die ersten Routinefragen abgeschlossen waren. »Ich habe Celia den Kaffee eingeschenkt, und ich habe ihn ihr gebracht. Na und?«
»Sie haben ihr nach dem Abendessen den Kaffee gegeben – ist es das, was Sie sagen wollen, Mr Bateson?«
»Ja. Zumindest habe ich ihre Tasse mit Kaffee gefüllt und sie auf das Tischchen neben ihr gestellt. Und ob Sie es glauben oder nicht, zu dem Zeitpunkt war da kein Morphium drin.«
»Haben Sie gesehen, wie sie ihn getrunken hat?«
»Nein, ich habe nicht wirklich gesehen, wie sie ihn getrunken hat. Wir sind alle herumgelaufen, und ich wurde gleich danach in eine Diskussion verwickelt. Ich habe nicht bemerkt, wie sie ihn getrunken hat. Irgendwelche Leute haben davor gestanden.«
»Aha. Sie sagen also, dass im Prinzip jeder der Anwesenden ihr das Morphium in die Kaffeetasse geschüttet haben könnte?«
»Versuchen Sie mal, irgendjemandem was in die Tasse zu schütten! Jeder würde das mitbekommen.«
»Nicht unbedingt«, sagte Sharpe.
Len platzte in aggressivem Ton heraus: »Warum, zum Teufel, glauben Sie, hätte ich denn das Kind vergiften sollen? Ich hatte nichts gegen sie.«
»Ich habe ja gar nicht gesagt, dass Sie sie vergiftet haben.«
»Sie hat das Zeug selbst genommen. Sie muss es selbst genommen haben. Eine andere Erklärung gibt es nicht.«
»Das könnte man vielleicht glauben, wenn da nicht dieser gefälschte Abschiedsbrief wäre.«
»Was heißt hier ›gefälscht‹? Sie hat ihn doch geschrieben, oder etwa nicht?«
»Sie hat ihn geschrieben, aber es war der Teil eines Briefes, den sie an dem Morgen geschrieben hat.«
»Dann – dann könnte sie doch das Stück abgerissen haben und als Abschiedsbrief benutzt haben.«
»Aber, aber, Mr Bateson. Wenn Sie einen Abschiedsbrief schreiben wollen, dann tun Sie das auch. Dann nehmen Sie nicht einfach irgendeinen anderen Brief, den Sie vorher an jemanden anderen geschrieben haben, und schneiden sorgsam einen besonderen Satz heraus.«
»Warum nicht? Menschen tun die unglaublichsten Dinge.«
»In dem Fall: Wo ist der Rest des Briefes?«
»Woher soll ich das wissen? Das ist Ihr Fall und nicht meiner.«
»Das ist in der Tat so. Und Sie wären gut beraten, Mr Bateson, meine Fragen höflich zu beantworten.«
»Na schön, was wollen Sie wissen? Ich habe das Mädchen nicht getötet, und ich hatte auch wirklich keinen Grund dazu.«
»Mochten Sie sie?«
Len sagte in weniger aggressivem Ton: »Ich mochte sie sehr gern. Sie war ein nettes Mädchen. Ein bisschen dumm, aber nett.«
»Und haben Sie ihr geglaubt, als sie die Diebstähle gestanden hat, die hier in der letzten Zeit für Unruhe gesorgt haben?«
»Ja, natürlich habe ich es geglaubt. Sie hat es doch selbst gesagt. Aber ich muss sagen, dass es mir schon seltsam vorkam.«
»Sie glauben nicht, dass es in ihrer Art lag, so etwas zu tun?«
»Nein. Nicht wirklich.«
Leonards Widerspenstigkeit war jetzt verschwunden, wo er sich nicht länger verteidigen musste und über ein Problem nachdenken konnte, das ihn offensichtlich verblüffte.
»Sie schien mir nicht der Typ für eine Kleptomanin, wenn Sie wissen, was ich meine«, sagte er. »Und auch keine Diebin.«
»Aber können Sie sich denn einen anderen Grund vorstellen, warum sie das getan hat?«
»Einen anderen Grund? Was sollte es da für einen Grund geben?«
»Nun, sie könnte es zum Beispiel darauf angelegt haben, Mr Colin McNabbs Interesse zu erregen.«
»Das ist aber in bisschen weit hergeholt, finden Sie nicht?«
»Aber es hat sein Interesse hervorgerufen.«
»Ja, natürlich. Der alte Colin ist ja völlig wild auf jede Art von psychologischer Abnormität.«
»Ja, eben. Wenn Celia Austin das wusste…«
Len schüttelte den Kopf. »Da irren Sie sich. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, auf so etwas zu kommen. So etwas zu planen, meine ich. Dazu fehlte ihr das nötige Wissen.«
»Aber Sie haben das nötige Wissen dafür, oder nicht?«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine, dass Sie ihr vielleicht aus reiner Nettigkeit so etwas vorgeschlagen haben könnten.«
Len lachte kurz auf. »Sie glauben, ich könnte so einen Schwachsinn anzetteln? Sie sind verrückt.«
Der Inspektor wechselte das Thema.
»Glauben Sie, dass Celia Austin die Tinte über Elizabeth Johnstons Papiere geschüttet hat, oder glauben Sie, dass das jemand anders war?«
»Jemand anders. Celia hat gesagt, dass sie es nicht getan hat, und ich glaube ihr. Celia ist niemals von Bess geärgert worden – im Gegensatz zu manchem anderen.«
»Wer ist von ihr geärgert worden – und warum?«
»Ach, wissen Sie, sie ist manchen Leuten auf die Nerven gegangen.« Len dachte einen Moment lang nach. »Keiner ist vor ihr sicher. Keiner, der eine unbedachte Bemerkung macht. Den sieht sie quer über den Tisch an und sagt auf ihre präzise Art: ›Ich fürchte, das entspricht nicht den Tatsachen. Statistische Untersuchungen haben bekanntlich gezeigt…‹ Irgendetwas in der Art. Das ärgert die Leute, denke ich – insbesondere Leute, die gern unbedachte Äußerungen machen, wie Nigel Chapman zum Beispiel.«
»Ach ja, Nigel Chapman.«
»Und es war ja auch grüne Tinte.«
»Sie glauben also, dass es Nigel gewesen ist, der das getan hat?«
»Nun ja, das wäre zumindest möglich. Er ist schon ein boshafter Knochen, wissen Sie, und ich schätze, dass er auch ein bisschen rassistisch denkt. So ziemlich der Einzige von uns, übrigens.«
»Können Sie sich sonst noch jemanden vorstellen, den Mrs Johnston verärgert hat mit ihrer Genauigkeit und der Angewohnheit, Leute zu korrigieren?«
»Nun ja, Colin McNabb zum Beispiel, und Jean Tomlinson hat sie auch das eine oder andere Mal ziemlich aufgeregt.«
Sharpe stellte noch einige weitere Fragen, aber Len Bateson hatte nichts Brauchbares mehr hinzuzufügen.
Als nächstes bat Sharpe Valerie Hobhouse herein.
Valerie wirkte kühl, elegant und vorsichtig. Sie zeigte viel weniger Nervosität als die beiden Männer vor ihr. Sie habe Celia gemocht, sagte sie. Celia war nicht besonders gescheit, und es war geradezu Mitleid erregend, wie sehr sie in Colin McNabb verliebt gewesen war.
»Glauben Sie, dass sie eine Kleptomanin gewesen ist, Miss Hobhouse?«
»Nun, ich glaube schon. Ich weiß aber nicht sehr viel über dieses Thema.«
»Oder glauben Sie, dass irgendjemand sie dazu gebracht hat, diese Dinge zu tun?«
Valerie zuckte mit den Schultern. »Sie meinen, um die Aufmerksamkeit von diesem Wichtigtuer Colin zu erregen?«
»Das haben Sie schnell erfasst, Miss Hobhouse. Genau das meine ich. Sie haben ihr das nicht selbst vorgeschlagen, nehme ich an?«
Valerie sah ihn amüsiert an. »Wohl kaum, wenn man bedenkt, dass eines meiner Lieblingshalstücher dabei zerschnitten worden ist. Ganz so selbstlos bin ich nicht.«
»Glauben Sie, dass jemand anders ihr das vorgeschlagen hat?«
»Das würde ich kaum annehmen. Es muss wohl doch in ihrem Naturell gelegen haben.«
»Was meinen Sie mit Naturell?«
»Nun, erst hatte ich den Verdacht, dass es Celia war, als es all die Aufregung wegen Sallys Schuh gab. Celia war neidisch auf Sally. Sally Finch, meine ich. Die ist bei weitem das attraktivste Mädchen hier, und Colin hat ihr ziemlich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Und dann verschwand am Abend vor dieser Party Sallys Schuh, so dass sie in ihrem alten schwarzen Kleid und schwarzen Schuhen gehen musste. Und da sah Celia so zufrieden aus wie eine Katze, die gerade die Sahne gefressen hat. Aber das heißt nicht, dass ich geglaubt habe, dass all diese Kleindiebstähle von Armbändern und Puderdosen auf ihr Konto gegangen wären.«
»Was haben Sie geglaubt, wer dafür verantwortlich war?«
Valerie zuckte mit den Schultern. »Ach, ich weiß nicht. Eine der Putzfrauen, habe ich gedacht.«
»Und der aufgeschlitzte Rucksack?«
»War da auch ein aufgeschlitzter Rucksack? Das hatte ich vergessen. Das scheint mir ziemlich sinnlos.«
»Sie wohnen schon eine ganze Weile hier, nicht wahr, Miss Hobhouse?«
»Nun ja, ich würde sagen, wahrscheinlich am längsten von allen. Zweieinhalb Jahre müssen das jetzt sein.«
»Das heißt, Sie wissen wahrscheinlich mehr über dieses Wohnheim als irgendein anderer?«
»Ja, das würde ich sagen.«
»Haben Sie irgendeine eigene Vorstellung über Celia Austins Tod? Irgendeine Vorstellung über das Motiv, das dahinter stecken könnte?«
Valerie schüttelte den Kopf. Sie sah jetzt ernst aus. »Nein«, sagte sie. »Das ist eine schreckliche Geschichte. Ich kann mir nicht vorstellen, wer gewollt haben könnte, dass Celia stirbt. Sie war so ein nettes, harmloses Kind, und sie hatte sich gerade verlobt und wollte heiraten, und…«
»Ja, und?«, fragte der Inspektor.
»Ich habe mich gefragt, ob das vielleicht der Grund war«, sagte Valerie zögernd. »Weil sie sich verlobt hat. Weil sie glücklich sein würde. Aber das bedeutet doch schließlich, dass irgendjemand – nun ja – verrückt sein muss.«
Sie sagte das Wort mit einem leisen Schauder, und Inspektor Sharpe sah sie gedankenvoll an.
»Ja«, sagte er. »Wahnsinn können wir nicht völlig ausschließen.« Er fuhr fort. »Haben Sie irgendeine Idee über die Geschichte mit Elizabeth Johnstons Aufzeichnungen?«
»Nein. Das war auch eine böse Geschichte. Ich glaube nicht im Geringsten, dass Celia so etwas getan haben könnte.«
»Irgendeine Vorstellung, wer sonst in Frage käme?«
»Nein – keine vernünftige Idee.«
»Aber eine unvernünftige?«
»Herr Inspektor, Sie wollen doch sicher nichts hören, was bestenfalls ein Gefühl ist, oder?«
»Doch, genau das möchte ich. Ich werde es als ein Gefühl betrachten, und es bleibt unter uns.«
»Nun, ich mag da möglicherweise völlig falsch liegen, aber ich habe so ein unbestimmtes Gefühl, als ob das Patricia Lane gewesen sein könnte.«
»Tatsächlich? Jetzt überraschen Sie mich, Miss Hobhouse. Ich hätte nicht an Patricia Lane gedacht. Sie wirkt so ausgeglichen, eine nette junge Dame.«
»Ich hab ja nicht gesagt, dass sie es getan hat. Nur so ein Gefühl, dass sie es vielleicht getan haben könnte.«
»Gibt es dafür einen speziellen Grund?«
»Nun, Patricia mochte Black Bess nicht. Black Bess hat immer wieder Patricias geliebten Nigel geärgert, ihn korrigiert, wissen Sie, wenn er dumme Bemerkungen gemacht hat, so wie er das eben manchmal macht.«
»Und Sie glauben, es war eher Patricia Lane als Nigel selbst?«
»O ja. Ich glaube nicht, dass Nigel sich die Mühe machen würde. Und er würde bestimmt nicht seine eigene Lieblingstinte verwenden. Er ist nämlich sehr intelligent. Aber das wäre genau die Art von Dummheit, die Patricia begehen würde, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, dass der Verdacht dann auf ihren kostbaren Nigel fallen könnte.«
»Oder aber jemand, der etwas gegen Nigel Chapman hat und den Verdacht erwecken wollte, dass das sein Werk sei?«
»Ja, das wäre auch möglich.«
»Wer hat denn etwas gegen Nigel Chapman?«
»Nun, Jean Tomlinson zum Beispiel. Und Nigel und Len Bateson streiten sich auch dauernd.«
»Haben Sie irgendeine Vorstellung, Miss Hobhouse, wie Celia Austin das Morphium verabreicht worden sein könnte?«
»Darüber habe ich schon die ganze Zeit nachgedacht. Natürlich ist der Kaffee das nahe liegende Mittel, nehme ich an. Wir haben uns alle im Aufenthaltsraum durcheinander bewegt. Celias Kaffee stand auf einem kleinen Tischchen neben ihr, und sie hat immer gewartet, bis er fast kalt war, bevor sie ihn getrunken hat. Ich nehme an, dass jeder, der den Nerv dazu hatte, eine Tablette oder irgend so etwas in ihre Tasse hätte fallen lassen können, ohne dass es jemand gesehen hätte, aber es wäre doch ein ziemliches Risiko gewesen. Ich meine, es ist etwas, bei dem man leicht erwischt werden könnte.«
»Das Morphium«, sagte Inspektor Sharpe, »war nicht in Tablettenform.«
»Was war es dann? Ein Pulver?«
»Ja.«
Valerie runzelte die Stirn. »Das wäre natürlich schwieriger gewesen, oder nicht?«
»Fällt Ihnen irgendetwas anderes ein als der Kaffee?«
»Sie hat manchmal ein Glas heiße Milch getrunken, bevor sie ins Bett gegangen ist. Aber ich glaube nicht, dass sie das an dem Abend getan hat.«
»Können Sie mir genau beschreiben, was sich an jenem Abend im Gemeinschaftsraum abgespielt hat?«
»Nun ja, wie ich schon sagte, wir haben alle herumgesessen, uns unterhalten; jemand hat das Radio angestellt. Die meisten Jungs sind gegangen, denke ich. Celia ist früh zu Bett gegangen, genau wie Jean Tomlinson. Sally und ich haben noch lange ausgehalten. Ich habe Briefe geschrieben, und Sally hat über irgendwelchen Notizen gesessen und gelernt. Ich glaube fast, ich bin die Letzte gewesen, die zu Bett gegangen ist.«
»Es war also ein völlig normaler Abend?«
»Ja, völlig normal, Inspektor.«
»Vielen Dank, Miss Hobhouse. Würden Sie jetzt bitte Miss Lane zu mir hereinschicken?«
Patricia Lane sah zwar beunruhigt aus, aber nicht ernstlich besorgt. Die Fragen und Antworten brachten nicht viel Neues. Als sie über den Schaden an Elizabeth Johnstons Papieren gefragt wurde, sagte Patricia, dass sie keinen Zweifel daran habe, dass Celia das getan habe.
»Aber sie hat es vehement abgestritten, Miss Lane.«
»Ja, natürlich«, sagte Patricia. »Das ist doch klar. Ich denke, sie hat sich dafür geschämt. Aber es passt doch ins Bild mit all den anderen Dingen, oder nicht?«
»Wissen Sie, was ich merkwürdig finde an diesem Fall, Miss Lane? Dass nichts besonders gut ins Bild passt.«
»Ich fürchte«, sagte Patricia und wurde rot, »dass Sie vielleicht glauben könnten, dass Nigel die Unterlagen von Bess so zugerichtet hat. Wegen der Tinte. Das ist völliger Unsinn. Ich meine, Nigel würde doch niemals seine eigene Tinte genommen haben, wenn er so etwas gemacht hätte. So dumm wäre er wirklich nicht. Und außerdem, er würde so etwas nicht tun.«
»Er ist aber nicht immer besonders gut mit Miss Johnston ausgekommen, oder?«
»Nun ja, sie benimmt sich manchmal ziemlich unerfreulich, aber das macht ihm nicht viel aus.« – Patricia Lane lehnte sich vor und sagte mit ernster Stimme: »Ich will versuchen, Ihnen das eine oder andere klar zu machen. Über Nigel Chapman, meine ich. Wissen Sie, Nigel ist sozusagen selbst sein schlimmster Feind. Ich bin die Erste, die zugibt, dass er ziemlich schwierig im Umgang ist. Das bringt die Leute gegen ihn auf. Er ist unhöflich und sarkastisch und macht sich über andere lustig, und damit verärgert er sie, und sie denken dann von ihm nur das Schlechteste. Aber er ist in Wahrheit ganz anders, als er scheint. Er ist einer von diesen scheuen, etwas unglücklichen Menschen, die wirklich gern geliebt werden würden, aber die sich aus reinem Widerspruchsgeist immer wieder dazu hinreißen lassen, genau das Gegenteil von dem zu sagen und zu tun, was sie eigentlich meinen.«
»Aha«, sagte Inspektor Sharpe. »Das ist natürlich ziemlich ungünstig für solche Menschen, denke ich.«
»Ja, aber sie können einfach nichts dagegen tun, glaube ich. Es kommt von einer unglücklichen Kindheit. Nigel hatte eine sehr unglückliche Kindheit. Sein Vater war sehr barsch und streng und hat ihn nie verstanden. Und sein Vater hat auch seine Mutter sehr schlecht behandelt. Als sie gestorben ist, gab es einen furchtbaren Krach, und dann hat er Nigel rausgeworfen und hat gesagt, von ihm würde er nie mehr einen Penny bekommen, und er müsse künftig allein durchkommen, ohne irgendwelche Hilfe von zu Hause. Und Nigel würde von seinem Vater auch keine Hilfe mehr annehmen, selbst wenn er sie ihm anbieten würde. Einen kleinen Betrag hat er aus dem Nachlass seiner Mutter geerbt. Aber seinem Vater hat er nie geschrieben und ist nie wieder auch nur in seine Nähe gegangen. Natürlich finde ich, dass das irgendwie schade ist, aber sein Vater ist zweifelsohne ein sehr unangenehmer Mensch. Kein Wunder, dass Nigel darüber verbittert ist, und dass es so schwierig ist, mit ihm umzugehen. Seit seine Mutter gestorben ist, hat nie jemand für ihn gesorgt oder sich um ihn gekümmert. Sein Gesundheitszustand ist nicht der beste, aber sein Verstand ist brillant. Er ist vom Leben benachteiligt, und er kann anderen einfach nicht deutlich machen, wie er wirklich ist.«
Patricia Lane hielt inne. Sie war rot geworden und ein bisschen außer Atem als Ergebnis ihrer langen, ernsten Rede. Inspektor Sharpe sah sie nachdenklich an. Er war schon vielen Patricia Lanes im Leben begegnet. »Verliebt in den Kerl«, dachte er. »Glaube nicht, dass er selbst sich auch nur für fünf Pfennige Gedanken macht über sie, lässt aber zu, dass sie ihn bemuttert. Der Vater hört sich tatsächlich wie ein zänkischer alter Knacker an, aber ich möchte meinen, dass die Mutter eine dumme Frau gewesen ist, die ihren Sohn verzogen hat und durch ihre Vernarrtheit in ihn die Kluft zwischen Vater und Sohn vergrößert hat. Das habe ich oft genug gesehen.« Er fragte sich, ob Nigel Chapman überhaupt von Celia Austin angezogen gewesen sein könnte. Es schien ihm unwahrscheinlich, aber es wäre immerhin möglich. »Und wenn ja«, dachte er, »dann würde Patricia Lane dies heftig übel genommen haben.« Heftig genug, um Celia Böses zu wünschen? Heftig genug, um einen Mord zu begehen? Sicher nicht – und davon abgesehen – die Tatsache, dass Celia sich gerade mit Colin McNabb verlobt hatte, hätte dieses Mordmotiv sicherlich weggewischt. Er entließ Patricia Lane und fragte nach Jean Tomlinson.