
Auf den kleinen Wellen, die von der Mitte des Flusses her wie spielerisch ins sprossende Uferschilf rollten, blitzten letzte rotgoldene Sonnenstrahlen. Der Frühling hatte sich durchgesetzt. Die gespeicherte Wärme eines herrlichen Tages strahlte schon von den Steinen ab. Aber die Weingärten an den steilen Hängen, in denen es überall schon grünte, schienen in atemloser Stille dazuliegen; nicht einmal Vogelzwitschern war zu hören an diesem vierten Tag im April.
Hannes Rebmann saß auf einem dicken Steinquader abseits der Kameraden, die mit Feuermachen beschäftigt waren. Längst nicht alle seine Männer hatten innerhalb der Mauern einen Schlafplatz gefunden; das Kloster Schöntal gehörte zwar zu den großen Abteien, und die Mönche hatten alle gehen müssen, aber mit Georg Metzlers Heerhaufen, der heute eingetroffen war, zählte das Bauernheer jetzt an die achttausend Mann – die Stückmeister mit den Kanonen, die Arkebusiere und die Leute vom Tross nicht eingeschlossen. Und darum blieb nichts anderes übrig, als im Umfeld des Klosters ein Lager zu errichten.
Hannes selbst würde, wenn die Sonne untergegangen war, in einer der verlassenen Klosterzellen seinen Schlafplatz finden. Er war schließlich von seinen Kameraden zum Hauptmann gewählt worden und hatte Sonderrechte. Dem Moment, da er endlich den berühmten Jakob Rohrbach, den Georg Metzler und die anderen Hauptleute kennen lernen würde, fieberte er regelrecht entgegen.
Hannes Rebmann stand auf und streckte sich. Mit einem kurzen Blick auf den Schmiedejörg und den Schweineheinz, denen es inzwischen gelungen war, ein Feuerchen zum Flackern zu bringen, wandte er sich der Klosterpforte zu. Deren breite Torflügel standen weit offen – ein höchst ungewöhnlicher Anblick bei einem Kloster. Als die Mönche geflohen waren – vor drei Tagen, gleich nach dem Sturm der Bauern auf das Kloster –, hatten sie so gut wie nichts mitnehmen können. All die guten Dinge – die Würste und Schinken, die Speckseiten und die Fässer mit dem Pökelfleisch – hatten sie in den Speisekammern zurücklassen müssen in der Hast ihres Auszugs.
Jakob Rohrbach, der Wirt zu Böckingen, hatte das Kloster an der Jagst erobert und die Mönche vertrieben. Und heute nun war der andere der Gewaltigen des Bauernheeres, der Wirt zu Ballenberg mit Namen Georg Metzler, mit seinen Leuten hier angekommen. Man würde Kriegsrat halten an diesem günstig gelegenen Ort. Und für den morgigen Tag erwartete man noch das Eintreffen eines weiteren bewaffneten Haufens unter der Führung eines gewissen Geyer.
Ein bisschen verlegen fühlte sich Hannes Rebmann schon bei dem Gedanken daran, dass er auch zu den Hauptleuten gehörte. Ausgezogen war er mit den dreiundvierzig Männern von daheim und aus den umliegenden zwei Dörfern; doch im Verlauf der Reise waren immer mehr einzelne Männer zu seiner kleinen Schar dazugestoßen, und nun zählte der Trupp, den er befehligte, beinahe sechzig Mann. Aber verglichen mit den Tausenden unter Jäcklein Rohrbachs Führung war das so gut wie nichts ...
Hannes spannte noch einmal die Schultern. Mut, befahl er sich. Halte dich gerade, Junge. Zeige ihnen allen, dass du das Zeug zum Hauptmann hast. Er winkte dem Schweineheinz. »Einstweilen einen schönen Abend«, rief er ihm zu, »ich komme später wieder zu euch zurück und berichte, was sich bei der Besprechung ergeben hat!«
»Wenn wir dann noch nüchtern genug sind, um dir zuzuhören«, antwortete der Schweineheinz mit einem breiten Grinsen. »Ich glaub, wir werden viel zu besoffen sein – und außerdem hab ich mir ’n knuspriges Weibchen angelacht ... aus dem Hellen Haufen von Krautheim. Die vertreibt mir die Zeit besser als du, Rebmann!«
»Wirst mich trotzdem anhören müssen«, sagte Hannes halb ärgerlich, halb belustigt. »Also sieh zu, dass du noch einigermaßen wach bist, wenn ich wiederkomme. Und halte auch den Jörg vom übermäßigen Saufen ab. Wir sind hier nicht auf der Kirmes, sondern auf einem Feldzug!«
Die Gewaltigen des Bauernheeres hatten sich im Refektorium zusammengefunden und saßen an den langen Tischen, die bis vor einigen Tagen allein den Mönchen vorbehalten gewesen waren. Als Hannes Rebmann den Saal betrat, trugen mehrere auffällig herausgeputzte Frauen gerade das Essen auf – mächtige Schweinebraten, Platten, auf denen geschmorte Hühner gestapelt lagen, Berge von frisch geschnittenen Brotscheiben und Schüsseln voller geräucherter Würste. Ein Fass Wein stand an der Wand aufgebockt, bereit, angestochen zu werden.
Beim Anblick der Frauen, die hier offenbar bei Tisch bedienten, spürte Hannes, wie er errötete. Eine von ihnen trug doch tatsächlich rein gar nichts unter ihrem Mieder; die Spitzen ihrer recht üppigen Brüste lugten unbedeckt über das Geschnür und lagen den Blicken aller Anwesenden offen zutage. Eine zweite Magd – wenn man sie so nennen durfte – hatte sich den Rock so hoch geschürzt, dass Hannes den Ansatz ihres fleischigen linken Schenkels sehen konnte. Und auch ihr Mieder wahrte kaum ein Geheimnis über die Form und Größe ihrer Brüste. Die beiden Übrigen hielten sich schicklicher und suchten den anderen durch fantastisch anmutenden Federschmuck in den zerzausten Haaren Konkurrenz zu machen. Alle aber warfen Hannes, der im Eingang stehen geblieben war, eindeutig lockende Blicke zu.
Er musste sich zwingen, an den Tisch heranzutreten und seinen Platz zu beanspruchen. Es kostete ihn große Überwindung, die drei, vier Schritte zu tun und einen der Hauptleute ganz unten an der Tafel anzusprechen: »Sagt, Bruder, gestattet Ihr, dass ich mich neben Euch setze?«
Der Mann, ein Hüne mit breiten Schultern, fettigen schwarzen Strähnen und einer gewaltigen Hakennase, dessen Kleidung offenbar ganz aus Rauleder gefertigt war, drehte Hannes nicht einmal das Gesicht zu. »Halt es wie du willst, Bruder«, brummte er gleichmütig. »Platz ist genug – und zum Fressen und Saufen fährt der Jäcklein immer genügend auf. Schließlich ist er Wirt ...«
»Und nicht der Schlechteste«, ergänzte der Mann auf der anderen Seite des Tisches, ein dürrer, ausgemergelt wirkender Kerl mit gelber Haut, die mit ihren vielen feinen Fältchen wie gegerbt wirkte. »Er und der Metzler Georg – das sind Kerle, wie sie für unsere Sach taugen! Die Herren und Pfaffen sollen sich vorsehen, sag ich. Hab läuten hören, dass sich ihrer Hunderte auf Ostern zusammenfinden wollen ... und wenn das wahr ist, dann gnade ihnen Gott!«
Der schwarzhaarige Hüne lachte. »Mich gelüstet’s selber nach einem Tänzchen«, sagte er und bleckte die Zähne in einem raubtierhaften Grinsen. »Wir sind viele – und wir sind stark. Was gilt’s, Pfeifer-Hänslein? Gleich die erste Schlacht gewinnen wir!«
»Keine Frage.« Der Gelbhäutige grinste ebenfalls. »Und wenn es so weit ist, Meinhard ... dann ziehen wir in die Schlösser und festen Häuser ein, und die Herren dürfen mit unseren Hütten vorlieb nehmen. Dann tragen wir Damast und feine Seide, und die vom Adel kriegen, was wir abgelegt haben!«
»Ich seh schon, wie die dicke Edelfrau von Uffenheim in Sackleinen gehen muss!«, kicherte der Riese. »Das grobe Zeug wird sie weidlich jucken ...«
»Genau wie die raue Wolle von unseren heimischen Schafen!«
Die beiden Hauptleute brachen in kindisch anmutendes Gelächter aus. Hannes, der sich mittlerweile bei ihnen auf der Bank niedergelassen hatte, war eigentümlich berührt. War es der Wein, der diese Männer so albern reden ließ – oder hatten sie den Zweck des Krieges ganz vergessen?
»Aber es geht doch darum, bei den Herren die Zwölf Artikel durchzusetzen«, mischte er sich in das Zwiegespräch der beiden Kerle ein. »Wir wollen nicht mehr als recht und billig ist, und im letzten Artikel heißt es, dass wir auf alles verzichten, was die Heilige Schrift verbietet. Demnach also –«
»Bist du etwa auch so einer, der sich ins Hemd macht vor Angst, den lieben Herrlein wehzutun?« Der Riese mit den fettigen schwarzen Haaren musterte Hannes missgelaunt von der Seite. »Die Zwölf Artikel – pah! Man hat doch gesehen, wie unsere gar löbliche Obrigkeit damit verfahren ist! Gelacht haben sie über den Hipler und seine Zwölf Artikel. Und jetzt sind wir mit unserer Geduld am Ende!«
»Am Ende«, echote das Pfeifer-Hänslein.
Meinhard streckte den Arm aus und schlang ihn um eine der Mägde, die mit einem Krug vorbeiwollte. »Das hier«, sagte er mit einem lüsternen Blick auf den wogenden Busen der Frau, »das ist’s, was wir wollen – frei fressen, frei saufen, frei –«
»Schießen«, ergänzte Pfeifer-Hänslein und kniff die Magd in den drallen Hintern. Die Frau kreischte auf. Im gleichen Atemzug zwinkerte sie den Riesen an.
»Richtig, schießen«, sagte Meinhard, »und das richtige Wild ist ja vorhanden.« Damit kniff auch er die Frau.
Die kreischte noch einmal und tat, als sei sie erschrocken. »He, Großer«, flötete sie, während sie Meinhard ein anzügliches Lächeln widmete, »kannst du’s nur mit dem Maul – oder sind auch deine anderen Körperteile zu brauchen?«
Meinhard kniff ein Auge zusammen und spitzte die Lippen zu einem ungeschickten Kuss. »Wenn du meinst, ich hab nur heiße Luft im Sack«, knurrte er, »dann lass dir sagen, Süße: bei mir reicht’s für mindestens drei von deiner Sorte – pro Nacht.«
Die Frau kreischte ein drittes Mal. Hannes, der so unanständige Reden nicht gewohnt war, senkte den Kopf und versuchte hastig seine Schamröte zu verbergen. In diesem Augenblick traten zwei weitere Männer in das Refektorium ein: ein breit gebauter, vierschrötiger Kerl mit einem mächtigen Brustkasten und großen, muskulösen Händen, der um die vierzig Jahre zählen mochte, und ein größerer, schlankerer, etwas jüngerer Mann, an dem vor allem der kantige Kopf und die heftigen, ruckartigen Bewegungen auffielen.
Beide waren aufs Feinste gekleidet. Der Vierschrötige trug eine rotseidene Schaube und schwarzweiß gestreifte Hosen, funkelnagelneue Kuhmaulschuhe in blankem schwarzem Leder und ein rundherum mit sorgfältig gekräuselten weißen Straußenfedern geschmücktes blaues Barett, das am Rand die modischen Kerbschnitte aufwies. Der andere, höher Gewachsene dagegen hatte eine Weste aus glänzend gebürsteter gelber Wolle auf dem Leib, die wohl für einen Mann mit mehr Leibesfülle gemacht gewesen war. Denn sie musste mit einem Gürtel aus grellrotem Leder zusammengehalten werden. Die Hosen des Schlanken und Jüngeren waren leuchtend grün. Durch seinen Hut – schwarz und üppig mit gelbroten Federn verbrämt – wurde die Vielfalt der Farben seines Anzugs noch vermehrt. Das Ergebnis war ein papageienhaft bunter Anblick, der einem schon die Sprache verschlagen konnte.
Hannes starrte hin. Doch sobald die Anwesenden der beiden Neuankömmlinge gewahr geworden waren, brachen sie in wüste Hochrufe aus. »Vivat, Jäcklein«, ertönten Jubelschreie, »Vivat, Metzler-Georg! Unsere Gewaltigen sollen leben!«
Eine ganze Anzahl Männer sprang von den Bänken auf. Sie umringten Metzler und Rohrbach. Die einen klopften ihnen auf die Schultern, die anderen zogen die Hüte und verbeugten sich tief. Bei fast allen wurde deutlich, dass sie bereits viel zu viel getrunken hatten.
Plötzlich wich alles von der Tür zurück, und auch Metzler und Rohrbach traten einen Schritt beiseite. Eine Frau hatte sich genähert – eine alterslose, schlanke Gestalt in einem Kleid aus verblichenem rotem Leinen. Sie schritt jetzt ungeniert, straff und mit geschmeidigen Bewegungen in den Kreis der Männer hinein und wählte sich einfach einen Platz am Kopfende der langen Tafel.
Niemand stellte sich ihr in den Weg oder versuchte, sie vom Tisch der Hauptleute abzuhalten. Ihr dunkles, etwas unordentlich zu einem lockeren Knoten aufgestecktes Haar glänzte im Schein der Kienspäne, die inzwischen angezündet worden waren. Ihre schwarzen, eigenartig unbewegten Augen funkelten.
Sie war nicht schön, diese Frau, und ihre Kleidung war auch nicht sonderlich auffallend – aber etwas an ihr bewirkte, dass man sie immerfort ansehen musste. Hannes Rebmann stellte fest, dass seine Fäuste sich geballt hatten – so, als müsse er sich gegen irgendetwas wehren. Die Frau mit den schwarzen Haaren hatte den Blick auf ihn geheftet und lächelte ...
Hannes empfand ihren Blick wie eine unerwünschte Berührung. Er musste wegschauen. Die Haare im Nacken hatten sich ihm aufgestellt. Aber das Refektorium verlassen durfte er jetzt nicht – es ging ja um die Planung des Feldzuges, und er musste doch hören, wie entschieden wurde.
»Brüder«, tönte eine raue, aber tragende Stimme durch das Gewölbe des Refektoriums, »ich sehe, ihr seid alle vollzählig versammelt und habt auch dem Essen und dem Wein schon kräftig zugesprochen. Das werden der Metzler-Georg und ich jetzt ebenfalls tun. Und dann –« Jäcklein Rohrbach ließ den Blick in die Runde gehen, »dann beraten wir, wo wir sie packen wollen, die adligen Spitzbuben und pfäffischen Heuchler. Es ist so weit ... die uns geplagt und ausgesogen haben, sie müssen nun zahlen! Nicht nur in barer Münze, in Gütern und Vorräten – nein, auch in Blut. Sie sollen uns das Blut der Unsrigen vergelten. Wir müssen unsere Rache haben!«
Kein Wort mehr von den Zwölf Artikeln. Hannes Rebmann wunderte sich. Seit er mit seinen Leuten im Kloster angekommen war, hatte er immer nur solche Worte gehört, wie Jäcklein Rohrbach sie eben ausgesprochen hatte. Ja, ging es denn nicht mehr darum, den Fürsten die Anerkennung der Zwölf Artikel abzutrotzen? Wie waren Jäcklein Rohrbachs Forderungen nach Vergeltung und Rache zu verstehen?
»Einen großen Humpen Wein für die Hofmännin«, forderte Georg Metzler gerade und stieß eine der Mägde in die Rippen. »Schaff ihr auch Braten – aber achte darauf, dass an dem Stück nicht nur Fett ist!«
»Schon recht.« Die Frau mit den Federn im Haar machte eine obszöne Handbewegung und grinste den Wirt von Ballenberg an. »Aber wie du dich auch um sie bemühst – zu dir wird sie deshalb doch nicht ins Bett steigen, Metzler-Georg.« Sie schoss einen Blick zu der Frau mit den schwarzen Haaren hinüber, deren Augen noch immer auf Hannes Rebmann ruhten. »Nimm ruhig mit mir vorlieb«, fügte sie hinzu, »ich kenn auch ein paar unterhaltsame Kunststückchen.«
Der Wirt von Ballenberg leckte sich über die Lippen. »Warte, Weibsstück«, gab er zurück, »wenn ich dich in die Finger kriege, später am Abend! Dann sollst du mich erst richtig kennen lernen!«
»Werden sehen«, sagte die Frau mit den Federn und grinste. »Was würdest du denn machen, Metzler-Georg, wenn ich mir zur Abwechslung mal einen anderen aussuchen würde ... den Neuen da zum Beispiel?«
Sie ließ den Blick zu Hannes wandern. Der drehte den Kopf weg. Georg Metzler und Jäcklein Rohrbach brachen in Gelächter aus. »Lass den Georg nur und versuch ruhig dein Glück, Katzen-Grete«, meinte Rohrbach, nachdem er sich wieder von seinem Heiterkeitsanfall erholt hatte. »Es gibt so manchen Frischling im Lager, der das Leben noch nicht kennen gelernt hat.«
»Soweit ich es verstanden habe, wollen Metzler und Rohrbach sich und ihre Heere zusammentun«, sagte Florian Geyer zu Albrecht. »Ein einiger Heller Haufen aus dem Odenwald und Neckartal soll es sein – unter einer Fahne. Sie wollen sich Evangelische Brüderschaft nennen ... wie auch anders? Es gibt eh keinen unter ihnen, der es nicht mit dem Doktor Luther hielte.«
Albrecht schwieg einen Augenblick. »Und Ihr, Vetter?«, fragte er schließlich. »Habt Ihr auch vor, mit Eurer Schar in den Hellen Haufen einzutreten?«
»Auf gar keinen Fall«, sagte Florian Geyer. Aus seiner Stimme sprach energische Ablehnung. »Ich möchte meine Leute selbst befehligen und meine Taktik den Gegebenheiten anpassen. Weder der Metzler noch der Rohrbach sind erfahrene Kriegsleute. Bei dem, was wir vorhaben, dürfen uns aber keine Fehler unterlaufen, denn unser Gegner ist mit allem vertraut, was die Kriegsführung und die Handhabung von Waffen betrifft.«
»Ja, gibt es denn im Hellen Haufen überhaupt genügend Männer, die wissen, wie man Krieg führt?«, fragte Albrecht.
»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Florian Geyer, diesmal sorgenvoll. »Sie sind zwar voller Mut und Entschlossenheit, die Bauern – aber so oft ich es dem Jäcklein Rohrbach auch schon angetragen habe, er und sein Freund Metzler wollen sich die Führung des Bauernheeres einfach nicht aus der Hand nehmen lassen. Und dabei –« Er verstummte.
»Es wäre wahrhaftig klüger von diesen zwei Wirten, wenn sie sich geübte Männer zu Hauptleuten wählen würden«, sagte Albrecht. »Sind nicht mehrere Junker in den Hellen Haufen eingetreten? Die kennen sich doch aus in der Kriegsführung und könnten –«
»Sie sind vom Adel«, gab Florian Geyer mit dumpfer Stimme zurück. »So, wie die Stimmung augenblicklich brodelt, würden die Männer des Bauernheeres ganz bestimmt keinem Junker folgen.«
»Das mag sich geben.« Albrecht nickte, als wolle er sich seine Worte selbst bestätigen. »Wenn sie erst einmal begriffen haben, dass ihnen vom niederen Adel keine Gefahr droht ...«
Er vollendete den Satz nicht, und auch Florian Geyer schwieg. Die Sonne war untergegangen. Die ringsum brennenden Wachfeuer leuchteten als gelbe Lichtpunkte durch die sinkende Dunkelheit, wohingegen der schon beinahe volle, zunehmende Mond ein silbriges, fahles und dunstiges Licht bot. Im glitzernden Wasser der Jagst aber spiegelte sich, umgeben von einem schimmernden Hof, hell und strahlend der Abendstern.
Albrecht hob das Gesicht zum Himmel. Schleierdünne Wolken, getrieben von einem sanften Wind, wehten darüber hin; ob Anna jetzt vielleicht auch den Blick zum Himmel gerichtet hielt und an ihn dachte?
»Vielleicht reicht es aus, wenn wir den Herren einen Warnschuss verpassen«, sagte Albrecht gedankenverloren, »vielleicht gehen sie auf unsere Forderungen ein, wenn wir gleich im ersten Treffen den Sieg über sie davontragen. Was meint Ihr, Vetter?«
»Es wäre zu wünschen«, seufzte Florian Geyer. »Gebe Gott, dass es so kommt ...«
Albrecht ließ den Blick über die sorgfältig in Reih und Glied aufgestellten Zelte wandern, in denen seine und des Geyers Leute nächtigten und die sich mit ihrer Ordnung deutlich von den wie Kraut und Rüben durcheinander gewürfelten Zelten des Hellen Haufens abhoben. In den letzten Tagen hatte Albrecht die straff trainierten, disziplinierten und wohl geübten Männer aus Geyers Schwarzer Schar kennen gelernt; sie hatten sich auf Anhieb mit den Weißensteiner Leuten gut verstanden und waren jetzt bereits aufeinander eingespielt. Der Geyer hatte da tatsächlich eine sehr schlagkräftige Truppe herangebildet, mit der man schon eine Schlacht gewinnen konnte. »Ja – gebe Gott, dass es uns gelingt, ein Zeichen zu setzen«, schloss sich Albrecht an. »Wohin wird unser erster Marsch wohl führen, Vetter?«
»Es ist immer öfter von Weinsberg die Rede«, sagte Florian Geyer nachdenklich. »Viele vom hiesigen und auswärtigen Adel werden sich über die Ostertage dort aufhalten – ich meine fast, dann könnte sich bewahrheiten, was ich neulich schon angedeutet hatte, Vetter ...«
Albrecht nickte. »Dass eine Entscheidung fällt«, murmelte er, »und dass ich, wenn die Fürsten nachgegeben haben, endlich wieder heim könnte ...«
»Um Hochzeit zu feiern?«
»Ja ...« Albrechts Antwort klang wie ein sehnsüchtiger Seufzer.
»Ihr müsst diejenige, die Ihr heimführen wollt, sehr begehren«, sagte der Geyer lächelnd. »Ist sie schön?«
»Ich glaube schon«, flüsterte Albrecht, »aber das ist es nicht, was sie so begehrenswert macht ...«
»Was dann? Ist sie reich?«
»O nein, nein ...« Albrecht musste lächeln bei dem Gedanken an Anna Elisabeths Herkunft. »Sie ist einfach ein wunderbares Mädchen ... lebendig, klug und voller Gefühl ...«
»Deren findet man nicht viele unter den Töchtern des Adels«, brummelte Florian Geyer. »Die meisten von ihnen sind oberflächliche, eitle und dumme Geschöpfe, mit denen es schwer fällt eine Unterhaltung zu führen.« Er sah Albrecht forschend an. »Ihr musstet wohl weit gehen, um eine wie Eure Auserwählte zu finden?«
Albrecht konnte ein Kopfschütteln nicht mehr ganz verhindern.
»Nicht weit?«, fragte Florian Geyer verwundert. »Dann müsste ich sie doch kennen ... Wollt Ihr mir nicht ihren Namen verraten und mich von der Folter der Neugier erlösen?«
Albrecht sah sich in die Ecke gedrängt. »Herr Vetter«, erwiderte er, nach Worten suchend, »Ihr seid jedenfalls unter den Ersten, die ich zu meiner Hochzeit laden werde – wenn es denn so weit ist. Bis dahin bekommt Ihr von mir nur den Vornamen meiner Braut zu hören. Es sind, bis ich sie endlich zu der Meinen machen kann, noch zu viele Hürden zu überwinden ...«
»Ach, ich verstehe.« Florian Geyer verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln und zog sich den ledernen Koller enger um den Hals. »Macht ihre Familie Schwierigkeiten?«
»So könnte man sagen. Anna Elisabeth hat mir zwar ihr Herz geschenkt, und ich ihr meins – aber damit ist es nicht getan.« Albrecht wich dem Blick Florian Geyers aus und schaute auf seine Hände. »Was soll’s? Ich werde den Knoten schon lösen ...«
Florian Geyers Lächeln vertiefte sich. »So, wie weiland der große Alexander – mit dem Schwert?«, fragte er.
»Eher mit List und Beharrlichkeit«, gab Albrecht zurück. »Dann ist Eure Leidenschaft doch nicht gar so groß?« Der Geyer konnte es nicht lassen, doch noch ein wenig nachzubohren. »Dann reicht Euer Begehren nicht, um dafür in den Kampf zu ziehen?«
»Für Anna würde ich die Welt aus den Angeln heben, wenn es sein müsste«, erwiderte Albrecht, »aber um sie zu gewinnen, ist mehr nötig als Leidenschaft und Muskelspiel. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie mich überhaupt will ...«
»Ist das von Wichtigkeit bei einer Frau? Macht man sie nicht erst nach der Hochzeit gefügig?« Florian Geyer blickte verständnislos. »Die Hauptsache ist doch, dass man sie erst einmal zu Bett geführt hat. Alles andere findet sich.«
Diese Behauptung konnte Albrecht nicht einfach stehen lassen. »Sagt, Vetter«, fragte er, »wart Ihr eigentlich je verliebt?«
Der Geyer senkte den Kopf. »Kann schon sein«, murmelte er, »aber wie soll man das wissen? Ich wette, was anfangs wie Liebe aussieht, ist am Ende doch bloß Wollust ... auch bei Euch, mein junger Freund.«
Die Wolkenschleier hatten sich verdichtet und den Mond eingehüllt, so dass sein Licht nur noch spärlich durchdringen konnte. Selbst der Abendstern war kaum noch zu erkennen – Albrecht musste die Augen anstrengen, um seinen schwachen Lichtpunkt auszumachen. Plötzlich sehnte er sich so sehr nach Anna, dass ihm das Gefühl Schmerzen bereitete. »Wie immer dem auch sei, Vetter«, sagte er abrupt zu Florian Geyer, indem er aufstand und die Beine streckte, »mir lastet die Müdigkeit auf einmal wie Blei auf den Lidern. Ich lege mich schlafen.«
»Recht habt Ihr«, gab der Geyer lächelnd zurück. »Träumt von Eurer Schönen – und nehmt mir meine abfälligen Worte nicht übel. Es sind die Worte eines alten Mannes. Aber Ihr seid jung, Wolf von Weißenstein, und braucht Euch noch nicht drum zu scheren ...«
»Es gibt Regenwetter«, sagte Gertrud und setzte ihr »weises« Gesicht auf, wie Anna Elisabeth es immer nannte. »Über dem Teich ist die Luft ganz milchig, und den Himmel kann man kaum noch sehen.«
»Die Sterne auch nicht«, piepste das kleine Mariechen.
»Obwohl es doch schon fast dunkel ist«, setzte der Michel hinzu, der sich hin und wieder darin gefiel, noch einmal den kleinen Jungen zu spielen.
Anna Elisabeth runzelte die Brauen. »Hast du den Stall ausgemistet, wie ich’s dir aufgetragen hatte?«, fragte sie ihn.
Michel machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Schon«, murmelte er, »aber nit so richtig ...«
»Was denn nun – ist der Stall sauber oder nicht?« Anna Elisabeth ließ es nicht bei einer so ungewissen Antwort bewenden.
»Halb«, sagte der Michel. »Aber wenn ich jetzt schnell raus- geh und die letzte Eck auch noch ausräum – dann wär’s ganz fertig ...«
Anna Elisabeth tat, als sei sie bitterböse. »Ich sag dir, Kerl«, begann sie, »wenn du nicht auf der Stelle –«
»Bin ja schon halb draußen«, unterbrach sie der Michel hastig. »Bloß ...«
»Bloß – was? Raus ... oder ich mach dir Beine!«
»Aber ich –«
»Läufst du jetzt nicht los und tust deine Arbeit, kriegst du später dein Abendessen nicht«, sagte Anna Elisabeth, so ernst sie es fertig brachte.
Es fiel ihr mittlerweile schwer, ihre Belustigung über den Jungen zu verbergen.
Der zögerte immer noch. »Ich hab nämlich noch was zu melden«, sagte er mit plötzlich wichtiger Miene. »Wirklich, Anne- lies – was Wichtiges!«
»Nichts könnte so wichtig sein wie ein sauber ausgemisteter Stall«, entgegnete Anna Elisabeth streng. »Jetzt mach dich hinaus, Michel – bevor ich wirklich böse werde.«
»Gut«, murrte der Junge, »dann kriegst du die kleine Rolle eben erst später.« Er wandte sich zur Tür. Aber Anna Elisabeth horchte auf. »Was für eine kleine Rolle?«
Michel blieb stehen, den Rücken ihr zugewandt. »Ich soll doch zuerst den Stall sauber machen ...«, brummelte er.
»Was für eine kleine Rolle?«, wiederholte Anna Elisabeth ihre Frage.
Michel drehte sich um. »Also, heute ... da kamen Fahrende vorbei«, fing er an, »und die hielten vorne am Weiher und wollten –«
Anna Elisabeth wurde ungeduldig. »Wirst du mir wohl meine Frage beantworten?«, forderte sie. »Ich will wissen, von was für einer kleinen Rolle du sprichst!«
Michel setzte eine schulmeisterliche Miene auf. »Du musst mich schon ausreden lassen, Annelies«, sagte er und stelzte mit einigen gravitätischen Schritten von der Tür in die Mitte des Raums zurück. »Also, diese Fahrenden – die wollten ihr Pferd am Weiher saufen lassen, und ich warnte den Mann, weil das Ufer ja so aufgeweicht ist und das Tier leicht zu tief einsinken könnte. Der Mann war mir auch sehr dankbar, und dann hat er es ausgeschirrt, und ich –«
»Komm zur Sache, Michel!«
»Ja, ja.« In Michels Augen blitzte es schelmisch. »Also, wie der Mann mit Tränken fertig war, fragt er mich doch: ›Wohnt hier eine Jungfer mit Namen Anna Elisabeth?‹ Ich sage: ›Ja, so eine wohnt hier.‹ Weil dein wahrer Name ja Anna Elisabeth ist, Annelies.« Er sah sie mit schelmisch funkeldem Blick an und ließ sich Zeit mit der Fortführung seines umständlichen Berichtes. »Und da meinte der Mann«, fuhr er endlich fort, »er hätte etwas an eine Jungfer Anna Elisabeth abzugeben, und wo die Jungfer denn wäre. Ich sagte: ›Die ist auf dem Feld beim Pflügen – das machen in diesem Jahr die Frauen, weil doch die Männer alle –‹« »Um des lieben Himmels willen, Michel«, fuhr ihm Anna Elisabeth in die Rede, »jetzt erzähl mir nicht auch noch, was du dem Fahrenden über die Männer aus dem Dorf berichtet hast! Ich möchte lediglich wissen, was es mit der kleinen Rolle –«
Michel warf sich in die Brust. »Willst du’s nun hören oder nicht?«, riss er das Wort wieder an sich.
Anna Elisabeth nickte ergeben.
»Also«, setzte Michel seinen Bericht fort, »der Mann ließ mich ausreden und sagte dann: ›Hier ist das, was ich zu übergeben habe, junger Herr‹ – damit meinte er mich – ›seid so gut und reicht es der Jungfer Anna Elisabeth, wenn sie wieder vom Feld kommt, denn wir müssen weiter.‹ Und dann gab er mir dieses hier ...«
Er kramte in seinem Hosensack, förderte ein schmales Päckchen zutage, hielt es Anna Elisabeth hin. Sie nahm es entgegen. Es war ein eng zusammengerolltes Stück Papier – aus grauen Hadern wie das, aus dem Albrecht die Fibel für sie hergestellt hatte. Ihr Herz begann zu hämmern. Sie spürte, wie sie blass wurde.
»Freut dich das nicht?«, fragte der Michel, der das sofort bemerkt hatte.
»Doch. Jetzt geh an deine Arbeit.« Anna Elisabeth war kaum noch in der Lage, ihre Aufregung zu beherrschen. »Danke, dass du es für mich angenommen hast.«
Michel war enttäuscht über Anna Elisabeths mangelnde Begeisterung. Er ging mit hängenden Schultern.
»Du darfst dir später zum Essen ein zweites Stück Speck abschneiden«, rief Anna Elisabeth ihm nach. Das tröstete ihn einigermaßen, denn seine Schultern hoben sich wieder, als er hinausschlüpfte. Doch Anna Elisabeth sah es nur aus den Augenwinkeln, denn sie hatte das Papier bereits entrollt und angefangen, die dicht gedrängten Zeilen zu entziffern, die darauf geschrieben standen:
die Zeitläufte erfordern, dass ich mit einem Standesgenossen einen Ritt unternehme, der mich auf einige Tage von daheim wegführen wird. Doch fürchte nichts, wenn ich, solange diese Fahrt dauert, keine weitere Nachricht sende. Mein Unterfangen ist zu unserem Besten und dient einem vorteilhaften Ende.
Sei gewiss, ich melde mich als Erstes bei dir zurück, liebes Herz – sobald ich daheim anlange.
Bis dahin küsst und umarmt dich viel tausendmal
auf ewig der Deine
Albrecht
»Sag, Annelies – darf ich von dem Brei schon ein bisschen an die Kinder austeilen?«
Anna Elisabeth fuhr zusammen und blickte von Albrechts Zeilen auf. Gertrud hatte ihr die Frage gestellt. Außerdem war es beinahe dunkel im Zimmer, und der Michel stand unschlüssig bei der Herdstelle, einen noch jungfräulichen Kienspan in der Hand.
Anna Elisabeth las die Frage in seinen Augen. »Ja, zünd nur an, Michel«, antwortete sie, »und du, Gertrud – gib den Kleinen ganz schnell ihr Nachtmahl. Wie lange hab ich denn hier gesessen ...?«
»O – lange«, sagte der Michel.
»Aber nicht zu lange«, suchte Gertrud zu beschönigen. »So großen Hunger hatten wir überhaupt noch nicht.«
»Ich doch«, machte Michel ihre Bemühungen um Harmonie sofort wieder zunichte. »Mir knurrt der Magen wie ein wilder Bär...«
Anna Elisabeth versuchte sich ein Lächeln abzuringen. »Dann füttere diesen Bären jetzt«, sagte sie. »Sollte der Brei nicht langen, um ihn satt zu machen, kann noch das frische Brot angeschnitten werden.«
Die kleine Gertrud mischte sich wieder ein. »Wir hätten es schon getan«, sagte sie schüchtern, »aber es war ja noch nicht gesegnet, Annelies. Das musst du doch tun ... wo der Altvater nicht mehr bei uns ist ...«
Anna Elisabeth kam ihrer Pflicht sofort nach. Schweigend ritzte sie drei Kreuze in die dicke braune Kruste des frischen Brotlaibes und reichte ihn dann dem kleinen Mädchen, das sich schon so verständig anstellte. »Nun darf es gegessen werden«, sagte sie sanft. »Verzeiht mir, dass ich euch so lange hab warten lassen.«
Damit nahm sie das graue Papier wieder zur Hand. »Willst du denn nicht auch etwas essen?«, fragte das kleine Mariechen besorgt. »Es ist doch so viel da ... und du musst ja bei Kräften bleiben!«
Anna Elisabeth schenkte der Vierjährigen ein zärtliches Lächeln. Wie oft hatte sie selbst dem Kind diese Worte schon gesagt? »Lasst mir einfach etwas übrig«, sagte sie. »Ich nehme mir später davon – wenn ihr alle fertig seid.«
Die Kinder gaben sich zufrieden. Gertrud, die bereits Löffel für alle zurechtgelegt hatte, schleppte den schweren Breikessel vom Herd zum Tisch, und der Michel sah tatenlos zu, wie die Kleine sich abmühte – ein echter Mann, schon jetzt, mit seinen vierzehn Jahren.
Doch Anna Elisabeth wies ihn heute nicht zurecht, wie sie es üblicherweise getan hätte. Sie war in Gedanken bei dem, was Albrecht ihr geschrieben hatte. Eine Fahrt hatte er unternommen, mit einem anderen Edelmann – eine Reise, die mehrere Tage dauern sollte. Was mochte ihn dazu bewogen haben, und was hoffte er damit zu erreichen?
Er hatte ihr keinerlei Erklärung gegeben außer der, dass sein Unternehmen ihnen dienlich sein werde. Aber was meinte er mit der Aussage, die Zeitläufte erforderten seine Reise?
Anna Elisabeth spürte, wie sie innerlich zu zittern begann.
Irgendein Umstand hatte Albrecht gezwungen, diese Reise zu unternehmen. Er hatte sie nicht aus freien Stücken angetreten. Er reiste in Begleitung eines Standesgenossen – etwa, um eine Fehde zu führen?
Fehden waren wie Kriege ... man konnte dabei verwundet werden oder sogar zu Tode kommen – so, wie im Augenblick Hannes Rebmann Gefahr lief, Gesundheit oder Leben zu verlieren. Denn Hannes Rebmann hatte sich und seine Truppe mit dem Hellen Haufen vereinigt und lagerte inzwischen nach allem, was Anna Elisabeth erfahren hatte, mit seinen Männern irgendwo nahe einem Kloster an der Jagst, im großen Feldlager aller Bauern aus dem Odenwald und Neckartal.
Der Bote war erst gestern da gewesen. Der Helle Haufen wolle sich in Bälde nach Weinsberg begeben, zu einem ersten Treffen mit den dortigen adligen Herren. Das Bauernheer zähle inzwischen zu Tausenden, alle voller Mut und Entschlossenheit. Den Herren dagegen stünden nur wenige reisige Knechte zur Verfügung. Außerdem seien sie recht verzagt, wie der Bote berichtet hatte. Der Bauernschaft sei der Sieg so gut wie sicher.
Anna Elisabeth knüllte das graue Papier zu einer kleinen Kugel zusammen und entfaltete es gleich wieder. »... Bis dahin küsst und umarmt dich viel tausendmal ...«
Sie erhob sich von dem Schemel, auf dem sie gesessen hatte, und begann in der Stube auf- und abzugehen. Eins war sicher: sie konnte nicht warten, bis Albrecht sich wieder bei ihr meldete. Sie brauchte Gewissheit über seinen Aufenthalt. Sie musste wissen, ob er sich in Gefahr befand, und wie es ihm ging. Und um all das in Erfahrung zu bringen, musste sie nach Weißenstein.
Anna Elisabeth blieb abrupt stehen. Der Gedanke war so abenteuerlich, dass sie für einen Augenblick die Luft anhielt. Wie um Gottes willen sollte sie denn dorthin gelangen – sie, eine Frau ohne Begleitung?
Aber nach Weißenstein musste sie. Ganz gleich, wie. Wenn Albrecht zu Pferd zwei Tage gebraucht hatte, dann würde sie zu Fuß vier Tage brauchen ... vielleicht nur drei, wenn sie sich sputete.
Sie raffte ihren Mantel vom Wandhaken, warf sich das schwere Kleidungsstück über und ging hinaus. Auf ihr Klopfen an der Tür der Kate, die nur wenige Schritte von der Mühle entfernt stand, öffnete die Besitzerin. »Nanu, Annelies – was gibt’s denn so spät noch?«
»Katharina«, Anna Elisabeth bemühte sich um einen lockeren Tonfall, »ich muss morgen früh aus dem Haus und werde erst spät wiederkommen können – vielleicht sogar erst in einigen Tagen. Und da wollte ich dich bitten –«
»Aus dem Haus? Weswegen?« Die Nachbarin machte erschrockene Augen. »Es wird doch nichts passiert sein?«
»Nein, nein«, beruhigte Anna Elisabeth, »nur ... eine entfernte Base hat nach mir geschickt. Ihre Mutter liegt auf den Tod danieder, und sie schafft die Arbeit nicht allein ... Du weißt ja, Katharina, wie das heute überall ist.«
Die Nachbarin seufzte. »Überall fehlen die Männer«, gab sie zurück, »aber was soll man machen?«
Anna Elisabeth kam wieder zur Sache. »Würdest du, wenn ich weg bin, hin und wieder bei mir nach dem Rechten sehen?«, fragte sie drängend. »Matthias seine Gertrud ist ja schon ein sehr verständiges Mädchen – aber mit ihren acht Jahren kann sie beim besten Willen noch nicht alles ganz allein schaffen. Und der Michel, der ist ein fauler Sack – wenn ihm niemand aufträgt, was er zu tun hat.«
Katharina nickte. »Ich sag’s ihm schon«, beruhigte sie Anna Elisabeth. »Geh du nur zu deiner Base, und sorg dich nicht. Du wirst dein Hauswesen in bester Ordnung wiederfinden, wenn du heimkommst – ich versprech’s dir.«
»Tausend Dank«, sagte Anna Elisabeth. Sie drückte ihrer Nachbarin die Hand. Katharina war nicht viel älter als sie, aber schon seit mehreren Jahren mit einem Schuhmacher verheiratet, dem sie inzwischen vier Kinder geboren hatte. Drei davon hatte Gott ihr wieder genommen, nur das Älteste, ein zartes, immer hustendes Mädchen, war ihr noch geblieben. »Wenn du bei mir hereinschaust, dann bring deiner Annemarie doch aus meiner Truhe das schöne Stück Wollenzeug mit«, fügte sie hinzu, während sie sich wieder zum Gehen wandte. »Es liegt ganz zuoberst, ein weiches, hellblaues, aus dem du deinem Kind eine warme Jacke machen könntest. Annemarie würde sicher allerliebst darin aussehen ...«
Katharina hatte plötzlich Tränen in den Augen. »Vergelt’s dir Gott«, sagte sie zum Abschied, »und Glück auf den Weg, Annelies.«
Weit vor Tagesanbruch war Anna Elisabeth am folgenden Morgen aufgebrochen. Sachte und ohne ein Geräusch, um die Kleinen nicht zu wecken, hatte sie das Haus verlassen und den Weg genommen, der aus dem Dorf hinausführte. Abgesehen von einem Leinentuch, in das ein Stück Speck, ein Brot und ein Messer eingebunden waren, hatte sie nichts bei sich gehabt als das, was sie auf dem Leibe trug – ein neues weißes Leinenhemd, ein schwarzes Schnürmieder aus selbst gemachtem Filz, einen Rock aus derbem grauem Wollzeug und darüber ihren blauen Wettermantel. Wollene Strümpfe und die frisch besohlten ledernen Festtagsschuhe hatten ihre Reisetracht vervollständigt.
Es war ein wunderliches Gefühl gewesen, wegzugehen – so, als sei es ein Abschied für immer. Anna Elisabeth war am Ausgang des Dorfes kurz stehen geblieben und hatte zurückgeblickt auf die vertraute kleine Ansammlung von Häuschen und Katen, von Stallungen und Geflechtzäunen, die ihre Heimat ausmachten. Besonders ihr Vaterhaus und die Mühle, deren Wasserrad nun schon seit Wochen stillstand, hatten ihren Blick gefangen gehalten, so dass sie sich mit Gewalt von dem Bild hatte lösen müssen.
Tief durchatmend war sie schließlich weitergegangen und hatte die Biegung des Weges umrundet, von wo aus man das Dorf nicht mehr sehen konnte. Wütend hatte sie die Tränen zurückgekämpft, die nun doch gekommen waren, und war weit ausgeschritten. Die erste Rast hatte sie erst gegen Mittag gemacht, fern von ihrem Heimatdorf und weit ab von jeder bekannten Gegend.
Das alles lag nun schon zwei Tage zurück. Der Himmel hatte es gut mit ihr gemeint und keinen Regen geschickt, wie die kleine Gertrud es doch so klug vorausgesagt hatte. Auf trockener Straße, unbehelligt und ungefährdet, war sie schnell vorangekommen. Einmal hatte sie sogar ein uralter Mann, der mit seinem Ochsenkarren zum Markt unterwegs war, ein Stück weit mitgenommen. Seine drei Söhne seien auch beim Hellen Haufen, hatte er ihr erzählt, und er hätte wohl selber gerne den Feldzug gegen die Raubgrafen und Erzhalunken von Pfaffen mitgemacht, wenn nur die alten Knochen es noch gestattet hätten. Ja, jetzt endlich gehe es den Menschenschindern an den Kragen. Und überhaupt gehörten alle die adligen Schurken gevierteilt ...
Anna Elisabeth hatte ihr Ziel beinahe erreicht. Die Vorburg von Weißenstein war bereits in Sicht gekommen. Nur noch wenige Schritte, dann würde sie Albrechts Burg betreten.
Aus dem schmalen Fensterchen der Wachstube am Torturm schaute ein eisgrauer Kopf hervor. »Wer da?«, fragte eine brummige Altmännerstimme.
Anna Elisabeth knickste erschrocken. Sie hatte sich überhaupt nicht überlegt, was sie als Grund ihres Erscheinens vorbringen sollte. Außer dem Herrn dieser Burg kannte sie ja niemanden auf Weißenstein.
Doch – es gab noch jemanden. »Ich möchte den Christoph besuchen«, sagte sie und legte einen kecken Ton in ihre Stimme. »Würdet Ihr mich wohl hineinlassen, damit ich ihn sprechen kann?«
»Soso, den Christoph?« Der alte Weißbart unterdrückte ein Lächeln. »Da wird er aber erfreut sein. He, Herr Christoph ... hier wünscht Euch eine recht propere junge Frau zu sehen!«
Die letzten Worte hatte er, rückwärts gewandt, ins Dunkel der Wachstube hineingerufen. Augenblicke später lugte Albrechts junger Bruder aus dem zweiten kleinen Fenster heraus. Als er Anna Elisabeths gewahr wurde, zog er in höchster Überraschung beide Augenbrauen hoch. »Ihr?«, fragte er konsterniert. »Wie kommt Ihr denn hierher?«
»Auf Schusters Rappen«, erwiderte Anna Elisabeth im muntersten Ton, den sie bei ihrer Aufregung zustande brachte, und knickste noch einmal.
»Aber ... was wollt Ihr denn?« Christoph schluckte schwer; Anna Elisabeth erkannte es an seinem auf- und abhüpfenden Adamsapfel.
»Ein paar Worte mit Euch wechseln«, erklärte Anna Elisabeth.
»Mit mir?« Christoph blickte verständnislos.
»Ja, mit Euch, Christoph.« Anna Elisabeth nickte zur Bekräftigung ihrer Worte. »Es geht um die Botschaft, die ich vor einigen Tagen bekommen habe.«
»Aber ich weiß nichts von dem, was mein Herr ... der Herr dieser Burg ...« Christoph begann zu stammeln. »Glaubt mir, Jungfer – ich kann Euch keinerlei Auskunft geben. Denn er hat mir nicht gesagt, was er –«
Anna Elisabeth unterbrach ihn einfach. »Ihr missversteht mich, Christoph«, sagte sie mit fester Stimme. »Lasst mich ein, dann erkläre ich Euch, um was es mir geht. Aber unter vier Augen.«
»Oho«, brummelte der alte Torwächter und kniff vielsagend ein Auge zu.
»Nein, nein, Burkhart«, wehrte Christoph hastig ab, »nicht, was Ihr denkt! Die Jungfer will bloß ...«
»Was es auch sei, sie sieht ungefährlich aus«, brummte der alte Mann. »Das Tor ist auch mit mir allein gut bewacht – geht nur und lasst Euch von der Jungfer deutlich machen, was sie will.« Er schmunzelte in den Bart. »Der kleinen Hedwig flößt es vielleicht ein bisschen Eifersucht ein, Euch mit einer so hübschen Unbekannten zu sehen ...«
Christoph lief rot an. »Ich sagte doch, es ist nicht das, wonach es aussieht«, spuckte er ärgerlich. »Außerdem soll Hedwig denken, was sie will. Es kümmert mich nicht!«
Er lief hinunter. Anna Elisabeth konnte seine Schritte auf den hölzernen Stufen der schmalen Wendeltreppe knarren hören. Dann öffnete sich die Schlupftür, die im äußeren Burgtor eingebaut war, und der Weg war frei.
Christoph winkte Anna Elisabeth herein. Er war ganz in grüne Wolle gekleidet; nur der Koller, der seine Schultern umschloss, bestand aus dunkelrotem Rauleder. Ein Barett aus schwarzem Filz, dessen Rand geschlitzt war und gelbes Futter zeigte, saß ihm auf dem ungebärdigen Haar.
Seine Miene verriet Verlegenheit und auch Ärger. »Ihr macht mir viel Verdruss mit Eurem Besuch«, sagte er, »zumal ich Euch überhaupt nicht helfen kann. Denn mein Bruder ist...«
»Das weiß ich doch längst«, schnitt ihm Anna Elisabeth zum wiederholten Mal die Rede ab. Sie trat ohne weitere Umstände in den Burghof und bedeutete Christoph, mitzukommen. »Wir haben Wichtiges miteinander zu besprechen«, sagte sie. »Bringt mich an einen Ort, wo wir ungestört sind.«
Christoph spürte, dass Anna Elisabeth sich nicht würde abweisen lassen; ein gewisser harter Glanz in ihren Augen verriet das. »Gut denn.« Er gab sich geschlagen. »Setzen wir uns auf die Bank beim Taubenhaus. Da ist um diese Tageszeit niemand. Aber ich kann nicht versprechen –«
»Das sollt Ihr ja auch nicht.« Anna Elisabeth ließ ihn den Satz erst gar nicht vollenden. Sie stand ungeduldig da, ihr Bündel fest an die Brust gepresst, und wartete darauf, dass er sie führte. »Gehen wir doch endlich, und verlieren wir nicht so viel Zeit mit Herumstehen!«
Er winkte ihr mitzukommen. Schweigend durchschritt er den äußeren Hof, trat durch ein weiteres Tor in den inneren Hof ein und wies Anna Elisabeth, als das Taubenhaus erreicht war, einen Platz auf der kleinen steinernen Bank an, die danebenstand. Sie war ihm schnellen Schrittes gefolgt und ließ sich jetzt müde auf der harten Sitzgelegenheit nieder.
»Da Ihr es so eilig hattet, stellt mir jetzt auch ohne Umschweife Eure Fragen«, verlangte Christoph, ohne sie anzusehen.
Anna Elisabeth fühlte sich nach den Anstrengungen ihrer langen Wanderung plötzlich erschöpft und ausgepumpt. Sie schloss für einen Moment die Augen. Dann, nach einigen tiefen Atemzügen, sagte sie: »Albrecht schrieb mir, er sei mit einem Standesgenossen auf Reisen gegangen. Was wisst Ihr darüber?«
Christoph sah sie verdutzt an. »Der Herr ... mein Bruder hat Euch ... geschrieben? Das glaube ich nicht. Wie solltet Ihr wohl einen Brief lesen können?«
»Das tut jetzt nichts zur Sache«, sagte Anna Elisabeth matt. »Gebt einfach Antwort, Christoph – und verschweigt mir nichts, weil ich es wissen muss.«
Der junge Mann lehnte sich mit dem Rücken an die schmale Seitenwand des Taubenhauses und presste die Lippen zusammen. »Er ist einfach davongeritten, ohne mir den Grund seines Abzuges recht zu erklären«, murmelte er verbissen. »Herr Florian Geyer hatte ihn besucht am Abend zuvor, und sie hatten sich lange beraten. Drauf ließ Albrecht die besten unserer Burgleute zusammenrufen, und ich musste ins Dorf, um einige unserer Bauern hierher zu holen.«
»Warum das?«
Christoph heftete den Blick auf Anna Elisabeths Gesicht, das jetzt äußerste Anspannung verriet. »Wenn ich das wüsste ...«, knurrte er. »Jedenfalls wurden die Waffen gesichtet und in Ordnung gebracht, und Herr Florian Geyer schien mir sehr erfreut über den guten Zustand, in dem sich unsere Handbüchsen und Armbrüste befinden. Alles wurde noch am Abend auf zwei Wagen gepackt. Am Morgen dann –«
»Albrecht hat also mit seinen Leuten Weißenstein verlassen?«, fragte Anna Elisabeth nach. »Dann habe ich vielleicht Recht, wenn ich annehme, dass er mit diesem Herrn Geyer auf einen Fehdezug aus ist. Wäre das möglich?«
»Nein.« Christoph schüttelte den Kopf so energisch, dass seine halblangen flachsblonden Haare flatterten. »›Es gibt ein Kräftemessen‹, verriet mir Albrecht an dem Morgen, als die Truppe abzog. ›Zu Weinsberg halten sich um Ostern viele Herren auf – da wird’s drauf und drangehen.‹«
»Und was wollte er damit sagen?«, forschte Anna Elisabeth.
Christoph brauste auf. »Zum Teufel, ich weiß es doch auch nicht!«, grollte er wütend. »Und wenn ich es wüsste – dann würd ich’s Euch wohl nicht verraten. Ihr seid aus Bauernstamm ... und gegen die verdammten Bauern geht der Zug der Herren ja wohl!«
Anna Elisabeth stockte der Atem. Sie brauchte einen Augenblick, um wieder Worte zu finden. Dann reckte sie sich steil auf. »Wenn ich mich nicht irre, bist du ebenfalls aus Bauernstamm«, fuhr sie Christoph an, »wenigstens zur Hälfte. Oder gehörte deine Mutter am Ende sogar zu den Eigenleuten dieser Burg? Wie also kommst du dazu, mich derartig zu beleidigen, dummer Tropf? Das verrate mir doch!«
Christoph starrte Anna Elisabeth sprachlos an. »Ich ...«, stotterte er, »ich wollte Euch nicht ...«
»Und dazu haben wir auch weiß Gott keine Zeit«, sagte Anna Elisabeth scharf. »Nimm zur Kenntnis, dass ich von nun an jegliche Höflichkeiten dir gegenüber fallen lassen werde. In welcher Richtung liegt Weinsberg?«
»Ich ... ich weiß nicht ...«, stammelte Christoph betroffen.
»Was weißt du denn überhaupt?« Anna Elisabeth war zornig, und sie ließ dem Gleichaltrigen gegenüber keinen Zweifel mehr daran. »Bist du ein Mann, Christoph – oder ein Kind?«
Er hatte erst jetzt wahrgenommen, dass sie ihn mit dem vertraulichen Du ansprach. Wütend zerrte er sich das dünne rotleinene Tüchlein vom Hals und zerknüllte es mit beiden Händen. »Denkt doch, was Ihr wollt«, stieß er hervor, »ich werde Euch schon noch beweisen, dass ich kein Kind mehr bin!«
»In welcher Richtung liegt Weinsberg?«, wiederholte Anna Elisabeth unbeeindruckt ihre Frage.
»Die Truppe ist in südlicher Richtung davongezogen«, kam trotzig Christophs Antwort. »Warum wollt Ihr das überhaupt wissen?«
»Weil ich nach Weinsberg muss«, sagte Anna Elisabeth leise. Sie hatte den Kopf gesenkt und schaute auf ihre Hände. »Er ist in Gefahr, das spüre ich. Und ich möchte in seiner Nähe sein, um ihn vielleicht von einer Unbedachtsamkeit abzuhalten ...«
»Was?« Christoph hatte zwar ihre Worte gehört, aber deren Bedeutung nicht verstanden. »Du denkst doch nicht etwa daran ...«
Er hatte ebenfalls die förmliche Anrede fallen gelassen. Doch Anna Elisabeth überging diese Tatsache einfach. »Ich werde ihm nachreisen«, widersprach sie, »und wenn ich hier nicht in Erfahrung bringen kann, wo diese Stadt liegt, dann muss ich mich eben durchfragen. Bis hierher ist es mir ja auch gelungen.«
»Bist du von Sinnen?«, entfuhr es Christoph. »Du ahnst ja nicht, was für Gesindel sich auf den Straßen herumtreibt! Es war reines Glück, dass du die Burg unbeschadet erreicht hast ...« »Ich habe keine Angst«, sagte Anna Elisabeth.
Christoph fühlte sich durch ihre unverständliche Gelassenheit herausgefordert. »So kann nur eine reden, die nicht das Geringste vom Reisen versteht«, knirschte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Und was verstehst du davon?« Anna Elisabeth blieb ihm keinen Hieb schuldig. »Ich glaube kaum, dass du dich jemals weiter als bis zum Kirchdorf von deiner Haustür entfernt hast.«
»Ich war schon bis Amorbach«, trumpfte Christoph auf.
Doch Anna Elisabeth hörte gar nicht mehr hin. »Ich werde meinen Mantel verkaufen müssen«, sprach sie ihre Gedanken leise aus. »Was glaubst du – wird sich vielleicht hier jemand finden, der mir etwas Reiseproviant dafür gibt?«
Bei diesen Worten hatte sie Christoph angesehen. Er, immer noch in seinem Stolz gekränkt, brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was sie gefragt hatte. »Wohl nicht«, meinte er schließlich mit einem abschätzigen Blick auf das schlichte Kleidungsstück, das locker um Anna Elisabeths Schultern lag. »Aber du wirst ihn selber brauchen. Wie willst du sonst dem Wetter trotzen?«
»Nahrung ist wichtiger«, sagte Anna Elisabeth. »Wann, sagtest du, werden sich die Herren in Weinsberg treffen?«
»Zum Osterfest.« Christoph sah sie triumphierend an. »Das kannst du zu Fuß niemals schaffen – selbst wenn du nicht überfallen wirst und gut vorankommst.«
»Dann werde ich mich eben einem Kaufmannszug anschließen«, überlegte Anna Elisabeth. »Vielleicht kommen auch andere Reisende des Weges und sind bereit, mich mitzunehmen ...«
Christoph stand wie erstarrt. Er hielt den Blick auf Anna Elisabeth gerichtet, doch es war, als schaue er durch sie hindurch. »Ich sollte hier bleiben«, murmelte er geistesabwesend, »in der Sicherheit von Weißenstein. Aber das werde ich nicht tun ...« Er sah sie an, und jetzt lag ein begeisterter Ausdruck auf seinem noch fast bartlosen Jungmännergesicht. »Ich werde dir Geleitschutz sein«, erklärte er mit einem jubelnden Unterton in der Stimme. »Ich werde dich zu meinem Bruder bringen, denn wie kann ich dich, die Frau, die er erwählt hat, einfach den Gefahren der Straße aussetzen?« Er wechselte das Standbein, doch es sah aus wie ein kleiner Freudensprung. »Dass ich darauf nicht schon gleich am Anfang gekommen bin! Mädchen ... fürchte nichts!«
Er hatte sich hoch aufgereckt. Anna Elisabeth musterte ihn erstaunt. Plötzlich sah er gar nicht mehr so jungenhaft unsicher aus. Dennoch konnte sie ihm für den Augenblick noch keinen Respekt zollen. »Ich brauche lediglich Wegzehrung«, sagte sie störrisch.
Er ging auf diese Widerrede nicht ein. »Folge mir«, befahl er ihr mit energischer Stimme, »du wirst hungrig und müde sein. In der Küche soll man dir eine Mahlzeit reichen, und danach sehe ich zu, dass du gut untergebracht wirst.«
»Aber ich habe überhaupt nicht vor, hier zu bleiben«, gab Anna Elisabeth widerspenstig zurück. »Was ich wissen wollte, weiß ich ja jetzt – und da kann ich auch gleich weiterwandern.«
»Jetzt höre!« Christoph packte sie am Handgelenk. »Du wirst tun, was ich dir sage, Mädchen. In den Ställen von Weißenstein stehen immer noch mehrere gute Pferde – und ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir lieber die Füße wund läufst, als von einem frommen Ross getragen zu werden. Zweitens glaube ich nicht, dass du wirklich allein fortkommen willst. Du möchtest ja dein Ziel erreichen – das aber gelingt dir sicher nur, wenn du in Begleitung eines waffenfähigen Mannes reist.«
»Und du hältst dich für einen solchen Mann?«
Christoph verzog diesmal keine Miene. Unbeirrt begegnete er Anna Elisabeths Blick. »Ein Wolf von Weißenstein braucht den Vergleich nicht zu scheuen«, sagte er ernsthaft.
Wie er so dastand, erinnerte er Anna Elisabeth plötzlich sehr an Albrecht. Auch der hatte diesen entschlossenen Zug um den Mund und dieses blaue Feuer im Blick. »Gut«, sagte sie, »wir können es ja miteinander versuchen. Obwohl ich noch nicht davon überzeugt bin, dass du es mit einem erwachsenen Mann aufnehmen kannst.«
Doch nicht einmal diese herausfordernden Worte konnten Christoph jetzt noch verunsichern oder erzürnen. Er lächelte einfach. »Komm«, sagte er nur. Dann zeigte er Anna Elisabeth den Weg zur Küche.