ERNTEFEST

Milchig weißer Dunst lag über dem Tal; der Nebel, der aus den feuchten Wiesen aufgestiegen war, verhüllte die Konturen des Dorfes beinahe vollständig. Hinter den Bergen, die das Dorf umgaben, da, wo die Sonne in violetter Dämmerung versunken war, erhoben sich rosig behauchte Wolkenbänke, und hoch darüber, im schon nachtfarbenen Blau, stand strahlend der Abendstern.

Der Stein des Fenstersitzes, auf dem sich Albrecht niedergelassen hatte, war eiskalt. Auch die Wände des Turms strahlten bereits winterliche Kälte aus, doch Albrecht fror nicht. Sein Blick hing an dem leuchtenden Punkt im Nachthimmel. Sie würde da sein – dessen war er sich gewiss. Das Erntefest zu Michaeli war für die Bauern einer der wichtigsten Höhepunkte des Jahres. Das verpasste keiner, der laufen konnte.

Er hatte Erkundigungen eingeholt, zu welchem Kirchspiel ihr Dorf gehörte. Zwei Tage noch, dann würde er sie wiedersehen, und wiedersehen musste er sie. Die letzten Wochen waren kaum zu ertragen gewesen.

Auch jetzt, während er den Stern anschaute, klopfte sein Herz schwer und sehnsuchtsvoll. Sie würde sicher mit ihrem Vater erscheinen, dem alten Griesgram, und ohne Zweifel mit einer ganzen Horde von Verehrern im Gefolge – diesen Hannes Rebmann eingeschlossen. Wahrscheinlich würde ihm, Albrecht, nur der Anblick ihrer elfenhaften Gestalt vergönnt sein ... aber mit etwas Glück vielleicht auch ein Blick in ihre samtbraunen Augen, die ihn so verzaubert hatten.

Er seufzte. »Holder Abendstern«, wisperte er, »wie fern bist du mir ...« Dann musste er lachen. »Narr«, wies er sich zurecht, »seit wann verlierst du dich in tatenlosen Schwärmereien? Sei gescheit und überlege, wie du sie für dich einnehmen kannst!«

Sie war nicht die erste Bauerntochter, der seine Begierde galt – beileibe nicht. Schon seit er herangewachsen war, hatte er es gerne mit Dorfmädchen getrieben; die waren unkompliziert und am Ende der Leidenschaft leicht wieder loszuwerden. Aber diesmal war alles anders. Noch nie hatte eine sein Feuer zu so lodernder Glut angefacht. Noch nie hatte er sich nach einer so verzehrt wie nach ihr.

Auch eine gewöhnliche Bauerndirne war sie keineswegs. Schon vom ersten Augenblick an hatte er den Eindruck gehabt, dass er es bei ihr nicht leicht haben würde – was ihn umso mehr reizte. Sie hielt ihn für einen Herumtreiber, dem nicht zu trauen war. Und diesen Eindruck würde er nachträglich auch so einfach nicht mehr entkräften können. Warum zum Teufel hatte er ihr bloß einen falschen Namen genannt, damals auf dem Waldweg? Warum hatte er vor ihr verborgen, dass er einer vom Adel war?

Andererseits – würde es für einen Ritter leichter sein, sie ins Heu zu locken zu einem erlösenden Liebesspiel? Er bezweifelte es. Was tun in dieser verfahrenen Lage?

Er würde seine Verkleidung beibehalten müssen, wenn er nicht vor ihr als Lügner dastehen wollte. Außerdem – der Bürger Albrecht Hund aus Schwarzental konnte sich ihr eher nähern als der burggesessene Albrecht Wolf von Weißenstein. Vor Albrecht Hund hatte sie keine Scheu. Ein Wolf von Weißenstein dagegen konnte nur Furcht und Misstrauen bei ihr wecken – das spürte er.

Albrecht erhob sich vom Fenstersitz und begann im Turmgemach hin- und herzugehen. Nein, aus Angst sollte sie sich ihm nicht ergeben. Freiwillig musste es sein ... wie ein Geschenk. Erst dann würde das Zusammensein mit ihr so vollkommen werden, wie er es sich vorstellte.

Eine heiße Welle der Sehnsucht überströmte ihn mit plötzlicher Gewalt. Was war bloß los mit ihm? Wieso war er sich seiner diesmal so unsicher? War es ihm denn nicht immer gelungen, ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen – und das ziemlich schnell? Warum war seine Ungeduld mit so viel Angst vermischt, er könne bei gerade diesem Mädchen nicht zum Zuge kommen? Zumindest auf seinen Charme war doch Verlass. Der hatte ihm noch jedes Mal geholfen.

Albrecht blieb stehen und ballte die Fäuste. Reiß dich zusammen, befahl er sich. Mit den Bauernburschen ihrer Umgebung wirst du ganz bestimmt fertig. Es dürfte dir leicht fallen, sie allesamt auszustechen. Anna ist nicht dumm. Sie wird zu unterscheiden wissen zwischen Gut und Schlecht.

Anna. Anna ...

Sechs lange Wochen hatte dieser Name all seine Gedanken beherrscht. Nun musste etwas geschehen – länger hielt er diesen Zustand nicht aus. Zumal andere Weiber keinerlei Interesse in ihm zu wecken vermochten. Er sah sie nicht einmal mehr. Es war wie eine Krankheit.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür ließ ihn aufhorchen. »Herein!«, rief er. Seine Stimme klang rau.

Die kleine Küchenmagd huschte ins Turmzimmer. »Herr – wenn Ihr speisen möchtet«, begann sie, »dann trage ich auf... unten im Saal ...«

Er musterte sie und nickte. Sie wollte wieder hinaus, doch er ergriff sie am Zipfel ihres Fürtuchs und zog sie zu sich heran. Dann riss er sie in die Arme und suchte mit dem Mund ihre Lippen. Sie schmeckten süß und jung ...

Er vertiefte seinen Kuss. Ihre Lippen gaben bereitwillig nach, öffneten sich ihm und ließen ihn ein. Er presste das Mädchen heftiger an sich, tastete, streichelte ihre festen kleinen Brüste, deren Spitzen sich unter dem Leinen ihres Arbeitskleides deutlich abzeichneten. »Anna ...«, flüsterte er mit heißem Atem.

Sie drehte den Kopf weg und sah ihn an. »Ich bin Hedwig, Herr ...«, hauchte sie mit glänzenden Augen.

Das Kopftuch war von ihrem glatten Scheitel herabgerutscht. Ihr blondes Haar hatte sich gelöst und flutete wie ein hellseidener Wasserfall über seinen Arm. Ihre Augen waren blau.

Er ließ sie los. »Geh jetzt, Kind«, sagte er atemlos. »Richte die Tafel. Ich komme gleich herunter in den Saal.«

»Sofort, Herr ...«

Sie widmete ihm einen verehrungsvollen Blick und huschte hinaus. Er brauchte einen Augenblick, um wieder zur Besinnung zu kommen. Sein ganzer Körper schmerzte. Ja, er war krank – krank vor Verlangen. Aber nur eine konnte ihn von diesem Leiden befreien. So etwas hatte er noch nie erlebt. Zum ersten Mal fühlte er sich seinen Gefühlen wehrlos ausgeliefert.

Um den langen Tisch im Saal des Palas saßen schon die Männer der Burg und schauten Albrecht erwartungsvoll entgegen, als er die Treppe herunterkam. Er setzte sich ans Kopfende – seinen rechtmäßigen Platz, seit sein Vater zu Grabe getragen worden war –, und musterte die Doppelreihe seiner Getreuen. Beinahe alle waren um vieles älter als er; Burkart mit seinen siebzig Jahren war der Älteste von allen.

Albrecht richtete das Wort an den Torwächter. »Wo ist Christoph?«, wollte er wissen. »Ich dachte, ich hätte auch ihn herbefohlen.«

Der alte Burkart zuckte die Achseln. »Wird wohl noch kommen, Herr. Hab’s ihm gesagt, dass Ihr ihn sehen wollt.«

»Er war auf dem Weg«, sagte Meinrad, einer der Bogenschützen. »Hab ihn bei den Hunden zum letzten Mal gesehen. Er wollte seinem Lieblingsrüden noch Futter bringen.«

In diesem Augenblick trat der Gesuchte in den Saal. Als er alle schon an der Tafel versammelt sah, blieb er erst einmal verlegen bei der Tür stehen. Die kleine Küchenmagd, die mit ihm hereingekommen war, verhielt ebenfalls, obwohl die Schüssel, die sie mit beiden Händen vor sich hertrug, heiß und schwer sein musste.

»Nur heran, Christoph«, befahl Albrecht. »Setz dich«, er deutete auf den Stuhl zu seiner Rechten, der leer geblieben war. »Wo warst du so lange?«

»Vergebung, Herr«, murmelte der Junge. Er nahm hastig seine Ledermütze ab und fing an, sie nervös in den Händen zu walken. »Ich dachte, es hätte noch Zeit ... da Ihr doch oben im Turm wart und nicht gestört werden wolltet ...«

»Wer sagte das?«

»Magdalene ...«

»Hattest du mich denn stören wollen?« Albrecht hob eine Augenbraue.

»Zuerst ja, Herr«, stotterte der Junge. »Aber dann sagte mir die Magdalene –«

»Schon gut.« Albrecht wies dem Jungen noch einmal den Stuhl an. »Also, setz dich her und verrate mir, womit du mich behelligen wolltest.«

Christoph näherte sich zögernd und nahm auf der Stuhlkante Platz. Noch nie hatte er mit den Burgmannen speisen dürfen. Am heutigen Abend geschah es zum ersten Mal, und niemand hatte ihm verraten, wie er zu dieser großen Gunst gelangt war. Natürlich rutschte ihm jetzt das Herz in die Hose.

»Also«, begann er unsicher, »es ist wegen der Hunde, Herr ... der Tiras, Ihr wisst schon – der große Weiße –, der lahmt seit der letzten Hatz auf Schwarzwild. Und er ist doch ein so guter Hund. Und da hab ich mir aus dem Dorf eine Salbe geholt, um seine Pfote einzureiben ... damit er bald wieder wohlauf ist, der Tiras ... und nun –« »Geht es ihm besser?«, unterbrach Albrecht das Gestotter.

»O ja, Herr!« Christoph lächelte, machte aber sofort wieder ein ernstes Gesicht. »Nur ... es wird mehr Salbe nötig sein«, fügte er kleinlaut hinzu, »und ich habe kein Geld mehr ...«

»Willst du damit sagen, du hast die alte Hexe im Dorf für die Salbe bezahlt?«, fragte Albrecht ungehalten.

Der Junge bekam vor Verlegenheit rote Ohren. »Sie wollte mir nichts geben ohne Bezahlung«, murmelte er, »und der Tiras hat sie doch gebraucht!«

»Zum Teufel!« Albrecht ließ die Faust auf den Tisch niedersausen, dass es krachte. »So weit kommt es noch, dass ein Herr von Weißenstein in seinem eigenen Dorf für Dienste bezahlt!« Er sah den Jungen durchdringend an. »Schämst du dich nicht, Christoph?«

»Doch, Herr.« Der Junge senkte den Kopf.

»Was wirst du also tun?«

»Ich geh wieder hin und fordere mehr«, sagte Christoph tonlos. »Mehr Salbe ... ohne Geld.«

»Recht so.« Albrecht klopfte ihm auf die Schulter. »Und lass dich nicht so gehen. Das schickt sich nicht für einen von der Burg.«

Christoph nickte, immer noch mit gesenktem Kopf. »Werd’s mir merken, Herr ...«

Die Männer am Tisch lachten. »Dann hoch mit dem Kinn«, forderte Meinrad den Jungen auf. »Sei mutig und sieh dem Feind in die Augen. Oder hast du die Hosen voll?«

Diesmal blickte Christoph auf. Die jähe Bewegung, mit der er den Kopf hochriss, erinnerte Albrecht an seinen Vater. Und auch Christophs Augen schienen Funken zu sprühen. Ganz offensichtlich fiel es ihm schwer, den Spott der Männer unbeantwortet hinzunehmen – wozu er doch am Tisch seines Herrn gezwungen war. An seinem Unterkiefer zuckte ein Muskel. Mühsam beherrscht sagte er: »Nein. Das habe ich keineswegs.«

Noch einmal scholl Gelächter auf. Christoph errötete stärker, aber nicht vor Verlegenheit. Albrecht, dem der wachsende Zorn des Jungen nicht entging, rettete die Situation. Bevor Christoph sich zu einer unbedachten Äußerung hinreißen lassen konnte, sprach er ihn an: »Ich habe dich hierher befohlen, weil ich dir etwas mitteilen will. Morgen früh werde ich mich auf einen längeren Ritt begeben, und du sollst mich begleiten.«

»Was?«, entfuhr es Meinrad.

»Aber ein Kaufmannszug aus Würzburg wird erwartet«, meldete sich Bernhard, einer aus der Reihe der älteren Reisigen. »Wir dächten doch, dass wir uns den nicht entgehen lassen sollten – zumal der Zug schlecht bewacht ist. Die Pfeffersäcke reisen mit einem Geleitschutz von nur zehn Bewaffneten!«

Albrecht nickte. »Recht, Bernhard«, erwiderte er, »und die Zeit ist auch günstig, einen solchen Zug abzufangen. Unsere Fehde mit Würzburg erfordert zudem wieder einmal einen Angriff. Wir werden zugreifen. Aber unter deinem Kommando.«

Bernhards Miene verriet totale Überraschung. »Aber, Herr ...«, wollte er widersprechen, »ohne Eure Führung sind wir noch nie ausgezogen! Ich bin ohne Erfahrung ... und die Männer –«

»Wie lange dienst du jetzt den Wölfen vom Weißenstein«, fragte Albrecht, »zwanzig Jahre? Oder sind es schon fünfundzwanzig?«

»Beinahe dreißig Jahre«, erwiderte Bernhard, »aber ...«

»Und da willst du behaupten, du seist ohne Erfahrung?« Albrecht zeigte ein schiefes Lächeln. »Das kann nicht dein Ernst sein. In so vielen Jahren lernt jeder, eine Truppe zu befehligen – und du beherrschst diese Kunst schon seit langer Zeit. Also – tu, was du schon oft getan hast.«

»Es ist wahr, dass ich viele Male die Männer kommandiert habe«, versuchte Bernhard noch einmal, sich aus der Sache herauszuwinden, »aber noch nie ist es vorgekommen, dass ein Herr von Weißenstein nicht dabei gewesen wäre und meine Befehle gebilligt hätte.«

»Sag mir«, Albrecht heftete den Blick zwingend auf die Augen seines Hauptmanns, »war es je so, dass mein Vater selig oder ich selbst dein Vorgehen nicht gutgeheißen hätten?«

»Nein«, murmelte Bernhard. Er wusste: Er hatte verloren. Und er schickte sich drein. »Das war nie der Fall – weder unter Eurem Herrn Vater noch unter Euch selbst.«

»Dann ist es abgemacht.« Albrecht beendete die kurze Diskussion mit einer abschließenden Handbewegung. Er wandte sich an die übrigen Reisigen. »Ihr werdet Bernhard bei dem Angriff auf den Kaufmannszug in jeder Hinsicht Gefolgschaft leisten – so, als sei ich an eurer Spitze. Glück auf der Jagd, ihr Wölfe!«

Er hob den Becher und trank seinen Männern zu. Die taten ihm mit Hochrufen Bescheid: »Es lebe unser Herr – es lebe das feste Haus Weißenstein!«

Christoph hatte Albrecht derweil mit staunenden Augen angesehen. Nun wagte er einen Einwand. »Aber wer wird die Hunde führen, wenn die Männer ausziehen?«, fragte er verständnislos.

Albrecht erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln. »Da wird sich ein anderer finden«, antwortete er ruhig.

»Sie gehorchen nur mir«, widersprach Christoph. »Und Euch«, fügte er zögernd hinzu.

»Nun – dann werden sie für diesmal daheim bleiben müssen«, meinte Albrecht, noch immer lächelnd. »Oder willst du nicht mit mir auf die Reise gehen?«

Christoph schluckte. »Nein, Herr«, murmelte er befangen, »ich meine ... doch, Herr! Nur ...«

»Nur – was?«

»Ihr habt mich noch niemals mitgenommen, Herr ...«

»Wie viele Jahre zählst du jetzt, Christoph?«, unterbrach ihn Albrecht.

»Siebzehn, Herr ...«

»Dann wird es höchste Zeit. Meinst du nicht auch?«

Der Junge begann zu begreifen, welche Ehre ihm zuteil werden sollte. »Ja, Herr...«, murmelte er, »und ich danke Euch auch sehr ...«

Das Küchenmädchen Hedwig hatte angefangen, den Grießbrei auszuteilen – dem Herrn der Burg zuerst. Albrecht bemerkte den zärtlichen Augenaufschlag, mit dem die Kleine ihn bedachte, und dankte ihr für die reichliche Portion, die aus ihrer Kelle in seinem Napf landete, mit einem flüchtigen Kopfnicken. »Vergiss nicht, dass auch die anderen hungrig sind«, ermahnte er sie. Die kleine Magd knickste und ging schnell zum Nächsten weiter, nicht, ohne ihrem Herrn einen weiteren anbetenden Blick zuzuwerfen.

Christoph sah es und runzelte die Brauen, doch nur für einen Wimpernschlag. »Ganz wenig für mich, Hedwig«, sagte er.

»Hat es dir den Appetit verschlagen?«, scherzte Meinrad vom anderen Ende der Tafel.

Christoph würdigte ihn keiner Antwort. »Stimmt es, dass in der Küche ein Frischling auf dem Spieß hing?«, fragte er die Magd.

»Richtig«, bestätigte sie, »und ich soll das Fleisch auftragen, sobald die Breischüssel leer ist.«

»Schlauer Kerl«, sagte Albrecht und grinste Christoph an.

Der Junge grinste zurück, zwang sich aber sofort wieder zu einer ernsten Miene. »Eigentlich habe ich nicht so großen Hunger ...«, murmelte er befangen.

Ein Knecht trug eine große zinnerne Platte mit Bratenstücken herein. Er wunderte sich sehr, als schallendes Gelächter ihm entgegendröhnte. »Nimm dir auch etwas«, forderte ihn Albrecht auf, »wir sind beinahe alle schon satt von dem guten Grießbrei – nicht wahr, Hedwig?« Und er zwinkerte dem Mädchen zu.

Der Knecht nahm das Angebot des Herrn freudig an und angelte ein kleines Stückchen Fleisch von der Platte. Hedwig dagegen wand sich vor Verlegenheit. Sie gab keine Antwort, sondern nickte nur verschüchtert und hastete, sobald sich die Gelegenheit bot, mit der Breischüssel aus dem Saal, während die Männer sich gutgelaunt über den Braten hermachten.

Albrecht hätte müde sein müssen von dem anstrengenden zweitägigen Ritt. Doch die innere Anspannung, unter der er stand, brachte es mit sich, dass er hellwach war – anders als Christoph, der völlig erschöpft im Sattel seiner braunen Stute hing und mehr oder weniger im Halbschlaf die Zügel hielt. Sie hatten sich dem Kirchdorf genähert, dessen Dächer bereits vor einer halben Stunde in Sicht gekommen waren, und ritten nun dem Dorfplatz zu, wo das Fest in vollem Gange war. Gellende Musik schallte herüber zu ihnen – der näselnde Klang der Schalmeien vermischte sich mit dem Quäken von Sackpfeifen und den gellenden Tönen mehrerer Zinken.

Albrecht zügelte seinen großen Falben und bedeutete auch dem Jungen, zu halten und ihm zuzuhören. Er hatte ihm den Zweck der Reise während des Rittes nicht verraten, und Christoph hatte auch nicht danach gefragt, doch jetzt musste ein offenes Wort gesprochen werden.

»Christoph«, begann Albrecht, »willst du nicht wissen, warum wir hier sind?«

Der Junge rappelte sich im Sattel auf. »Doch, Herr«, gab er schläfrig zurück, »aber ich dachte, Ihr werdet’s mir schon beizeiten sagen.«

»So.« Albrecht suchte den Blick des Jungen. »Nun – jetzt ist es an der Zeit. Wir sind auf der Jagd.«

Christoph öffnete die Augen weit. Alle Müdigkeit schien plötzlich von ihm abzufallen. »Auf der Jagd, Herr?«, sagte er. »Aber dies ist ein Dorf – und außerdem haben wir weder Armbrüste noch Spieße bei uns!«

»Waffen werden nicht benötigt«, erklärte Albrecht. »Unser Wild ist kein Keiler oder Hirsch.«

»Was dann?« Christophs Blick war aufmerksam und gespannt.

»Eine junge Frau«, sagte Albrecht.

»Aha.« Der Junge tat, als verstehe er. Doch seiner Miene war anzusehen, dass er keine Ahnung hatte, was sein Herr meinte.

Albrecht schwieg einen Augenblick. Dann räusperte er sich. »Vor einiger Zeit«, fuhr er fort, »habe ich Gefallen an einem Mädchen gefunden, das heute hier sein müsste. Und dieses Mädchen möchte ich –«

»Entführen?«, unterbrach Christoph aufgeregt. »Ihr wollt es nach Weißenstein holen – mit Gewalt?«

Albrecht klappte den Mund auf.

»Herr«, sprudelten weitere Bedenken aus Christoph heraus, »das wird dem Grundherrn dieses Mädchens nicht gefallen!« »Aber wer redet denn von –«

Albrecht kam nicht zu Wort. Christoph hatte sich so in seine Bestürzung hineingesteigert, dass er seinem Herrn einfach noch einmal die Rede abschnitt. »Wir werden mit Krieg überzogen werden, wenn Ihr das Mädchen gegen seinen Willen wegschleppt«, stieß er hervor. »Herr – das will gut überlegt sein!«

Albrecht musste seine Erheiterung verbergen. Die Schreckensmiene des Jungen war allzu komisch. »Fürchte nichts, Christoph«, beruhigte er ihn, »es geht mir nur um ein Wiedersehen. Aber damit sie unbefangen bleibt, müssen wir eine List anwenden.«

Christoph stieß erleichtert den Atem aus. Dann legte er den Kopf schief und betrachtete seinen Herrn mit neuem Misstrauen. »Eine List?«, fragte er. »Was für eine List?«

Dieser Blick war Albrecht vertraut und berührte ihn seltsam. Wieso war ihm nur früher die große Ähnlichkeit des Jungen mit Eberhart Weißenstein nie aufgefallen? Einen Augenblick musste er innehalten und durchatmen. »Hör zu«, sagte er dann, »ich weiß, auf deinen Schultern sitzt ein kluger Kopf, Christoph. Das Mädchen kennt meinen Namen nicht – sie glaubt, ich sei Bürger einer Stadt. Als ich sie kennen lernte, nannte ich ihr einen falschen Namen – Albrecht Hund aus Schwarzental, weil ich wollte –«

Christoph unterbrach ihn zum dritten Mal, und zwar durch ein Kichern. »Hund aus Schwarzental«, sagte er, »das ist lustig!«

»Schweig jetzt und lass mich ausreden«, rief ihn Albrecht streng zur Ordnung. »Ich will, dass du mich ab sofort nicht mehr Herr nennst. Du bist Christoph Hund, mein Bruder – verstanden?«

»Euer ... Bruder?« Das Ungeheuerliche, das für Christoph in dieser Forderung lag, brachte ihn dazu, Mund und Augen aufzureißen.

»Ganz recht«, sagte Albrecht. »Ich bin dein Bruder – und du nennst mich beim Namen, wie es unter Brüdern üblich ist.«

»Das ... das kann ich nicht.« Christoph war zutiefst erschrocken. »Wie könnte ich Euch ... ?«

»Ich fordere es von dir«, gab Albrecht zurück. »Ich befehle es, und du wirst gehorchen.«

»Herr... ich...«

»Bruder«, wiederholte Albrecht. »Du wirst mich ab sofort mit Du ansprechen. Und verhasple dich nicht, wenn dir meine Gunst etwas wert ist.«

Christoph nickte.

»Wirst du es ohne Fehler fertig bringen?«

»Ja ... Bruder«, kam tonlos Christophs Antwort.

»Also: wie heißt du?«

»Christoph ... Hund aus Schwarzental.«

»Und wer bin ich?«

»Albrecht Hund ... mein Bruder.«

»Um wie viele Jahre bin ich älter als du?«

»Um sieben Jahre, Herr.«

»Bruder!«

Der Junge erwiderte Albrechts Blick mit Ergebenheit. »Du, mein Bruder Albrecht, bist um sieben Jahre älter als ich. Wir sind Bürger einer Stadt ... welcher Stadt?«

»Der Stadt Amorbach«, sagte Albrecht aufs Geratewohl. »Es spielt keine Rolle – jede ist recht.« Er gab seinem Hengst die Sporen. »Wirst du dich auch nicht verplappern?«

»Nein ... Bruder.« Christoph ließ sein Tier ebenfalls antraben. »Zu antworten brauche ich ja nur, wenn ich gefragt werde ...«

»Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann«, sagte Albrecht. »Nun wollen wir uns Unterkunft beschaffen, damit wir das Fest in Ruhe genießen können.«

Es ging hoch her auf dem Michaeli-Markt vor der Kirche. Die beiden Reiter, die am Rand des Festplatzes abgesessen waren, hatten Mühe, ihre Tiere durch das Gewimmel der Feiernden hindurchzubugsieren. Von allen Seiten drängelten und schoben sich festlich gekleidete Männer, Frauen und Kinder in Richtung der Buden, an denen alles Mögliche und Unmögliche feilgeboten wurde. Durch die weit offen stehende Tür der Schenke zum Schwarzen Ross aber, aus der die Musik hervor- schallte, flutete im Wechselspiel ein wahrer Strom von Kirmesbesuchern hinein oder heraus.

Bettler waren auch da – verschämte Elendsgestalten, die sich scheu in die Ecken drückten und manchmal in einer stummen Bitte um Almosen die Hand ausstreckten, wie Unverschämte, die laut schreiend ihre Lumpen und verkrüppelten Gliedmaßen vorzeigten und sich lamentierend an die Vorübergehenden hängten.

Es war schwer, sich der Letzteren zu erwehren. »Pass auf deine Börse auf«, raunte Albrecht dem Jungen zu, »hier wimmelt es ganz bestimmt von Beutelschneidern!«

Christoph hob die Augenbrauen. »Aber die Börse habt doch Ihr, Herr ... Bruder«, stammelte er und biss sich auf die Lippen.

Albrecht gab ihm eine Kopfnuss. »Übertreib deine Höflichkeit nicht, Kleiner«, sagte er laut. »Und halt dich an die Regeln!«

Im Gedränge entstand eine Bewegung. Ein paar Leute versuchten da zum Gasthaus durchzukommen. Albrecht blieb stocksteif stehen. Am Arm eines kräftig gebauten, breitschultrigen jungen Mannes schritt ein schlankes Mädchen vorüber, das er unter Tausenden wiedererkannt hätte.

Sie war in einen dunkelblauen Mantel gehüllt. Ihr prächtiges schwarzbraunes Haar, im Nacken zu einem glatten Knoten aufgesteckt, glänzte in der Oktobersonne. Kleine Löckchen wehten am Ansatz ihrer Stirn ...

Albrechts Herz hatte schmerzhaft zu schlagen begonnen. Er hörte kaum, wie Christoph an seiner Seite fragte: »Ist sie das?« »Wie ...?«

»Ist das diejenige?«, wiederholte Christoph seine Frage.

Albrecht nickte, aber er hatte Mühe, sich vom Anblick des Mädchens loszureißen. Erst, als sie mit ihrem Begleiter im Wirtshaus verschwunden war, fand er die Sprache wieder. »Stell die Pferde unter«, befahl er dem Jungen. »Wenn das geschehen ist, kommst du zu mir. Ich bin drinnen ...«

Damit ließ er Christoph stehen und begann, sich durch das Gedränge zum Eingang der Schenke zum Schwarzen Ross vorzuarbeiten.

Endlich hatte er es geschafft, in den Saal zu gelangen. Vorn, gegenüber dem Tresen, war der Tanzboden aufgebaut – ein niedriges Podest, neben dem die Spielleute ihren Platz hatten. Drei Flöten, ein Zink, eine Blasenpfeife und ein Päuklein erklangen hier. Ihre Musik war bei weitem nicht so ohrenbetäubend wie die der Sackpfeifen und Schalmeien draußen auf dem Marktplatz, und deutlich melodischer. Auf dem Tanzboden drehten sich mehrere Paare, meist junge Leute. Andere standen am Tresen oder saßen auf Bänken, die an den Wänden aufgestellt waren, und ließen sich das Kirmesbier schmecken.

Albrecht suchte den überfüllten Raum mit Blicken ab. Im Durcheinander der Menschen konnte er das Ziel seiner Sehnsucht nicht entdecken, aber sie musste hier sein – er hatte sie ja mit eigenen Augen hineingehen sehen. Unschlüssig wandte er sich dem Tresen zu, ließ sich einen Becher Bier einschenken, zahlte. Die Musik hatte aufgehört zu spielen; von der Tanzfläche strömten die Leute zurück zu den Fässern, aus denen der Wirt unablässig zapfte und austeilte.

Albrecht spürte, dass seine Hände kalt und feucht waren. Er wischte sie an der alten, rauledernen Hose ab, die er auch heute trug. Ihm war, als seien alle seine Sinne geschärft – er roch den Schweiß des dicken alten Kerls, der neben ihm stand, empfand den strengen Geruch von dessen ungewaschener Haut wie einen Angriff auf sein Selbstgefühl und rückte angewidert von ihm ab. Auf der anderen Seite, zu seiner Linken, war eine Frau mit verlebtem Gesicht und einem dünnlippigen Mund, der ihn anlächelte. »Holla, Herr Nachbar ... seid Ihr immer so feurig?«

»Nur heute«, gab Albrecht zurück, ohne ihr Lächeln zu erwidern.

Sie stieß ein Lachen aus, das etwas zu schrill klang. »Gut gebrüllt«, kakelte sie, »machen wir den nächsten Tanz zusammen?«

Albrecht wusste nicht, wie er das Weib loswerden sollte, doch Christoph rettete ihn. »Hab die Rösser ordentlich untergebracht«, sagte er und schob sich zwischen die Frau und seinen Herrn. »Sogar Futter war da. Und der Knecht sagte, wir können im Heu übernachten.«

»Gut gemacht, kleiner Bruder.« Albrecht atmete auf. »Willst du auch Bier?«

»Was denkst du denn?«, sagte Christoph unbekümmert und biss sich gleich wieder auf die Lippen. »Ich meine ...«

»Hast dir auch eines verdient«, unterbrach ihn Albrecht mit einem Augenzwinkern. »Vielleicht suchst du dir sogar eine Tänzerin?«

»Ich?« Der Junge lief rot an. »Ich bin doch fremd hier. Welches Mädchen sollte denn wohl mit mir tanzen wollen?«

»Aber ich bin es auch«, erwiderte Albrecht, »und ich werde bestimmt nicht den ganzen schönen Tag am Tresen verbringen.«

Die Frau mit dem schmalen Mund, die jetzt hinter Christoph stand, kakelte noch einmal und schaute dem Jungen über die Schulter. »Für Euch wüsste ich schon eine, Herr Nachbar«, sagte sie zu Albrecht und spitzte die dünnen Lippen. »Eine, die Euch bestimmt nicht missfallen würde.«

»Gestattet, dass ich mir diejenige, mit der ich tanze, selbst auswähle«, sagte Albrecht schroff. »Ich brauche dabei keine Hilfe.«

»Aber warum denn so abweisend?« Die Frau ließ nicht locker. »Seht nur – unsere Musikanten setzen wieder an. Habt Ihr nicht doch Lust, mit mir ein Tänzchen zu wagen?«

Albrecht hatte kaum wahrgenommen, was sie sagte, denn er hatte Anna Elisabeth gesehen. Am Arm des Mannes, mit dem sie gekommen war, schritt sie gerade zum Tanzboden. Ein Blümchen aus rotem Papier steckte in ihrem Haar ... es stammte sicherlich von irgendeinem Tandhändler draußen auf dem Markt. Den Mantel hatte sie abgelegt; darunter trug sie heute ein rostrotes wollenes Kleid, dessen schwarzes Mieder mit glänzenden Kordeln verschnürt war. Das Leinenhemd darunter leuchtete blendend weiß.

Wie schmal ihre Taille war, und wie wundervoll ihre Haut mit der dunklen Seide ihres Haares kontrastierte! Albrecht sog heftig die Luft in die Lungen, bemerkte erst jetzt, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Sein Herz hämmerte so laut – er glaubte, seine dumpfen Schläge hören zu können.

Der Mann da vorn umschlang Anna Elisabeth mit seinen groben Armen. Sie legte graziös ihre kleinen Hände auf seine Schultern ... Albrecht spürte, wie ihm bei diesem Anblick heiß wurde. Er schob Christoph beiseite und fasste die Hand der aufdringlichen Person mit den schmalen Lippen. »Kommt«, sagte er, »Ihr sollt Euer Tänzchen haben – wenn Ihr mich danach in Ruhe lasst!«

Die Frau lachte schrill auf und ließ sich nur allzu gern zum Tanzboden führen. »Wer weiß«, kicherte sie, indem sie mit gezierten Schritten neben Albrecht hertrippelte, »vielleicht gefällt Euch das Tanzen ja auch – und Ihr macht noch eine zweite und dritte Runde mit mir ...«

Albrecht hörte nicht auf ihr Geschwätz. Während die ersten Takte erklangen, suchte er mit Blicken nach der einen, der seine ganze Aufmerksamkeit galt. Anna Elisabeth und der grobe Klotz drehten sich in der Mitte des Tanzbodens; Rebmann machte unbeholfene Sprünge, sie verstand es meisterhaft, seine tapsigen Fehltritte immer wieder auszugleichen.

Es galt, ihr ins Blickfeld zu kommen. Albrecht schob seine mehr als willige, unablässig grinsende Tänzerin zum Zentrum des dicht gedrängt tanzenden Bauernvolkes. Schritt für Schritt näherte er sich Anna Elisabeth und diesem Kerl ... und dann sah sie ihn.

Sie lächelte ihn an. »Albrecht«, sagte sie – er konnte es an ihren Mundbewegungen erkennen – »Albrecht Hund ... !«

Er lächelte zurück, spürte, wie seine Gesichtsmuskeln sich völlig verkrampften, hob grüßend die Hand. Sie winkte auch, und der grobe Klotz wandte ihm den Kopf zu. Doch Rebmann lächelte nicht, sondern nickte nur kurz.

Albrecht atmete gepresst. Das schreckliche Weibsbild, mit dem er sich im Kreis drehte, versperrte ihm die Sicht, und das war mehr als nur ein Ärgernis. Außerdem schwatzte sie drauflos, versuchte ihn dauernd in eine Unterhaltung hineinzuziehen, wonach ihm weiß Gott nicht der Sinn stand. Am liebsten hätte er sie einfach stehen lassen und wäre zu Anna Elisabeth hinübergegangen. Am liebsten hätte er diesen Rebmann einfach weggestoßen und sie in die Arme genommen ...

Der langsamen Anfangsweise folgte eine schnell zu tanzende Volte. Jetzt konnten die besseren Tänzer sich zeigen. Einige der jüngeren Männer hatten ihre Tänzerinnen schon um die Taille gefasst und wirbelten sie jetzt zu den lebhafteren Klängen des Springtanzes in die Höhe. Röcke flogen, mehr oder weniger hübsche Frauenbeine wurden sichtbar, manche Mädchen kreischten erschrocken auf, wenn von ihren Reizen mehr enthüllt wurde, als ihnen lieb war. Der grobe Klotz hatte Anna Elisabeth an der Hand genommen und wollte sie von der Tanzfläche herabführen.

Albrechts Tänzerin dagegen hielt ihn eisern fest. »Jetzt wird’s erst richtig lustig«, schnaufte sie und grinste anzüglich. »Herr Nachbar – werdet Ihr mich wohl auch so hoch werfen können?«

Albrecht fühlte sich abgestoßen. »Das könnte ich schon«, erwiderte er trocken, »aber ich glaube nicht, dass ich Euch wieder fangen würde.«

Die Frau kreischte auf. »Ihr seid herrlich«, jubilierte sie, »einfach herrlich!«

Doch er hatte es endgültig satt, ihr Geschwätz länger zu erdulden. »Verzeiht«, sagte er und machte sich aus ihrem klammernden Griff los, »ich muss jemanden begrüßen. Vielleicht sehen wir uns später noch einmal.«

Damit ließ er sie stehen und steuerte einfach auf Anna Elisabeth zu, die die Stufen des Tanzbodens bereits herabgestiegen war und am Arm des groben Klotzes zum Tresen geleitet wurde. »Jungfer Anna«, rief er sie an, »auf ein Wort!«

Sie drehte sich zu ihm um. Ihr Gesicht schien förmlich zu leuchten. In ihren Augen schimmerte ehrliche Freude. »Wie sonderbar, Euch hier zu sehen«, sagte sie, »das hätte ich nicht erwartet!«

Er sah sie an und fand keine Worte. Sein Herz dröhnte so sehr, dass es ihm beinahe die Brust sprengte. Er fühlte sein Blut in den Ohren rauschen.

Sie musterte ihn verwundert. »Was führt Euch so bald wieder in diese Gegend?«, wollte sie wissen.

»Eine Nachricht ...«, stammelte er, »ich habe eine Nachricht zu überbringen ...«

Der grobe Klotz mischte sich ein. »Und wo Ihr schon einmal hier wart, kam Euch das Erntefest wohl gerade recht, was?«, sagte er gut gelaunt. Er schien bereits ziemlich angetrunken, denn er schwankte ein wenig und sein Atem roch stark nach Bier.

»Man soll die Feste feiern, wie sie fallen«, erwiderte Albrecht mangels einer besseren Antwort.

»Wie klug bemerkt«, spottete Anna Elisabeth.

Albrecht schämte sich. »Eigentlich wollte ich Euch um den nächsten Tanz bitten, Jungfer«, sagte er, seine Verlegenheit bekämpfend. »Wenn es gestattet ist ...«

Der letzte Satz war für Johannes Rebmann bestimmt gewesen. Doch der grobe Klotz brauchte einen Augenblick, bis er das begriffen hatte. »Es ist gestattet«, sagte er geschmeichelt. »Ihr habt wohl Anstand und Sitte genug, dass ich Euch meine Braut für einen Gang überlassen kann.«

»Seid bedankt«, murmelte Albrecht, »ich weiß Euer Vertrauen zu schätzen.« Er fühlte sich leichtköpfig, beinahe schwindlig.

Anna Elisabeth reichte ihm die Hand. »Ihr habt zwar vergessen, mich zu fragen, ob auch ich einverstanden bin«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln, »aber die Antwort ist ja.«

Hannes Rebmann war bereits auf dem Weg zum Tresen. Albrecht fühlte den Druck ihrer schlanken Finger und spürte, wie seine Hand zu beben begann. »Was habt Ihr denn?«, fragte Anna Elisabeth. »Ihr seht so blass aus – ist Euch nicht wohl?« »Doch«, sagte er, »mir geht es gut ... sehr gut.«

»Dann kommt«, forderte Anna Elisabeth ihn auf. »Gleich ist diese wilde Volte vorbei, und es wird wieder ein langsameres Stück gespielt. Das strengt nicht so an.«

Er folgte ihr die Stufen zum Tanzboden hinauf. Er konnte nicht antworten – all seine Kraft schien ihn verlassen zu haben. Noch nie hatte er sich so schwach und hilflos gefühlt, und gleichzeitig so voll wilder Freude. Der Augenblick im Stall, da sie an seiner Brust gelegen hatte, fiel ihm mit plötzlicher Deutlichkeit wieder ein; nur noch wenige Herzschläge, dann würde sie von neuem in seinen Armen liegen, er würde –

»Albrecht Hund ...«, sagte sie neben ihm, »ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich Euch je wiedersehen würde!«

»Mögt Ihr die schnellen Tänze denn nicht?«, fragte er unpassenderweise.

»Hannes mag sie nicht«, gab sie zur Antwort. »Er ist kein sonderlich guter Tänzer. Der Zweitritt liegt ihm mehr.«

Die Musik endete mit einem heftigen Paukenschlag. Atemlose Paare mit erhitzten Gesichtern verließen die Tanzfläche, andere stiegen herauf und suchten sich einen Platz. Anna Elisabeth zog Albrecht an den hinteren Rand, nahe bei den Spielleuten. Hier ließ sie seine Hand los, lief zu dem Zinkenbläser hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann, ein pausbäckiger kleiner Dicker, nickte lachend. Dann setzte er sein Instrument an.

Die Pauke schlug einen Wirbel. Anna Elisabeth war wieder an Albrechts Seite und nahm mit einem spitzbübischen Lächeln Aufstellung. »Nun könnt Ihr zeigen, ob Ihr besser tanzt als Hannes«, flüsterte sie.

Er umfasste ihre Taille. Sie legte die Hände um seinen Nacken. Die Volte, die jetzt erklang, war noch viel lebhafter als die vorige. Anna Elisabeth stieß einen kleinen Schrei des Erschreckens aus, als Albrecht sie seitlich hochschwang und sie mit einem zweiten kurzen Drehschwung an seine Brust beförderte.

Er hielt sie eng, sogar bei den Schreitschritten zwischen den Sprüngen. Unbewusst tanzte er mit ihr all die Figuren, die er von den Hoffesten her kannte. Weil er Anna Elisabeth so nah an seiner Seite führte, fiel ihm gar nicht auf, dass ihr die komplizierteren Schrittfolgen der Volte unbekannt waren. Sie folgte, so gut sie es vermochte. Und ihm misslang kein einziger Hebeschwung, so dass niemand einen Blick unter ihre Röcke geboten bekam.

Als die Spielleute das Stück mit einem wilden Akkord beendeten und Albrecht Anna Elisabeth nach dem letzten Schwung absetzte, saugte sie atemlos Luft in ihre Lungen. »Puh«, sagte sie, »wo habt Ihr den Hupfauf so tanzen gelernt?«

»Den – was?«

»Den Hupfauf. Wie nennt Ihr den Tanz denn?«

»Vo... Weiß nicht«, gab er zurück. »Ist das der richtige Name – Hupfauf?«

»So sagen die Leute. Aber all die schwierigen Schritte und Schrittchen – auf die versteht sich hier keiner.«

»Ach?«

»Auch mir waren sie ganz neu.« Anna Elisabeth hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Tanzt man so in ... aus welcher Stadt kommt Ihr eigentlich?«

Er wusste nicht gleich, was er antworten sollte. Sein Blick tauchte tief in ihre Augen, die ihn gefangen hielten. »Ich...«, begann er zögernd, »ich bin in ... Heilbronn zu Hause, und ...«

Siedend heiß fiel ihm ein, dass er Christoph Amorbach als ihre Heimatstadt eingeschärft hatte. Ein Blick über Anna Elisabeths Schulter zeigte ihm, dass Christoph sich am Tresen gerade sehr gut mit diesem Johannes Rebmann zu unterhalten schien. Die beiden Männer lachten, tranken sich zu, schienen sich bestens zu verstehen.

»Aber zurzeit hab ich meinen Standort in Amorbach«, fügte er seiner Ausführung hastig hinzu.

»Euren Standort? Was meint Ihr damit?«

»Nun ...« Albrecht bemerkte, dass sein Arm immer noch um Anna Elisabeths Taille geschlungen war. Er lächelte. »Mein Arm«, sagte er, »hängt fest an meiner Schulter. Doch sein augenblicklicher Standort ist –«

Anna Elisabeth öffnete die Augen weit. Einen Herzschlag lang sah sie ihn verwirrt an, dann errötete sie heftig und befreite sich abrupt aus seinem Griff. »Ihr führt immer noch die gleichen lockeren Reden, Albrecht Hund«, sagte sie bissig, »und Ihr könnt es einfach nicht lassen, Euch über mich lustig zu machen!«

Er griff nach ihrer Hand. »Anna«, erwiderte er sanft, »das liegt mir fern. Ich wollte lediglich Eure Frage beantworten. Und da Ihr nun wisst –«

»Ich weiß jedenfalls, wer Amor ist«, hauchte Anna Elisabeth in unterdrückter Empörung. »Ihr sagtet, der augenblickliche Standort Eures Armes sei –«

»Moment ... Moment!« Albrecht hatte plötzlich die größte Mühe, ein lautes Lachen zurückzuhalten, das unter allen Umständen herauswollte. »Eins muss ich Euch lassen, Anna – Eure Gedanken gehen höchst verschlungene Wege. Es fällt mir nicht leicht, Euch zu folgen.«

Ihr Blick war immer noch ungnädig. »Inwiefern?«, fragte sie. »Es dürfte Euch doch klar sein, dass ich Eure Anspielungen verstehe!«

Albrecht schlug das Herz plötzlich bis zum Hals. Wie süß ihr Mund sich rundete, wenn sie sprach – und wie zauberhaft der Schlag ihrer Wimpern sekundenlang ihre Augen verschattete! Die Flügel ihrer schmalen Nase bebten ... und die Linie ihrer Oberlippe entsprach genau der Waffe des kleinen Liebesgottes, den sie eben erwähnt hatte. Diesen doppelt geschwungenen Bogen zu küssen – das musste höchste Glückseligkeit sein ...

Er senkte den Kopf, neigte sich dem lockenden Antlitz entgegen, und Anna Elisabeth wich ihm diesmal nicht aus. Ihr Blick hatte jetzt etwas Trotziges, Kämpferisches. »Nun?«, sagte sie. »Wollt Ihr mir darauf die Antwort verweigern?«

»O nein«, erwiderte er, »und vielleicht gefällt Euch meine Antwort sogar ...«

»Das kann ich mir kaum vorstellen.« Sie kniff die Lippen zusammen, doch er sah, dass sie ein Lächeln verbarg.

»Dass Ihr gewitzt seid, ist mir schon bei den ersten Worten aufgefallen, die Ihr an mich gerichtet habt«, sagte er.

Sie senkte die Lider. In diesem Moment, da der Zauber ihrer Augen ihn nicht bannen konnte, nahm er all seinen Mut zusammen. Er neigte sich noch tiefer zu ihr hinab und berührte mit dem Mund sachte ihre Lippen. »Und Ihr habt nicht nur einen klugen Kopf«, fügte er flüsternd hinzu, »Ihr seid das liebreizendste Geschöpf, das mir je begegnet ist ...«

Sie zitterte. Sie öffnete die Augen wieder, doch Zorn und Ablehnung konnte er in ihnen nicht entdecken – nur ein jähes Erschrecken. »Lasst das sein, Albrecht«, wisperte sie, »ich bin versprochen. Wenn uns jemand sieht!«

Sie war einen Schritt zurückgetreten, aber er ließ sie nicht fort. Als die Musik erneut einsetzte, hielt er sie an den Händen fest und zog sie in seine Arme. »Ein langsamer Tanz«, sagte er, »den müsst Ihr mir noch schenken, Anna!«

»Aber mein Verlobter ...« Sie warf einen unsicheren Blick zum Tresen hinüber.

»Der scheint mir gut aufgehoben«, sagte Albrecht. »Er schaut nicht einmal her.«

Tatsächlich ließ sich Hannes Rebmann gerade einen neuen Becher Bier einschenken, und seine Aufmerksamkeit galt voll und ganz dem jungen Mann, der neben ihm stand und ihm lachend Bescheid tat. Für die Vorgänge auf dem Tanzboden hatte er keine Augen.

Anna Elisabeth nahm einen tiefen Atemzug. »Aber nur noch den einen«, sagte sie zu Albrecht. »Unwiderruflich ...«

Sie ließ sich von ihm in die Tanzreihe führen. Doch den altmodischen Reigen, den die Musik jetzt spielte, kannte Albrecht nicht. Immer wieder kam er aus dem Takt, brachte die Ordnung durcheinander, konnte auch mit Anna Elisabeths Hilfe nicht recht hineinfinden. Schließlich zog er sie aus der Reihe heraus. Am Rand war genügend Platz; da konnte man sich drehen, ohne die anderen zu behindern.

Anna Elisabeth zögerte. »Sonderbar«, meinte sie, »dass Ihr wohl den Hupfauf in Vollkommenheit, aber dafür den einfachen Reigen überhaupt nicht beherrscht.«

Woher soll ich denn wohl alle Bauerntänze können, dachte Albrecht. Er umschlang Anna Elisabeth mit beiden Armen. »Mir liegt es eher, meine Tänzerin immer bei mir zu haben«, sagte er, während er sie fester an sich zog. »Dauernd zu wechseln und eine andere führen zu müssen – das gefällt mir gar nicht!«

»Aber so ist das nun mal beim Reigen«, gab Anna Elisabeth zurück. »Ich muss ja auch den anderen Männern dabei die Hand reichen – und glaubt mir, sie sind nicht alle die besten Tänzer!«

Albrecht lachte leise. »Tanzen wir doch allein«, sagte er, »die Musik wird uns schon sagen, welche Schritte wir machen müssen.«

Er wiegte sich im Rhythmus der einfachen Weise. Anna Elisabeth staunte über die Schritte, die er offenbar neu erfand und lächelnd mit ihr durchtanzte, über die Leichtigkeit seiner Bewegungen, die Grazie seiner Haltung. »Mit wem tanzt Ihr, wenn nicht gerade mit mir?«, fragte sie. »Wo tanzt man so, wie Ihr es mir hier zeigt?«

»Ich tanze nur sehr selten«, wich Albrecht aus.

»Das glaube ich nicht.« Anna Elisabeth blieb stehen und sah ihn an. »Ihr seid sicherlich auch versprochen – genau wie ich. Oder habt Ihr eine Geliebte?«

Tief in ihren braunen Augen schimmerte eine Spur von Furcht – er konnte es deutlich erkennen. »Wie kommt Ihr darauf?«, fragte er verwundert.

»Es kann eigentlich gar nicht anders sein«, murmelte Anna Elisabeth. »Ein Mann wie Ihr ist bestimmt nicht mehr ungebunden. Eure Verlobte –«

»Ich habe keine.«

Doch Anna Elisabeth ließ sich nicht von ihrem Gedanken abbringen. »Und wie heißt Eure Geliebte?«, fragte sie störrisch.

Albrecht entschloss sich, sie jetzt wirklich einmal ein bisschen zum Narren zu halten. »Viola«, murmelte er zärtlich, »sie heißt Viola ... da Gamba.«

»Seht Ihr?« Anna Elisabeth wandte den Kopf ab. »Jetzt sagt Ihr endlich die Wahrheit.«

»Ich sage Euch immer die Wahrheit, Anna.«

Sie sah ihn nicht an. »Ein merkwürdiger Name«, sagte sie leise, als habe sie seine Bemerkung nicht gehört.

»Meine Viola stammt aus Cremona – im fernen Italien.«

Anna Elisabeth hob den Blick. Der Funke der Angst war verschwunden. Stattdessen erkannte Albrecht jetzt eine leise Traurigkeit in ihren Augen. »Und Ihr liebt sie sehr«, stellte sie fest, »der Klang Eurer Stimme verrät es mir.«

»Ich kann es kaum erwarten, ihre runden Hüften wieder einmal zwischen meinen Schenkeln zu spüren«, sagte Albrecht lächelnd, »es ist so wunderbar, die Fingerspitzen über ihren Hals gleiten zu lassen und mit meinem Bogen ihre Saiten zu streicheln.«

Anna Elisabeths Augen sprühten plötzlich kleine zornige Blitze. »Ihr seid schamlos, Albrecht Hund«, stieß sie hervor.

»Ohne jegliche Hemmungen schäkert Ihr mit mir, während Viola –«

»Schäkern nennt Ihr das?«, unterbrach sie Albrecht, noch immer lächelnd.

»Ihr habt mich ... geküsst«, flüsterte Anna Elisabeth, »vorhin habt Ihr mich sogar geküsst! Und Eure Geliebte –«

Er unterbrach sie noch einmal. »Meine Viola hätte nicht das Geringste dagegen«, sagte er schnell, »das müsst Ihr mir glauben. Sie ist nämlich –«

»Ich will gar nicht wissen, was diese Welsche für eine ist«, fuhr Anna Elisabeth ihm ungestüm in die Rede. »Sie hat ältere Rechte – ganz abgesehen davon, dass ich ohnehin vergeben bin! Sofort lasst Ihr mich los ... sonst ...«

Der Tanz war zu Ende, und die Musik schwieg. Anna Elisabeth war ebenfalls verstummt. Ihre Augen schienen allen Glanz verloren zu haben. Albrecht erschrak. »Bitte, Anna – ich glaube, ich schulde Euch eine Erklärung«, bettelte er. »Die Viola, von der ich sprach, und die ich wirklich sehr liebe, ist nämlich –«

Die Tür zum Saal wurde aufgestoßen. Eine Gruppe von jungen Männern drängte johlend herein und strebte sogleich zum Tresen. Alle waren auffällig bunt und teuer gekleidet; sie trugen Lederwämser, zwiefarbene Hosen und Degen an der Hüfte. Einer von ihnen, ein hoch gewachsener, breitschultriger Kerl mit einer Narbe, die sich längs über die linke Seite seines Gesichts zog und ihm etwas Furchteinflößendes verlieh, schaute zum Tanzboden herüber. Sein Blick blieb an Albrecht hängen. »He, Herr Vetter«, rief er, während sich sein entstelltes Gesicht zu einem zerfurchten Grinsen verzog, »ich sehe, Ihr seid wieder bei Eurer liebsten Tätigkeit!«

Albrecht hatte mitten im Satz innegehalten. Hastig wollte er der Tür den Rücken zukehren, doch es war zu spät. Der Riese nahm sein federgeschmücktes Barett ab, schwenkte es in einer äußerst übertriebenen Verbeugung und rief noch einmal: »Wolf von Weißenstein – Holla! Seid Ihr schon so betrunken, dass Ihr mich nicht mehr erkennt, Bruder?«

Hätte Albrecht den Gruß des Mannes jetzt nicht zur Kenntnis genommen – er hätte sich einer groben Beleidigung schuldig gemacht. Also ließ er Anna Elisabeths Hand fahren und grüßte ebenfalls: »Hinzheim – nanu! Was treibt Euch denn hierher?«

Der Riese lachte und setzte sich sein Federbarett schief aufs Ohr. »Dasselbe wie Euch, Herr Vetter«, sagte er. »Es gibt doch nichts Schöneres, als sich gelegentlich mit hübschen Bauerntöchtern zu verlustieren.«

»Nicht wahr?«, erwiderte Albrecht mit gespielter Munterkeit. »Ich habe mir gedacht, man muss sich am Erntefest nicht unbedingt einsam zu Hause betrinken. Hier herrscht wenigstens gute Stimmung ...«

Der Junker von Hinzheim grinste. Er musterte Anna Elisabeth mit einem scheelen Seitenblick. »Ich sehe, Ihr beweist wieder einmal Geschmack, Weißenstein«, sagte er und dehnte seine Worte über Gebühr, »gestattet Ihr, dass ich mir von diesem reizenden Mund einen Kuss genehmige?«

Bei Albrecht spannten sich unter dem dreisten Blick des Junkers alle Muskeln. »Nicht so schnell, Herr Vetter«, gab er zurück.

»Ihr wollt Euch mit mir anlegen?« Hinzheim verzerrte sein entstelltes Gesicht. »In diesem Dorf hab ich die älteren Rechte – das merkt Euch!«

Seine Hand lag auf dem Knauf seines Rapiers. Albrecht erwiderte den hochmütigen Blick des Junkers mit einem stählernen Lächeln. »Mag sein«, gab er zurück, »aber ich habe das entzückende Blümchen zuerst entdeckt. Mir gebührt darum auch der Vortritt.«

Hinzheim zog blank. Mit einem scharfen Zischen fuhr seine Waffe aus der Scheide. »Schlagen wir uns doch drum«, forderte er gereizt.

»Ich bin unbewaffnet.« Albrecht bemühte sich um einen ruhigen Ton. »Mit einem wehrlosen Gegner ist nicht gut fechten. Oder habt Ihr einen Faustkampf im Sinn?«

Der Junker von Hinzheim suchte nach den passenden Worten. Sekundenlang musterte er Albrecht ärgerlich. Dann steckte er die Waffe wieder in die Scheide. »Dummes Zeug«, schnarrte er. »Es sieht Euch ähnlich, Weißenstein, ohne Euren Degen herumzulaufen. Wenig standesgemäß, Herr Vetter – wenn ich das bemerken darf!«

»Nun ja«, sagte Albrecht, »aber unter Bauern ist selbst ein waffenloser Edelmann König.«

Hinzheim wusste nicht recht, was er von dieser Antwort halten sollte. Er zuckte die Achseln. »Wenn Ihr meint«, sagte er und trat auf Anna Elisabeth zu, »dann gebe ich mich eben mit einem Tupfer auf die Wange zufrieden ... einstweilen!«

Albrecht spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Er handelte ohne lange abzuwägen, zog Anna Elisabeth an sich, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie wild auf den Mund. Sie schien in seinen Armen zu erstarren. Doch ihre Lippen waren weich und nachgiebig und wehrten seinen Angriff nicht ab – im Gegenteil. Bebend öffneten sie sich, nahmen Albrechts Zärtlichkeiten willig, ja begierig entgegen und erwiderten sie sanft. Plötzlich, ganz unvermittelt, bog Anna Elisabeth den Kopf zur Seite und beendete den Kuss.

Der Junker von Hinzheim war nicht dazwischengegangen, aber er hatte mit unverhohlen lüsternen Blicken zugesehen. »Nun«, fragte er Albrecht gespannt, »wie schmeckt sie?«

Albrecht holte tief Luft, ließ Anna Elisabeth los und schob sie von sich weg. »Großer Gott, Hinzheim«, sagte er und zog eine Grimasse, »Ihr habt Euch ganz umsonst erregt. Die da – die würde Euch keinen Spaß machen. Sie hat mindestens drei Unzen rohen Knoblauch gegessen!«

»Was?«, schnaufte der Junker von Hinzheim. »Bruder – dann könnt Ihr sie behalten. Eine, die aus dem Hals stinkt, ist das Letzte, was ich mir für mein Vergnügen wünsche! Knoblauch ... Pfui Teufel!«

Er brach in schallendes Gelächter aus. Albrecht spürte, wie die Anspannung wieder von ihm wich. »Geh wieder zu den Deinen, Mädchen«, befahl er Anna Elisabeth und schubste sie noch einmal. »Von mir kannst du keinen Tanz mehr erwarten. Du riechst wirklich allzu streng ...« Er wandte sich an den Junker von Hinzheim. »Wollt Ihr Euch erst nach einer Tänzerin umsehen, Herr Vetter – oder trinken wir einen Becher zusammen?«

»Das Letztere«, erwiderte Hinzheim und enthüllte grinsend seine schadhaften Schneidezähne. »Ihr wisst doch, was für ein gottserbärmlicher Tänzer ich bin. Springen und Schreiten liegen mir nicht besonders.« Er machte eine obszöne Hüftbewegung. »Stöße sind mehr mein Fall!«

»Später«, sagte Albrecht und zwinkerte dem Junker zu. »Der Wirt hat gutes Bier – man erkennt es an den vielen Säufern, die den Tresen belagern!«

»Richtig – gesellen wir uns dazu«, gröhlte Hinzheim. »Geübt im Saufen sind wir allemal – was, Weißenstein?«

Albrecht entgingen Hinzheims Bemerkungen. Sein Blick hing an Anna Elisabeths Gesicht, das kreidebleich geworden war. Sie starrte ihn an; ihr Mund formte Worte, die er gerade noch verstehen konnte: »Weißenstein ... Wolf von Weißen- stein! Ihr seid einer von denen?«

Ihre Augen waren riesengroß. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Notgedrungen nickte er, öffnete den Mund, brachte es aber nicht fertig, etwas zu erwidern. Sie wandte den Blick nicht ab. Langsam, ganz langsam sammelten sich Tränen in ihren Augen.

Hinzheim hatte es bemerkt. »Tja, mein Kind«, spottete er und verzog sein narbenzerfurchtes Gesicht zu einem neuen, bösartigen Grinsen, »das hättest du dir früher überlegen müssen, bevor du dem Knoblauch so übermäßig zugesprochen hast! Nun bist du deinen hübschen Tänzer los, und stechen wird er dich auch nicht. Oder legt Ihr doch noch Wert darauf, Weißenstein?«

Er versetzte Albrecht einen derben Rippenstoß und gab noch einmal einen röhrenden Lacher von sich. Anna Elisabeth sagte nichts auf Hinzheims rüpelhafte Worte, sondern knickste nur und ging langsamen Schrittes zu Hannes Rebmann hinüber, der noch immer mit Christoph am Tresen stand.

Albrecht senkte zutiefst beschämt den Kopf. Schmerz und Trauer, die deutlich in Anna Elisabeths Blick zu erkennen gewesen waren, trafen ihn mit umso größerer Gewalt. Er hielt den Junker von Hinzheim so lange am Tanzboden in ein Gespräch verwickelt, bis Anna Elisabeth und Rebmann den Saal verlassen hatten. Erst dann brachte er die Kraft auf, mit seinem Standesgenossen zum Tresen zu gehen und sich bis zur Besinnungslosigkeit voll laufen zu lassen.