Wir gehen zur Kirchweih«, sagte Anna Elisabeth und streichelte dem kleinen Mädchen über das Strubbelhaar, »ich sorge dafür, dass ihr alle einen Wecken bekommt – und wenn ich dafür singen und tanzen muss!«

Das Kind lachte und klatschte in die Hände. »Kommt Mutter vielleicht auch hin?«, fragte es erwartungsvoll.

Anna Elisabeth richtete den Blick wieder auf ihre Näharbeit und stichelte weiter an dem dicken braunen Wollzeug, das auf ihren Knien lag. »Nein«, gab sie der Kleinen zur Antwort.

»Warum?«, wollte das Kind wissen.

»Sie kann ja nicht«, sagte Anna Elisabeth, »sie ist doch bei den Engeln.«

»Aber vielleicht lassen die Engel sie gehen«, meinte die Kleine hoffnungsvoll, »dann kommt sie doch, und wir feiern alle zusammen ...«

»Ach, Mariechen.« Anna Elisabeth legte die Nadel für einen Augenblick aus der Hand und sah das Kind an. »Wenn sie das könnte, würdest du sie gar nicht sehen.«

»Warum?« Mariechen ließ nicht locker.

»Weil sie jetzt selbst ein Engel ist.«

»Aha.« Die Kleine legte den Kopf schief. »Aber warum kann ich sie nicht sehen?«

»Weil Engel unsichtbar sind.« Anna Elisabeth nahm ihre Arbeit wieder auf. Sechs Wochen war es jetzt her, dass man die Barbara zu Grabe getragen hatte, und die anderen Kinder hatten auch begriffen, dass ihre Mutter nicht wiederkehren würde. Nur die kleine Marie mit ihren drei Jahren wollte es immer noch nicht wahrhaben.

Jetzt fragte sie wieder: »Warum?«

Anna Elisabeth gingen die Erklärungen aus. »Sieh mal, Schätzchen«, erwiderte sie geduldig, »den lieben Gott können wir Menschen doch auch nicht sehen – denn er lebt im Himmel. Aber er kann uns sehen und weiß immer, was wir tun.«

Das Kind machte ein nachdenkliches Gesicht. »Kann Mutter mich auch sehen?«, wollte es wissen.

»Ich glaub schon«, sagte Anna Elisabeth. »Sie schaut vom Himmel auf dich herab, und –«

»Und warum kommt sie dann nicht einfach mal zu mir herunter?« Marie war immer noch nicht zufrieden. »Es wär so schön, wenn sie da wär – auch wenn ich sie nicht sehen könnt!«

»Vielleicht ist sie ja manchmal da«, mutmaßte Anna Elisabeth. »Vielleicht hat der liebe Gott sie zu deinem Schutzengel gemacht, und sie passt jetzt auf dich und deine Geschwister auf...«

Marie schob die Unterlippe vor. »Ich will aber, dass ich sie sehen kann«, sagte sie schmollend. »Sie soll wiederkommen – das soll der liebe Gott machen!« Sie heftete forschend den Blick auf Anna Elisabeths Gesicht. »Du hast doch gesagt, der liebe Gott kann alles, Annelies!«

Anna Elisabeth steckte die Nähnadel in den Stoff und schnitt einen neuen Faden ab. »Das kann er«, bestätigte sie dem Kind, »aber willst du wirklich, dass sie aus dem schönen Himmel wieder in eure kleine Hütte kommt? Ich meine – sie hat es doch jetzt so viel besser ...«

Mariechen dachte nach, das sah man ihrer ernsten Miene an. »Ist es immer warm im Himmel?«, fragte sie schließlich. »Und hat meine Mutter immer genug zu essen ... auch Wecken mit Rosinen?«

»Sie kriegt im Himmel alles, was sie sich nur wünschen kann«, sagte Anna Elisabeth.

»Alles?« Mariechen machte große runde Augen. »Sogar ... ein Stück Braten und weißes Brot, so viel sie will?«

»Aber ja!«

»Und sie muss nicht mehr so viel arbeiten – und es tut ihr nie der Rücken weh, und die Sorgen sind alle weg?«

»Nie mehr.«

»Dann will ich, dass sie im Himmel bleibt.« Die Worte des Kindes waren durchdrungen von Überzeugung. »Ich hab sie lieb ... auch wenn ich sie noch lieber bei mir hätte ...«

Anna Elisabeth lächelte über das ernste, gläubige Antlitz des kleinen Mädchens. Gleichzeitig stiegen ihr unvermittelt die Tränen in die Augen. Wie bescheiden sich das Kind den Himmel vorstellte – gutes Essen hin und wieder, Wärme, weniger Arbeit und kein Schmerz ... Das war weiß Gott nicht zu viel verlangt – auch nicht für diese Welt.

Sie fädelte die Nadel ein und arbeitete weiter. Der Kindermantel, den sie nähte, sollte für Mariechen sein. Zwei warme Jacken hatte sie bereits für Matthias’ kleine Jungen gemacht; die dicke Decke, die der Reiter damals einfach im Stall hatte liegen lassen, war groß genug gewesen und hatte dazu ausgereicht. Geistesabwesend streichelte sie mit dem kleinen Finger über die weiche, flauschige Wolle. Hatte der Fremde seine Decke nur vergessen – oder hatte er sie als zusätzliche Zahlung für Unterkunft und Speise gedacht? Anna Elisabeth wusste es nicht. Sie vermutete das Erstere, denn er war schon ein wunderlicher Kerl gewesen, dieser Albrecht Hund aus Schwarzental...

»Was hast du, Annelies?«, fragte Mariechen. »Du machst so ein finsteres Gesicht.«

»Ich denke, du solltest schnell heimlaufen«, wich Anna Elisabeth aus. »Ganz bestimmt warten dein Vater und die anderen schon mit dem Essen – Gertrud hat heute Hirsebrei gekocht.«

»Mit Sirup?«

»Mit Salz.«

Das plötzliche Leuchten in dem Augen des Kindes verschwand wieder. Dann kehrte es zurück. »Mit Salz schmeckt’s auch gut«, sagte Mariechen, »nur ohne alles nicht ...«

»Freu dich auf den Kirmesweck«, empfahl Anna Elisabeth lächelnd. »Jetzt ab mit dir. Später kommst du dir deinen neuen Mantel abholen – und ein Butterbrot.«

Das Kind nickte begeistert und sauste los. Seine Füßchen steckten in nagelneuen ledernen Bundschuhen – festen, solide benagelten kleinen Stiefeln, wie der Müllerhannes sie vor ein paar Tagen für alle Kinder des armen Matthias gemacht hatte. Überhaupt hatten sich alle aus dem Dorf daran beteiligt, die Not der Familie ein wenig zu lindern. Matthias und seine Kinder würden diesen Winter sicherlich nicht mehr darben müssen als alle anderen auch.

Anna Elisabeth stand auf und ließ die Kleine hinaus. Einen Augenblick blieb sie an der Tür stehen und schaute zum Weiher hinüber, der jetzt, an zwei Seiten umrahmt von braunem Schilf, in bleigrauer Glätte dalag. Die Buchen, die dahinter zu sehen waren, prangten in goldenem Herbstlaub, das an einem trüben Tag wie heute beinahe den Sonnenschein ersetzte. Von dort hinten, wo der Waldweg begann, war sie damals mit dem fremden Reiter ins Dorf gekommen – bei Einbruch der Dunkelheit war das gewesen, und sie erinnerte sich sonderbarerweise noch in allen Einzelheiten daran.

Er hatte freche Reden geführt. Doch was er in der Stube mit den Männern gesprochen hatte, das hatte Hand und Fuß gehabt. Er hatte sich aufgeführt wie einer, der das Befehlen gewohnt war – aber sein Gewand war abgetragen gewesen.

Sie atmete tief ein und ging wieder in die warme Stube. Der Wind pfiff heute besonders kalt. Sie warf noch ein Scheit aufs Feuer. Funken sprühten, wirbelten hinauf in den Kamin. Wo er jetzt wohl sein mochte, der fremde Reiter? Sie hatte ja bei seiner Abreise kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Zu sehr hatte sie sich geschämt, weil sie doch wie ein kopfscheues Rindvieh vor ihm davongelaufen war, im Stall, am Abend zuvor ...

Nachträglich schüttelte sie den Kopf. Alles, was recht war – aber ein überheblicher Tropf war dieser Albrecht Hund schon gewesen, und es ging gar nicht an, dass sie immer noch an ihn dachte. Bald musste der Vater heimkommen, der heute zusammen mit dem Hannes in der Mühle eine neue Maische fürs Bier hatte ansetzen wollen. Wenn dann die Grütze nicht fertig war, würde es wohlverdiente Schelte setzen – abgesehen davon, dass ja auch das Mäntelchen noch fertig werden sollte.

Sie nahm den Breikessel, füllte ihn aus dem Eimer zur Hälfte mit Wasser und setzte ihn ans Feuer. Das Breimehl, eine Mischung aus grob gemahlener Gerste und zerstampftem Hafer, kam als Nächstes hinein. Sobald das Gericht zu dampfen begann, musste kräftig gerührt werden; der Vater liebte es gar nicht, wenn sein Essen angebrannt war.

Anna Elisabeth widmete sich dem Rühren mit Hingabe. Dabei überlegte sie angestrengt, womit sie die tägliche Speise heute verbessern konnte. Speck war keiner mehr da; auch an Gemüse standen ihr nur Kraut und Rüben zur Verfügung, und die schmeckten nicht zur Grütze.

Der Brei war beinahe gar. Einen großen Teil des vorhandenen Salzes hatte Anna Elisabeth heute Matthias’ ältester Tochter, der Gertrud abgetreten. Was war mit Lauch oder Zwiebeln? Davon hatte sie reichlich.

Sie rückte den Breitopf vom Feuer und nahm die Pfanne vom Wandhaken. Zwiebeln waren die richtige Wahl für heute. Wenn man sie über dem Feuer schälte, tränten die Augen nicht so. Nun die Pfanne ans Feuer – hurtig, Annelies. Himmel, war die schnell heiß ... schon rauchte sie beinahe! Schmalz hinein – einen Löffel voll, mehr nicht. Nun die Zwiebeln schneiden und schön braun braten ... wie lecker das duftete ...

Eine Prise Salz musste doch in den heißen Brei. Dann kamen die Zwiebeln dazu. In dem Augenblick, als alles gut vermischt war, überschritt der Hausherr die Schwelle. »Gott zum Gruß, Tochter«, polterte er, indem er einen schnellen Blick in den Kochkessel warf, »ich sehe, du hast genügend gekocht für zwei hungrige Mannsleute!«

Hannes war bei ihm, grüßte Anna Elisabeth mit einem Lächeln über die Schulter des Vaters. »Riecht gut, mein Mädchen«, sagte er, »du bist die beste Köchin weit und breit!«

»Warte erst einmal ab, bis du gekostet hast«, gab Anna Elisabeth zurück. »Mag sein, dass du dann ganz anders redest.«

»Kaum.« Hannes warf seinen Mantel ab und hängte ihn an den Haken neben der Tür. »Ich kenn doch deine Künste – wenigstens, was die Küche angeht.« Er zwinkerte übertrieben deutlich, so dass Anna Elisabeth lachen musste und der Vater finster die Brauen runzelte. »Unkeusche Reden gibt’s nicht unter meinem Dach!«, schnaubte er.

»Aber Vater!« Anna Elisabeth nahm dem Alten den Mantel ab und hängte ihn ebenfalls auf. »Du kennst uns doch und weißt genau, wie’s gemeint war.« Sie deutete auf den Tisch, wo schon die Löffel für das Essen bereitlagen. »Ihr könnt euch gleich niedersetzen.«

Dem kamen die beiden Männer nur allzu gern nach. Sie schöpften wortlos aus dem Breikessel, sobald er vor ihnen stand, und aßen heißhungrig ohne zu sprechen. Schon kurze Zeit später war der Kessel so gut wie leer. Hausherr und zukünftiger Schwiegersohn lehnten sich zufrieden zurück, während die Tochter abräumte, den eigenen bescheidenen Anteil aus dem Topf in ein Schüsselchen kratzte und dann Löffel und Kochgefäß reinigte.

Anschließend forderte der Vater Bier. »Die neue Maische ist angesetzt«, sagte er, »da können wir vom alten Bier ruhig noch den Rest wegtrinken.«

»Sonst wird’s eh sauer«, stimmte Hannes zu. »Nimm dir auch einen Becher und setz dich zu uns, Schätzle«, fügte er mit einem zärtlichen Blick auf Anna Elisabeth hinzu. »Nun wird’s bald ernst mit uns. Auf der Kirmes – da sollen es alle erfahren, sagt dein Vater. Freust dich auch so wie ich?«

Anna Elisabeth, die den Bierkrug schon vom Boden aufgehoben hatte, spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. »Auf der Kirmes?«, fragte sie nach. »Was meinst du denn damit, Hannes?«

»Na, unser Verlöbnis«, erklärte Hannes mit leuchtenden Augen. »Wir geben bekannt, dass wir einig sind, Annelies. Und nächsten Mai – da halten wir Hochzeit!«

Sie sah ihn mit großen Augen an. »Aber ich ...«, begann sie unsicher.

»Was meine Hausfrau können muss, das geht dir doch längst wunderbar von der Hand«, unterbrach Hannes sie gut gelaunt. »Du kochst wie keine andere, du kannst sauber machen, nähen, flicken, weben und was der Weibertugenden mehr sind. Und wie du mit Mattheis seinem Mariechen umgehst...«, er lächelte sie an, »die eigene Mutter würd’s auch nit besser machen!«

»Aber mein Vater braucht mich noch«, widersprach Anna Elisabeth. »Wer soll ihm denn den Haushalt führen?«

»Es wird höchste Zeit, Tochter, dass du heiratest«, mischte sich der Alte ein. »Hast schon viel zu lange deine Zeit vertrödelt. Ich will meine Enkel noch kennen lernen!«

Anna Elisabeth betrachtete die beiden Männer, wie sie mit ausgestreckten Beinen auf der Bank beim Tisch saßen und forschend zu ihr herüberschauten. Beide trugen Kittel und Hosen aus selbst gewebtem, graubraunem Wollzeug; ihre Füße steckten in klobigen Bundschuhen, deren Schnürriemen bis zum Knie hinauf die Hosen umschlossen. Und beide waren vom gleichen Schlag. Ihre Gedanken drehten sich immer nur um die tägliche Last und Plackerei, aus denen ihr Leben bestand, ums Essen und um die wenigen bescheidenen Lustbarkeiten, die sich gelegentlich boten. Anna Elisabeth war sicher: Hannes Rebmann der Müller hatte sich sicherlich noch nie gewünscht, lesen und schreiben zu können und die Welt außerhalb des Odenwaldes kennen zu lernen. Sie holte tief Luft. »Nun ja«, wich sie aus, »irgendwann wird’s so weit sein. Drängt mich nicht.«

Hannes gab auch für diesmal klein bei. »Weißt du«, sagte er, »wir werden das schönste Paar sein beim Tanz. Ich hab was für dich, Annelies – das sollst du tragen, wenn aufgespielt wird.« Er grub in seinem weiten Hosensack, förderte ein Päckchen zutage, hielt es ihr hin. »Mach’s auf und sag mir, ob es dir gefällt!«

Anna Elisabeth nahm das kleine Paket zögernd entgegen. »Was ist es denn?«, wollte sie wissen.

»Mach’s auf, dann siehst du’s!«

Sie wickelte den Leinenstoff auseinander, in den sein Geschenk eingeschlagen war. Ein Tüchlein kam zum Vorschein – ein Halstuch aus ganz zartem, hellblau gefärbtem Barchent, so fein, wie sie noch nie eines gesehen hatte. »Oh«, flüsterte sie, »das ist schön ... es muss ein Vermögen gekostet haben ...«

Hannes strahlte. »Dann magst du es?«, wollte er wissen. »Es soll mein Verlobungsgeschenk sein, Annelies!«

Sie fuhr mit den Fingerspitzen ganz sacht über den weichen Stoff. »Ja, ich mag es«, antwortete sie ehrlich, »aber ich weiß nicht, ob ich es annehmen kann ...«

»Warum denn nicht?«, ließ sich der Vater polternd vernehmen. »Wenn du erst die Frau Rebmännin bist, wirst du auf deinen Stand zu achten haben, und es schadet nicht, schon im Brautstand damit anzufangen!«

»Im Brautstand ...«, flüsterte Anna Elisabeth. Sie hatte als Hannes Rebmanns Braut gegolten, so lange sie zurückdenken konnte. Irgendwie war es für alle aus dem Dorf immer eine ausgemachte Sache gewesen, dass sie einmal Hannes’ Frau werden würde. Nur sie selbst hatte sich mit dem Gedanken nie näher befasst. Der Zeitpunkt ihrer Hochzeit hatte immer in weiter, weiter Ferne gelegen. »Hannes, bist du dir wirklich sicher, dass du mich nehmen willst?«

Er sprang von der Bank auf, kam um den Tisch herum und fasste sie um die Taille. »Schätzle«, sagte er fröhlich, »noch nie im Leben war ich mir so sicher. Nächsten Mai gibt’s eine Hochzeit, die soll drei Tage dauern!«

»Aber ich krieg kaum eine Mitgift«, wandte Anna Elisabeth ein. »Von meiner Mutter hab ich nur eine Kiste mit Weißzeug ...«

»Weißzeug ...« Hannes lachte und zwinkerte dem Alten zu. »Was brauchst du Heiratsgut, wenn dein Mann einen Hausstand schaffen kann?« Er beugte den Oberarm, so dass seine Muskeln sich spannten. »Glaub mir, Schätzle – in der Mühle werden wir bestimmt nicht hungern und frieren!«

»Du könntest dir im Kirchdorf eine Bessere ausfindig machen als mich.« Anna Elisabeth gab noch nicht auf. »Eine, die mehr in die Ehe mitbringt.«

»Eine Bessere als dich gibt es nicht.« Hannes schaute ihr in die Augen und nickte wie zur Bestätigung seiner eigenen Worte. »Du bist die Meine und warst es schon immer, Annelies.«

»Finde dich damit ab, Tochter, dass die Kinderzeit nun bald zu Ende geht«, sagte der Vater trocken. »Ich weiß wohl, warum du dich bisher immer vor dem Heiraten gedrückt hast.« Er lachte kurz auf. »Aber nun wollen wir nicht mehr warten, der Hannes und ich. Er will ein Weib – und ich will Enkel. Gefreit wird nächsten Frühling. Keine Ausflüchte mehr!«

»Ja, wenn’s so steht ...« Anna Elisabeth rang sich ein Lächeln ab. Sie mochte den Hannes ja auch. Er würde sicher einen guten Hausvater abgeben. Die Liebe kommt später, hatte die Mutter immer gesagt, als sie noch lebte.

Sie ließ sich von Hannes auf die Wange küssen. Als er mutiger werden wollte, schob sie ihn weg. »Nicht so wild«, wies sie ihn zurecht. »Das ziemt sich noch nicht für uns ...«

Er grinste. »Aber auf der Kirchweih«, sagte er mit einem lustigen Augenzwinkern, »da wirst du es dir gefallen lassen müssen, Annelies. Für Brautleute ist das Küssen erlaubt – sogar vor allem Volk!«

»Untersteh dich!« Anna Elisabeth ging auf seinen neckenden Ton ein. »Und solltest du’s doch zu toll treiben wollen – ich kann immer noch schneller rennen als du, Hannes Rebmann!«

»Dumme Kindereien«, brummelte der Vater. »Für so etwas bist du inzwischen zu alt, Annelies.« Er deutete auf den Bierkrug. »Renn lieber in den Keller – da kommt was Nützliches bei raus. Und werde endlich erwachsen!«

Hannes kniff ein Auge zusammen und versuchte, weise dreinzuschauen. »Hör auf deinen Vater, Annelies«, fügte er hinzu, »ich hab auch auf meine Mutter gehört.«

»So? Was hat dir die denn aufgetragen?« Anna Elisabeth stemmte die Faust in die Hüfte. »Hoffentlich war’s derselbe Ratschlag, den mir mein Vater gerade gegeben hat.«

»Sie meinte, ich soll endlich Nägel mit Köpfen machen«, sagte Hannes, der die kleine Ironie in ihren Worten nicht mitbekommen hatte. »Für mich gäbe es keine bessere Frau als dich, Schätzle«, er grinste sie breit an, »und wenn ich noch länger warten tät, dann könnt es sein, dass dich mir ein anderer vor der Nase wegschnappt.«

»Wer sollt denn das sein?« Anna Elisabeth legte den Kopf schief und gab sich alle Mühe, den scherzenden Ton beizubehalten. Gleichzeitig kam ihr das Bild eines hochgewachsenen Mannes mit durchgelaufenen Stiefeln und schulterlangem Blondhaar in den Sinn – das Bild dessen, der die wollene Decke im Stall hatte liegen lassen ...

»Wer weiß?«, brummelte der Vater. »Bist schon lang im heiratsfähigen Alter, und auch andere täten dich gern nehmen – noch andere außer dem Hannes.«

Anna Elisabeth nahm den brennenden Kienspan aus der Wandhalterung und entriegelte die Kellertür. Dann, ohne zu antworten, nahm sie den Krug und stieg in die dunkle Kellerhöhle hinab. Die Worte ihres Vaters hatten sie in Verwirrung gestürzt – sie wusste selbst nicht genau, warum.

Das Bierfass stand in der hinteren Ecke des niedrigen Tonnengewölbes. Anna Elisabeth steckte den Kienspan in den dafür vorgesehenen Eisenring an der Wand, stellte die Kanne unter den Zapfhahn und drehte langsam und sorgfältig auf. Während das Bier lief, kippte sie den Krug ganz leicht, damit nichts überschäumte, und schloss den Hahn wieder, als die Kanne voll war. Wer sollte sich denn wohl für sie interessieren außer dem Hannes, dachte sie. Im Dorf kam außer ihm niemand als Bräutigam in Frage, und aus den Nachbardörfern hatte sich noch nie ein Bewerber gemeldet ...

Was der Vater sich immer so zusammenreimte! Auf der Kirmes, beim Michaelifest, würde sie ganz sicher mit keinem tanzen außer dem Müllerhannes – so, wie der es gesagt hatte. Die anderen jungen Männer wussten doch alle, dass sie zu ihm gehörte, und fürchteten sich außerdem vor seinen harten Fäusten. Der Hannes stand mit gutem Grund in dem Ruf, dass er sein Eigentum bestens zu verteidigen verstand.

Eigentum. Aber war sie sein Eigentum – und wollte sie es überhaupt sein? Wollte sie jemandem ganz und gar gehören, mit Leib und Seele?

Der Kienspan zischte und begann zu blaken; ein Wassertropfen musste von der Decke gefallen sein und die Flamme getroffen haben. Anna Elisabeth nahm die Fackel wieder an sich und packte den vollen Krug am Henkel. Tief in Gedanken trug sie ihn die Treppe hinauf. Wie konnte es ein Mensch überhaupt ertragen, einem anderen untertan zu sein? Der Vater hatte ihr immer viel Freiheit gelassen und niemals auf unbedingtem Gehorsam bestanden – doch er hätte es tun können. Es war sein Recht. Nach der Hochzeit würde es Hannes Rebmanns Recht sein, ihr zu befehlen ... und sie würde gehorchen müssen.

Eine Frau tat nicht immer gut daran, zu heiraten. Was geschehen konnte, wenn sie den Falschen gewählt hatte, das konnte man an der Grete sehen, der Frau des Schmieds ganz am Ende des Dorfes. Die Grete war schon oft genug von dem Ihren so misshandelt worden, dass sie tagelang das Bett hatte hüten müssen. Mittlerweile fehlten ihr zwei Schneidezähne. Ihre Unterarme waren krumm von schlecht verheilten Knochenbrüchen. Und ihre Kinder waren immer so verschüchtert und ängstlich, dass einem bei ihrem Anblick das Herz wehtat. Nur ihr Ältester, der Toni – der würde später sicher einmal ebenso gewalttätig werden wie sein Vater. Schon jetzt hatten alle anderen Kinder aus dem Dorf Angst vor ihm.

Aber der Hannes war nicht so einer wie der Schmiede-Jörg. Bei dem würde es ihr gut gehen. Er würde ihr alles zuliebe tun, würde auf keinen Fall zulassen, dass ihr ein Leid geschah. Der Hannes war ein anständiger Kerl. Sie kannte ihn ja schon seit der Kinderzeit. Besser als mit ihm konnte sie es nicht treffen. Und die Liebe würde später kommen.

Der Vater und sein zukünftiger Schwiegersohn waren in ein munteres Gespräch vertieft, als Anna Elisabeth mit dem Bier in der Stube ankam. Sie steckte den Kienspan wieder in seine Halterung, holte Becher vom Wandbord und schenkte den Männern ein. »Magst auch ein Schlückchen trinken?«, fragte der Hannes und bot ihr seinen Becher an.

»Ausnahmsweise.« Anna Elisabeth liebte Bier nicht besonders, auch wenn es in diesem Fall das beste war. Widerstrebend füllte sie einen Becher für sich.

»Komm, setz dich zu uns, Annelies«, forderte der Vater sie auf. »Der Hannes hat noch ein Weilchen Zeit.«

»Und ich hab zu nähen«, sagte sie. »Der Mantel fürs Mariechen soll so schnell wie möglich fertig sein. Hab’s ihr versprochen.«

»Seit wann nähst du mit dem Mund oder mit den Ohren?«, wies der Vater sie zurecht. »Am Zuhören oder Reden wird dich die Näherei ja wohl nicht hindern.«

»Was soll ich bei Männergesprächen mitreden?«, gab Anna Elisabeth zurück. »Das schickt sich nicht – so hast du es mich selbst gelehrt.« Sie sah ihren Vater trotzig an. »Ihr habt sicherlich Dinge zu besprechen, die nicht für mich bestimmt sind – oder?«

Hannes lächelte und griff nach ihrer Hand. »Es geht sogar um dich«, erklärte er mit einem zärtlichen Blick, »und du sollst dich nicht ausgeschlossen fühlen, Schätzle.«

»Ich hab nämlich dem Hannes gerade erklärt, was du von mir in die Ehe mitkriegst«, sagte der Vater. »Es ist von deiner Mutter selig, Annelies – ein schöner Batzen. Zehn Joachimstaler.«

»Was?« Anna Elisabeth hatte nicht geahnt, dass der Vater all die Jahre so viel Geld im Haus gehabt hatte. »Und du hast es nicht verbraucht, als wir’s nötig hatten?«

Der Vater lächelte verschmitzt. »Wir leben ja noch – auch ohne dass ich das Heiratsgut deiner Mutter anbrechen musste«, erwiderte er mit einem gewissen Stolz. »Hab’s sogar noch ein bisschen vermehren können ...«

Er stand vom Tisch auf, schlurfte zu der großen Truhe, die an der Längswand unter dem kleinen Fenster stand, hob den Deckel auf und machte sich daran zu schaffen. Anna Elisabeth sah mit Verwunderung, dass sich darunter ein kleines verborgenes Fach befand, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte.

Der Vater nahm eine in Leinen gewickelte Rolle heraus. Es klimperte, als er sie auf den Tisch legte. Und nachdem er das Leinen abgenommen hatte, lagen plötzlich vierzehn silbern schimmernde, dicke Münzen vor ihren staunenen Augen. Ein kleines Vermögen.

»Das ist deins«, sagte der Vater. »Sobald du heiratest, kann dein Mann darüber verfügen.« Er warf Johannes Rebmann einen vielsagenden Blick zu. »Er findet sicher gute Verwendung dafür – nicht, mein Sohn?«

Hannes war genauso erstaunt wie Anna Elisabeth. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gab er zurück. »Meine Mutter und ich – wir hatten uns schon Gedanken gemacht, weil Annelies ja nichts mitbringt. Aber jetzt ... jetzt sieht alles ganz anders aus!«

Er hatte glänzende Augen bekommen. Er betrachtete die Taler, streichelte sie förmlich mit Blicken. »Was denkst du, Hannes?«, fragte Anna Elisabeth. »Was würdest du mit dem Geld anfangen?«

»O ... ich weiß noch nicht«, murmelte er. »Es gibt so vieles, was man dafür kaufen könnte ...« Sein Blick schien durch sie hindurchzugehen. »Es wird sich finden.«

»Das meine ich auch«, brummelte der Vater zufrieden. »Lass dir nur Zeit, es weislich zu überlegen, Junge. Überstürze nichts – das bringt selten Gewinn.«

»Und bis Mai ist ja auch noch viel Zeit«, sagte Anna Elisabeth fest. »Wer weiß, was bis dahin alles geschieht.«

Hannes musterte sie mit einem leisen Befremden im Blick. Dann sprang er vom Tisch auf und zog Anna Elisabeth mit hoch. »Erst einmal feiern wir«, sagte er und stieß einen Juchzer aus, während er sie noch einmal um die Taille fasste und im Kreis herumwirbelte. »Wir werden tanzen und Kirmeswecken essen und einen guten Schluck trinken und uns sogar ein Stück Braten gönnen ... gefällt dir das, Schätzle?«

Anna Elisabeth machte sich aus seiner Umarmung los. »Wenn ich jetzt nicht weiternähe«, erwiderte sie nüchtern, »dann wird zumindest das Mariechen auf dem Fest erbärmlich frieren.«

»Ja – kann der Mattheis sich denn den Besuch auf der Kirmes überhaupt leisten?«, wollte Hannes wissen.

»Der Matthias nicht«, sagte Anna Elisabeth, »aber ich hab den Kindern versprochen, sie mitzunehmen und ihnen einen Weck zu spendieren.«

»Dafür ist nichts übrig«, grollte der Vater in plötzlichem Missmut. »Es kostet schon genug, sie alle durchzufüttern.«

Die Tür schwang auf. Michel kam herein, den Arm voller frisch gespaltener Holzscheite, die er neben dem Herd auf den Boden fallen ließ. »Aber wenn’s zu knapp würde, dann wollte die Annelies dafür singen und tanzen«, mischte er sich in das Gespräch ein.

Hannes schob die Taler zusammen und rollte sie mit hastigen Bewegungen in das Tuch ein. »Was redest du da für Unsinn«, sagte der Vater halb belustigt, halb verärgert. »Von wem hast du denn das, Schwachkopf?«

»Vom Mariechen«, sagte der Michel ernsthaft. Er kratzte sich den flachsfarbenen Schopf. »Die Annelies hätt’s selbst gesagt...«

Anna Elisabeth erinnerte sich und lächelte. »Nicht mehr nötig«, meinte sie mit einem Blick auf die eingerollten Taler. »Es wird reichen – auch ohne das.«

»Aber du willst doch nicht das schöne Geld ans Bettelvolk verschwenden!« Hannes Rebmann war entrüstet. »Und es gehört uns ja auch erst nächstes Jahr – wenn wir verheiratet sind!«

»Vater«, wandte sich Anna Elisabeth an den Hausherrn, »für ein paar Heller könnte man den Kindern so viel Freude machen – ich bitte dich, mir schon jetzt einen winzigen Anteil von dem Reichtum zu überlassen. Sag ja!«

Der Michel machte runde Augen. Er verstand kein Wort. »Reichtum?«, murmelte er ehrfürchtig. »Du hast ... Reichtum?«

»Ach was!« Der Alte polterte los. »Mach dich an deine Arbeit, Lausebengel, bevor ich dir das Fell gerbe! Hinaus mit dir. Dein Essen kriegst du erst, wenn alles Holz gehackt ist.«

»Aber ... ich bin ja fertig ...«, stotterte der Michel.

Anna Elisabeth warf einen Blick auf den leeren Breitopf und reichte dem Jungen dann ihre Schüssel. »Setz dich her«, bestimmte sie, »kriegst ein Stück Brot zum Brei.« Sie musterte Johannes Rebmann mit einem zutiefst missbilligenden Blick. »Und du, Hannes, vergiss eines nicht: Dein ist, was mein ist – aber erst, wenn wir ein Paar sind!«

Das wirkte. Hannes machte ein betretenes Gesicht. »Hast Recht, Annelies«, murmelte er schuldbewusst. »Verzeih ...« »Sechs Heller«, knurrte der Vater. »Mehr nicht!«