DREIKÖNIGSTAG

Die kleine Kirche war jetzt leer – alle, die dem Gottesdienst beigewohnt hatten, waren inzwischen wieder gegangen.

Albrecht, wieder in der Verkleidung der alten Frau, hatte sich hart in den Schatten eines Pfeilers gedrückt und versuchte seine Gedanken zu sammeln.

Sie war nicht gekommen. Niemand aus ihrem Dorf war da gewesen. Aber es konnte nicht sein, dass er den Weg diesmal ganz umsonst unternommen hatte. Er musste Anna Elisabeth sehen. Zu sehr hatte er sich darauf gefreut, ihr nah zu sein – wenn auch nur für Augenblicke.

Heute war er allein hier, ohne Christoph. Was zum Teufel sollte er jetzt tun? Langsam und mit tief gesenktem Kopf verließ auch er die Kirche. Der Pfarrer, ein schlaksiger junger Kerl mit weichlichen Gesichtszügen, schickte der sonderbaren, dick vermummten und ortsfremden Frau einen forschenden Blick nach.

Seinen Falben hatte Albrecht in dem kleinen Wäldchen am Ausgang des Kirchdorfes versteckt. Das Pferd stand genauso da, wie er es verlassen hatte. Es begrüßte seinen Herrn mit einem freudigen Schnauben. »Was willst du mir damit sagen?«, brummelte Albrecht, während er seine Hand zärtlich über die weichen Nüstern seines Tieres gleiten ließ. »Wagen wir uns zu ihr – oder lassen wir’s bleiben?«

Der Falbe schnaubte ein zweites Mal. Seine Atemwolke wehte ganz weiß in die klare, kalte Luft. »Recht hast du, mein Alter«, murmelte Albrecht, »so schnell sollten wir uns nicht irremachen lassen.« Er löste die Zügel von dem Ast, an den er das Pferd angebunden hatte, und kletterte in den Sattel. Eine Strecke weit führte der Weg zu ihrem Dorf durch den Wald. Das gab ihm Zeit genug, sich etwas einfallen zu lassen.

Tief gesenkten Hauptes ritt Albrecht den verschneiten Karrenweg entlang, seinem Pferd die Wahl der Gangart und Geschwindigkeit überlassend. Zuerst bemerkte er darum die verhüllte Gestalt gar nicht, die ihm entgegenkam. Erst als er dicht an sie herangekommen war, wurde er ihrer gewahr und hielt sein Tier an.

»Albrecht«, sagte die Vermummte, »Gott sei Dank, dass ich dich noch antreffe!«

»Anna!« Indem er ihren Namen aussprach, war er schon aus dem Sattel geglitten und nahm sie in die Arme. »Wo warst du denn? Warum bist du nicht gekommen? Ich dachte schon ...«

»Ich konnte nicht rechtzeitig weg«, fiel sie ihm in die Rede. »Zur Messe hat’s nicht mehr gereicht. Und da bin ich einfach –«

Er unterbrach sie mit einem Kuss. Dann ließ er sie abrupt los. »Ich muss mit dir reden«, sagte er eindringlich. »Weißt du einen Ort, wo wir ungestört sein können?«

Sie überlegte. Es hatte angefangen zu schneien; eine dicke, fedrige Schneeflocke setzte sich auf ihre Nasenspitze und schmolz langsam zu einem Wassertropfen. Er beobachtete das Schauspiel fasziniert. Weitere Flocken schwebten auf die dunklen Löckchen ihres Haaransatzes nieder und zerschmolzen ebenfalls ... wurden zu blitzenden kleinen Diamanten ...

Albrecht konnte nicht anders, er musste sie noch einmal küssen. Sein Herz hämmerte. Ihre Lippen waren warm und weich und samten ...

»Komm«, sagte Anna Elisabeth und machte sich von ihm los. »Es gibt eine Hütte, tiefer im Wald. Im Sommer haust der Köhler darin. Winters steht sie leer.«

Albrecht saß wieder auf und ordnete die voluminösen Weiberröcke, in denen er steckte. »Wirst du diesmal mit mir reiten?«, fragte er mit einem augenzwinkernden Blick auf seine Verkleidung und streckte ihr die Hand entgegen. Anna Elisabeth nickte. »Es tut meinem guten Ruf keinen Abbruch, mit einer Frau zu Pferd zu sitzen«, erwiderte sie im gleichen neckenden Ton. Sie lachte leise, als sie sich von ihm vor sich aufs Pferd heben ließ.

Das Innere der Köhlerhütte roch nach schimmligem Stroh und feuchtem Staub. Die zerfallende Herdstelle an der Stirnseite des kleinen, rechteckigen Raums war schon lange nicht mehr genutzt worden; aus der vor vielen Monaten erkalteten Asche des letzten Feuers waren sogar Pilze entsprossen, deren schwarze, vertrocknete Hüte schief aus dem Moder emporragten.

»Himmel«, sagte Albrecht, »was für ein gemütliches Plätzchen!«

Anna Elisabeth erwiderte seinen Blick mit Verlegenheit. »Ich wusste nicht, was uns hier erwartet«, stammelte sie, »aber warte nur – wenn aufgeräumt ist, sieht es sicher sehr viel besser aus. Ich mache erst einmal Feuer.«

Albrecht riss seinen Blick mit Mühe von den Pilzen in der modrigen Feuerstelle los. »Das wirst du bleiben lassen«, sagte er, »denn diese Arbeit übernehme ich!«

Er hatte den kleinen Stapel halb verrottetes Feuerholz entdeckt, der am Fuß der Feuerstelle lag. Anna Elisabeth lachte. »Das brennt nicht mehr«, sagte sie belustigt. »Das ist höchstens noch gut zum Anzünden. Wir werden wohl etwas Knüppelholz zusammensuchen müssen, wenn wir’s warm haben wollen ...«

»Meinst du?«, fragte Albrecht. In dieser ungastlichen Behausung gab es nicht einmal einen Schemel, soweit er sehen konnte. Die einzige Möglichkeit, sich hinzusetzen, bot ein ungefüger Kasten mit einem großen, verrosteten Vorhängeschloss, das offensichtlich aufgebrochen worden war. »Wir könnten ja die alte Kiste auseinander schlagen und verbrennen«, fügte er hinzu. »Zum Aufbewahren taugt sie sowieso nicht mehr – das Schloss ist hin.«

Anna Elisabeth war gerade dabei, mit Hilfe einer rostigen kleinen Schaufel die feuchte Asche von der Feuerstelle abzutragen. Sie ließ die erste Ladung in einen schadhaften hölzernen Kübel fallen und grub energisch weiter. »Und worauf sollen wir dann sitzen?«, gab sie zurück.

Das leuchtete Albrecht ein. »Ich hole uns etwas Holz«, sagte er und ging nach draußen.

Es dauerte beinahe eine Stunde, bis das Feuerchen endlich brannte. Anna Elisabeth und Albrecht saßen auf der alten Kiste vor dem Herd und wärmten sich die eiskalten Finger. Langsam, ganz langsam wurde es erträglich in der Köhlerhütte, und die klamme, dumpfig riechende Luft entwich mit dem Rauch des Feuers durch die Ritzen im Schindeldach. Albrecht hatte den Arm um Anna Elisabeths Schultern gelegt und sie eng an sich gezogen. Im Augenblick empfand er nichts als ein großes Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit. Seine Lippen ruhten auf ihrer runden Stirn, seine Atemzüge kamen und gingen im Einklang mit ihren, und er wünschte sich nichts, als dass diese Momente der Stille und des Friedens nie vergehen möchten. Aber die Zeit blieb nicht stehen.

»Sie werden sich schon wundern, wo ich bleibe«, murmelte Anna Elisabeth und lehnte sich an ihn. »Bald muss ich fort ...«

Albrecht kam in die Wirklichkeit zurück. »Noch nicht«, sagte er. »Zuerst müssen wir Wichtiges bereden.«

»Was könnte das sein?« Ihre Frage klang träumerisch. Sie dehnte sich an seiner Brust.

Er tastete unter seinem dicken Wams nach dem Bündel Papier, das dort warm und trocken gesteckt hatte. »Ich will, dass du dir dies hier einmal ansiehst«, sagte er mit plötzlicher Nüchternheit.

Anna Elisabeth hob den Kopf und sah ihn verwundert an. »Was ist das?«, fragte sie mit einem verwirrten Blick auf die Papiere, die er ihn hinhielt.

»Eine Fibel«, erwiderte Albrecht.

»Aber ich kann ja nicht lesen«, sagte Anna Elisabeth, »das weißt du doch!«

»Du wirst es lernen.«

»Aber –«

»Wenn du mich liebst, Anna – dann wirst du es lernen.« Albrecht beharrte darauf. »Es wird dir leicht fallen. Schau dir doch die erste Seite einmal an!«

Sie betrachtete folgsam das zuoberst liegende Blatt. »Erkennst du, was ich da in der ersten Zeile für dich aufgezeichnet habe?«, fragte Albrecht.

»Einen Apfel.«

»Und der Buchstabe daneben ... das ist ein A. Ein großes und ein kleines A.«

»Ach?« Anna Elisabeth legte den Kopf schief. »Und der Buchstabe neben der Birne steht demnach für B?«

»Ganz recht.« Albrecht strahlte sie an und drückte ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn. »B – wie Birne oder Baum oder –« »Bauer.«

Sie hatte sofort begriffen. Mit keinem Wort hatte er ihr erklären müssen, wie sie lesen lernen sollte. Sie hatte eben den hellen Kopf, den er ihr zugesprochen hatte. »Anna«, sagte er, »wirst du es tun – für mich?«

Sie lächelte. »Nicht nur für dich«, erwiderte sie nachdenklich und widmete ihm einen tiefen Blick. »Aber sag mir: Warum willst du, dass ich es kann?«

Er zog sie an sich. »Weil eine Frau zu Weißenstein es können muss«, flüsterte er leidenschaftlich. »Wie sonst soll ich dich denn zu meiner Ehegemahlin machen ... ?«

Anna Elisabeth begann zu zittern – er spürte es deutlich. Sie hob ihm das Gesicht entgegen und suchte seine Augen. »Das ist unmöglich«, erwiderte sie mit bebenden Lippen, »nie wird dir das gelingen, Albrecht. Dahin gibt es keinen Weg ...«

Er erwiderte ihren Blick. »Und was soll dann geschehen?«, fragte er. »Dieser Müller, dem du versprochen bist, soll dich nicht bekommen. Du bist mein, das hast du selbst gesagt, und ich lasse nicht von dir. Aber in Sünde leben will ich auch nicht mit dir, Liebste. Also, sag mir – wie stellst du dir unsere Zukunft vor?«

Anna Elisabeth krallte die Finger in den Stoff seines Wamses. »Wir haben keine«, flüsterte sie, während ihre Augen sich langsam mit Tränen füllten. »Eine Zeit lang noch können wir uns heimlich sehen – so wie jetzt. Dann wird’s ein Ende haben müssen, Liebster. Im Mai nehme ich den Hannes zum Mann – wie mein Vater es will.«

Albrecht starrte sie an. Für den Augenblick fehlten ihm die Worte. Dann begann er zu lachen. »Du kannst doch nicht glauben, dass ich so einfach wieder aus deinem Leben verschwinden werde«, stammelte er und packte sie an den Schultern. »Ich liebe dich, Anna, und ich werde nicht auf dich verzichten!« Er verstärkte seinen Griff, bis es beinahe schmerzte. »Besinne dich, um Gottes willen! Oder bist du wirklich zu schwach, um für deine Liebe zu kämpfen?«

Sie senkte den Kopf. »Es hat wenig Sinn, einen Kampf zu beginnen, den man nur verlieren kann«, wisperte sie. »Was dich und mich betrifft, so glaube ich nicht, dass es uns je gelingen wird –«

Er rüttelte sie. Dann verschloss er ihre Lippen mit einem wilden Kuss. »Ich begehre dich«, stieß er hervor, »mehr, als ich jemals eine Frau begehrt habe, Anna. Es wäre mir ein Leichtes, dich einfach zu nehmen ... jetzt, hier, auf der Stelle. Aber ich will dich nicht zur Konkubine – hörst du? Ich will dich zu meiner Frau ... und ich werde dich bekommen!«

Er küsste sie noch einmal. Den geringen Widerstand, den sie ihm entgegensetzte, missachtete er einfach. Als er seinen glühenden Kuss beendete, stellte er fest, dass Anna Elisabeth tränenüberströmt in seinen Armen lag und von wilden Schluchzern geschüttelt wurde. Doch das kümmerte ihn nicht. »Du hast mir deine Liebe gestanden«, sagte er und packte von neuem ihre Schultern. »War das gelogen, Anna – oder hast du mir die Wahrheit gesagt?«

Sie antwortete nicht. Unter ihren geschlossenen Lidern quollen Ströme von neuen Tränen hervor.

»Nur, wenn du gelogen hast, kannst du mich jetzt noch von dir weisen«, setzte Albrecht seinen Monolog fort. »Nur, wenn du mich nicht liebst, Anna, werde ich dich lassen und nicht wiederkehren. Jetzt sprich, um Gottes willen!«

Sie öffnete die Augen. »Ich habe nicht gelogen«, sagte sie leise und mit einem verzweifelten Zittern in der Stimme. »Ich liebe dich so sehr, Albrecht, dass ich es nicht beschreiben kann. Aber –«

»Dann gibt es kein Aber«, schnitt er ihr die Rede ab. »Wirst du mir folgen, Anna?«

Ihre Augen hatten angefangen zu glänzen. »Es ist widersinnig«, erwiderte sie, »ich würde dir folgen bis ans Ende der Welt, Albrecht – wenn wir nur zusammenbleiben könnten!«

»Wir werden es einfach tun«, sagte er und schob das Kinn vor. »Wer sollte uns denn gebieten, was wir zu tun und zu lassen haben?«

Anna Elisabeth lächelte. Trotz zeigte sich in ihrem Blick. »Küss mich noch einmal, Albrecht«, sagte sie. »Ich will deine Berührung auf meinen Lippen spüren, wenn ich ins Dorf zurückgehe. Das Gefühl muss halten, bis wir uns wiedersehen. Wann...?«

»In vier Tagen«, sagte er. Dann nahm er ihren Mund in Besitz. Als sie sich kurze Zeit später trennten, wussten beide, dass der heutige Tag den Rest ihres Lebens bestimmt hatte. Sie gehörten endgültig zusammen – und es gab kein Zurück. Der kleine goldene Ring mit dem roten Stein, den Albrecht Anna Elisabeth gegeben hatte, hing an einer dünnen Lederschnur um ihren Hals und ruhte unter ihrem Mieder nah ihrem Herzen. Er war das Kostbarste, was sie je besessen hatte – nicht nur, weil er aus Gold und einem Edelstein bestand. Für sie symbolisierte er Albrechts Liebe – eine Liebe, die sie aus tiefster Seele erwiderte und die sie nie verraten würde.

 

Das Dreikönigsfest lag nun beinahe eine Woche zurück. Schon vor Tagesanbruch hatten sich die Männer des Dorfes vollzählig in Anna Elisabeths Vaterhaus getroffen und dort auf die Abordnungen aus den drei anderen Dörfern gewartet, die ihr Kommen zugesagt hatten. Als die Sonne sich dann endlich über den Horizont erhob und ihr kraftloses Licht über die frisch gefallene Schneedecke verströmte, quoll die Stube über von entschlossenen, zornigen und kampfbereiten jungen Männern, die ihre selbst gemachten Waffen – zu groben Schwertern umgeschmiedete Sensen und Sicheln, eisenbewehrte Dreschflegel und zu Stichwaffen umgearbeitete Forken – gleich mitgebracht hatten.

Anna Elisabeth zählte sechsunddreißig. Bis auf die Männer ihres eigenen Dorfes kannte sie kaum einen von ihnen. Aber untereinander schienen sie sich alle gut zu kennen, was Anna Elisabeth verwunderte. Denn wann hatten sie in der Vergangenheit schon Muße und Gelegenheit gehabt, miteinander ins Gespräch zu kommen?

Das musste sich in letzter Zeit geändert haben. Jetzt begrüßten sie sich mit Schulterklopfen und sogar herzlichen Umarmungen. Und der Hannes – der schien so etwas wie ihr Hauptmann zu sein ...

Gerade hatte sich wieder ein neu Angekommener sehr ehrerbietig bei ihm gemeldet und seinen Namen genannt. »Jaköble nennt man mich – aus dem Birkenhof. Aber lass dich durch den Spottnamen nicht irreführen, Müller. Ich bin kräftig genug, um draufzuschlagen, wo’s nötig ist!«

»Siehst auch nicht aus wie ein Hänfling«, grinste der Hannes und versetzte ihm einen kräftigen Puff an die Schulter. »Männer wie dich brauchen wir – viele von deiner Sorte!«

»Mein Bruder wollt auch kommen«, sagte der Jakob. »Es könnt sein, dass er schon heut dabei ist. Ihn druckt der Schuh gerade so wie uns ...«

Hannes nickte. »Wir brechen ja erst gegen den halben Vormittag auf«, sagte er, »die Pfaffen sollen wach und auf sein, wenn wir uns bei ihnen zu Gast melden!«

Die Männer lachten. In den Augen der meisten von ihnen lag ein böses Funkeln. »Zu Gast ist das rechte Wort«, sagte der arme Matthias aus dem Dorf. »Wer weiß? Vielleicht finden wir noch ein bisschen von unserem sauer erwirtschafteten Hab und Gut in ihren Kellern. Vielleicht haben sie das Unsere noch nicht vollständig aufgefressen ...«

Allgemeine Zustimmung war seine Antwort. Doch gleichzeitig drangen von draußen Geräusche herein. Ein paar Pferde waren in den Hof eingetrabt; mehrere Männer saßen ab und kamen sporenklirrend auf die Haustür zu. Eine harte Faust pochte an die Bohlen.

»Erwartest du noch mehr Leut, Hannes?«, fragte Anna Elisabeth und warf dem Müller einen unsicheren Blick zu.

Hannes schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsst ...«

Es klopfte noch einmal und viel härter. »Macht auf«, forderte eine heisere Stimme, »aber hurtig – eh wir die Tür aufbrechen!«

Hannes öffnete und starrte den Mann, der die barschen Worte geäußert hatte, finsteren Blickes an. Doch seine Erwiderung blieb ihm in der Kehle stecken. Denn der Bewaffnete war ein Klosterknecht, der jetzt den drei anderen, die mit ihm gekommen waren, einen knappen Wink gab. Die Männer hievten eine in eine wollene Decke eingerollte Gestalt von einem ihrer Pferde herunter und ließen sie einfach zu Boden gleiten. Dann, ohne sich weiter um denjenigen zu kümmern, den sie abgeladen hatten, saßen die Knechte wieder auf und ritten geschlossen vom Hof.

Hannes Rebmann war mit drei, vier Schritten bei der Gestalt, die da im Schnee lag. »Vater«, stieß er entsetzt hervor, »was haben die mit Euch gemacht ... wie übel hat man Euch mitgespielt ... !«

Der Alte ächzte leise. Er war so entkräftet, dass er nicht sprechen konnte, aber der Blick seiner tief in den Höhlen liegenden Augen sagte genug. Anna Elisabeth, die zitternd neben ihm niedergekniet war, konnte es nicht fassen. Ihr Vater, der doch vor seiner Verhaftung noch recht gut beieinander gewesen war, bot jetzt den Anblick eines Sterbenden – und er war es wohl auch. Denn seine Hände waren eiskalt, und Anna Elisabeth hatte den Eindruck, als atme er kaum noch.

Mit vereinten Kräften trugen ihn die Nachbarn ins Haus und betteten ihn in seiner Kammer, während Hannes ein Kohlenbecken hinauftrug und anzündete. Anna Elisabeth bereitete eine Brühe aus Rüben und einem Stückchen Speck und flößte ihm geduldig etwas davon ein. Aber so sehr sie sich auch bemühte, der Vater konnte beinahe nichts mehr schlucken, und immer wieder floss das meiste davon aus seinem Mundwinkel hinaus.

Die Nachbarn und die Männer aus den anderen Dörfern gingen heim. Der Zug zum Kloster musste verschoben werden – denn Hannes, ihr Anführer, war jetzt nicht abkömmlich. Familiendinge duldeten keinen Aufschub, und alles andere hatte zu warten.

Anna Elisabeth wachte die ganze folgende Nacht am Lager ihres Vaters. Der lag wie tot. Kaum dass ein schwacher Atem seine Brust hob und senkte. Hin und wieder drang ein mattes Röcheln aus seiner Kehle; Anna Elisabeth hatte das Gefühl, als schmerze ihren Vater das Atmen. Gegen Morgen ergriff ihn ein heftiges Fieber, das ihm den Schweiß aus allen Poren trieb und ihn noch mehr schwächte.

Anna Elisabeth hatte Angst. Mit allen Mitteln suchte sie das Fieber ihres Vaters zu senken. Sie umwickelte seine Waden mit feuchten Leintüchern. Sie versuchte ihm erneut warme Brühe einzuflößen. Sie kühlte seine glühende Stirn und wechselte mehrmals sein durchgeschwitztes Hemd. Aber nichts hatte eine rechte Wirkung. Hannes, der hilflos dabeistand, konnte förmlich sehen, wie die Kräfte seines Schwiegervaters mehr und immer mehr abnahmen. Gegen Abend, als das Fieber weiter anstieg, verließ er die Krankenstube. Er konnte seine eigene Hilflosigkeit nicht mehr ertragen.

»Hannes, wohin willst du?«, fragte Anna Elisabeth. »Nur hinaus. Brauch frische Luft!«

»Lass mich nicht allein, Hannes!« Anna Elisabeths Stimme zitterte.

»Du schaffst das schon«, war seine knappe Antwort. Er wandte sich zur Stiege.

»Bitte, bleib in der Nähe«, bettelte Anna Elisabeth. »Sieh nach, ob das Feuer auf dem Herd noch brennt – und bring mir frisches Wasser herauf.«

»Das soll die Gertrud machen«, gab Hannes zurück. »Ihr Weiberleut könnt das viel besser als wir Männer.«

Er ging einfach, ohne Anna Elisabeth noch einen Blick zu widmen. Sie hörte seine schweren Schritte auf der Stiege. Er entzog sich seiner Pflicht, ihr beizustehen – schon jetzt.

Noch vor wenigen Monaten wäre sie schrecklich enttäuscht und verletzt gewesen. Heute war ihr seine Gleichgültigkeit einerlei. Sie tastete nach dem Ringlein, das sie an der Lederschnur um den Hals trug, zog es hervor und presste die Lippen auf den glatten goldenen Reif. »Du hast Recht, Liebster«, flüsterte sie, »wir gehören zusammen und sollten nicht mehr zurückschauen ...«

 

Ein Betteljunge habe das Päckchen am Tor von Weißenstein abgegeben, sagte Christoph und reichte Albrecht ein Stück zusammengefalteter Birkenrinde.

»Und wie war seine Botschaft?«, wollte Albrecht wissen.

»Er hatte keine«, erwiderte Christoph langsam, »jemand habe ihm einfach aufgetragen, das Ding hier abzugeben – und damit gut.«

»Jemand? Wer war denn dieser Jemand?« Albrecht wollte sich mit so wenig Auskunft nicht zufrieden geben.

»Der Junge ist noch da«, sagte Christoph. »Wir könnten ihn fragen ...«

»Dann her mit ihm!« Albrecht war aufgeregter, als es der Vorfall eigentlich rechtfertigte. »Schick ihn mir herauf, Christoph – und mach, dass er sich sputet.«

»Soll er nicht erst den Teller Suppe essen dürfen, den ich ihm versprochen hatte?«, gab Christoph zurück. »Der Junge machte einen so ausgehungerten Eindruck ...«

»Magdalene soll ihm einen Kanten Brot in die Hand drücken«, sagte Albrecht ungeduldig, »den kann er auch hier essen. Jetzt lauf, Christoph. Ich will wissen, was das hier zu bedeuten hat!«

Christoph warf einen Seitenblick auf das sonderbare Päckchen und eilte hinaus. Schon sehr kurze Zeit später war er wieder da, einen zerlumpten kleinen Kerl von sieben oder acht Jahren im Schlepptau, der mit vollen Backen kaute und immer wieder hastig von einem dicken Stück Brot abbiss.

»Aha«, sagte Albrecht und baute sich mit gespreizten Beinen vor dem Bettelkind auf. »Du bist also der Bote dieses ... dieses Dings ...«

Der Junge schob sich mit der freien Hand seine schmierige braune Filzmütze schief aufs Ohr. Er schien nicht sonderlich beeindruckt davon, dass er dem Herrn dieser Burg gegenüberstand. »Hmm«, sagte er und nickte heftig.

»Wer hat dich geschickt?«

»Eine schöne Frau.« Der Junge biss erneut ein Stück von seinem Brot ab und kaute energisch.

»Eine ... was?«

»Na – eine Frau. Aus dem Dorf, wo wir durchkamen.« Der Junge grinste breit. Er schien mit allen Wassern gewaschen.

Albrecht musste sich ein Lächeln verkneifen. »Wer ist ›wir‹?«, fragte er.

»Meine Familie und ich.«

»Ihr seid Fahrende?« Albrecht musterte den Jungen scharf. Es war wahrhaftig mühsam, dem Knirps seine Kenntnisse zu entlocken! »Rede gefälligst von allein – ich habe keine Lust, alles aus dir herauszufragen!«

»Ja, ja«, sagte der Junge in plötzlicher Beflissenheit, »wir sind Landfahrer. Mein Vater flickt Kessel und schleift Messer und Scheren, und meine Mutter verkauft ... ihren guten Rat ...«

»Was ist denn damit gemeint?«, wollte Albrecht wissen.

»Sie kennt sich aus mit Heilkräutern und so«, murmelte der Junge. »Und Segenssprüche kennt sie auch ...«

Albrecht zog eine Augenbraue hoch. »Hoffentlich keine, die verboten sind!«

»O nein, Herr!« Der Junge bekam jetzt doch Respekt und schien ein wenig zu schrumpfen. »Sie bespricht bloß Warzen ...«

»Und welche Aufgaben hast du bei deinen Leuten?« Albrecht tat einen Schritt auf den kleinen Lumpenkerl zu. »Du bist wohl zuständig für Diebereien, was?«

»O nein, Herr!«, flüsterte der Junge. »Ich hab der Frau Wasser getragen und Holzspäne zum Feueranmachen geschnitten ...«

»Sonst nichts?«, fragte Albrecht übertrieben scharf und näherte sich dem Jungen um einen weiteren Schritt.

Der duckte sich, als habe er Angst, geschlagen zu werden. »Glaubt mir, Herr – sonst nichts! Und dann, als wir weiterzogen, sollte ich den Boten spielen für die Frau. Sie hat so herzlich gebeten – da bin ich weich geworden ...«

Albrecht fühlte sich wieder zum Lachen gereizt. »So, du bist weich geworden«, sagte er mit mühsam verhaltener Heiterkeit. »Nun, dann muss die Frau aber wirklich sehr schön gewesen sein.«

»O ja, Herr!« Die Augen des Jungen glänzten auf. »Sie hat mir ein ganzes Stück Speck überlassen – nur dafür, dass ich das Päckchen hier abliefere. Und ich hab’s getan, anstatt es wegzuwerfen – wie’s doch am einfachsten gewesen wär!«

Albrecht räusperte sich. »Und wo wohnt die Frau?«

»Es war ein Dorf mit einer Mühle«, sagte das Bettelkind ernsthaft. »Und sie wohnt in dem Haus am Rand des Teichs. Sie hat braune Haare und braune Augen – und wir haben sie nicht bestohlen, meine Leute und ich. Weil sie anständig ist.«

»Kennst du ihren Namen?« Albrecht hatte sich abgewandt und starrte aus dem Fenster. Anna Elisabeth schickte ihm eine Nachricht – wer sonst hätte es sein können? Er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen.

»Nein«, sagte der Junge, »den hat sie mir nicht genannt. Nur den Euren, Herr ...«

»Schon gut«, sagte Albrecht. Er deutete zur Tür. »Du kannst wieder gehen. Lass dir in der Küche für die Deinen noch einen frischen Laib Brot mitgeben. Und sei bedankt ... dafür, dass du das Päckchen nicht weggeworfen hast.«

Der Betteljunge machte einen Kratzfuß und verbeugte sich dabei so tief, dass ihm beinahe die Mütze vom Kopf fiel. »O, danke, Herr«, sagte er während seine dünne Kinderstimme vor Begeisterung zitterte. Er wollte weitersprechen, aber Albrecht brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. »Geh jetzt – und Glück auf dem Weg!«

Als er und Christoph den Raum verlassen hatten, entfaltete Albrecht mit unsicheren Bewegungen das Stück Birkenrinde. Auf seiner weiß gescheuerten Innenseite standen, mit einem Stückchen Kohle hingemalt, deutlich leserliche, kurze Sätze:

Kan nit zur hüte komen . fater likt ufn tot . hab gedult . ewik daine ana

 

Sie hatte bereits schreiben gelernt, auch wenn sie noch nicht wusste, wie die Worte zu buchstabieren waren. In nur wenigen Tagen hatte sie erreicht, wozu er als Junge in der Lateinschule viele Monate gebraucht hatte!

Ihr Vater war krank. Sie konnte nicht zum Treffpunkt kommen. Aber es war ihm unmöglich, Geduld zu üben. Er brauchte dringend einen Plan.