WETTERLEUCHTEN
Es ging gegen Abend. Der große Falbe bewegte sich in gemächlichem Schritt den steilen Pfad hinauf. Sein Reiter saß vornübergebeugt, das Haar gegen den treibenden Nieselregen unter der grünen Filzgugel verborgen. Er schwankte mit den Bewegungen des Tieres, doch den Halt verlor er nicht. Nach einem vollen Tag im Sattel hatte ihn jetzt die Müdigkeit übermannt, und er döste mit geschlossenen Augen. Aber das war ungefährlich. Sein Pferd kannte den Weg.
Rechts und links vom Pfad stand nur niederes Gebüsch und gab den Blick frei auf ein Tal, in dem dunstverschleiert die Dächer eines Dorfes zu erkennen waren. Eine gedrungene Kirche mit einem klotzigen Turm bildete den Mittelpunkt. Um sie herum drängten sich kleine Häuser wie Schafe um den Hirten.
Das Pferd umrundete eine weitere enge Kehre. Hinter wehenden Regenschleiern kam eine Mauer aus grauem Felsgestein in Sicht – ein verwitterter Torturm, von dem eine heisere Stimme brüllte: »Halt! Wer da?«
Der Reiter schreckte auf, hob den Kopf, zügelte den Falben. Mit schlaftrunkener Bewegung schob er sich die Kapuze in den Nacken, so dass sein helles Haar sichtbar wurde. »Kennst du deinen Herrn nicht, Bursche?«, rief er zurück. »Das Tor auf – und ohne Verzug!«
Eisen rasselte. Ein Fallgitter wurde hochgezogen. Ein schlanker junger Mann in grauer Wolle rannte aus dem Torbogen, der jetzt frei war. »Willkommen, gnädigster Herr«, stammelte er, »ich bitte demütig um Vergebung ...«
Der Reiter lachte und gab dem Jungen eine derbe Kopfnuss. »Hast wohl auch geschlafen, was? Dass ich dich nicht noch einmal dabei erwische!«
»O nein, Herr – niemals mehr!« Der Junge machte ein zerknirschtes Gesicht. »Es war auch nur wegen ... wegen ...«
»Wegen des Wetters?«, half ihm der Reiter schmunzelnd. »Hast Recht, Christoph – solches Wetter sollte man besser verschlafen.« Er trieb sein Pferd an und ritt durch den Torbogen. Der Junge lief nebenher. Hinter ihnen rasselte das Gitter wieder herunter.
»Ah«, sagte der Reiter mit einem Blick auf die laufenden Ketten, »du warst wenigstens nicht allein auf Wache. Wer noch?«
»Burkart.« Der Junge schickte einen Seitenblick zu dem schmalen Wehrgang hinauf, der sich an der Innenseite der Mauer entlangzog. Dort stieg gerade ein weiterer Mann die Treppe herab und zog sich im Gehen die Ledermütze vom Haar. Dieser Wächter war mindestens fünfzig und von untersetzter Gestalt. Er strahlte über das ganze wettergegerbte Gesicht und grüßte mit einer tiefen Verbeugung. »Auch ich heiße Euch willkommen, Herr«, sagte er, während er nah herantrat, »Dank sei Gott. Ihr kommt zu guter Zeit.«
Der Reiter kniff die Augen zusammen. »Wie steht es auf Weißenstein?«, fragte er den Alten.
Burkart verneigte sich noch einmal, als wolle er sein Gesicht verbergen. »Euer gnädiger Herr Vater ...«, begann er und kam nicht mehr weiter.
Der Reiter wartete einen Augenblick. Dann wurde er ungeduldig. »Sprich frei heraus«, verlangte er, »geht es ihm gut?«
»Er liegt danieder«, sagte Burkart. »Seit dem letzten Ausritt konnte er ... konnte er nicht mehr ...«
»Was soll dein Gestammel?«, unterbrach der Reiter den Alten grob. »Nimm dich zusammen, Mann – und sag mir endlich, was ich wissen will.«
»Herr«, fuhr der Alte zögernd fort, »es ist nun an dem, dass Ihr auf Weißenstein das Regiment übernehmt. Denn Euer gnädiger Vater ... kann es nicht mehr führen.«
Der Reiter verhielt einen Augenblick ohne Regung. Dann setzte er dem Falben hart die Fersen in die Flanken, so dass das müde Tier einen erschrockenen kleinen Sprung tat. »Offenbar bekomme ich hier keine Antwort«, stieß er hervor. »Ich will selbst sehen, wie es meinem Vater geht!« Damit sprengte er den Weg entlang, der von hier aus über eine freie Rasenfläche zur inneren Mauer führte.
Das zweite Tor war zwar bewacht, aber nicht gesichert. Sein Fallgitter war aufgezogen, und der Reiter konnte ungehindert in den inneren Hof einreiten. Hier umringten ihn alsbald mehrere Knechte, grüßten demütig mit der Mütze in der Hand, halfen ihm beim Absitzen, führten den Falben weg, trugen den Mantelsack in den Palas. Der Reiter ließ alles wortlos geschehen und wandte sich erst, als er die große Halle betreten hatte, an einen der Knechte. »Wo ist mein Vater?«
»Er ruht in seinem Gemach«, antwortete der Knecht mit schleppender Stimme. »Er hat nach Euch gefragt, gnädiger Herr...«
»So, hat er?« Der Reiter überlegte einen Augenblick. »Lauf und ruf mir die Magdalene«, befahl er dann. »Sie soll hierher kommen. Ich will zuerst mit ihr sprechen.«
Der Knecht verschwand durch eine niedrige Tür, die von einem zierlich in Stein gehauenen Spitzbogen gekrönt war und rechter Hand aus der Halle in ein Nebengebäude führte. Der Reiter wartete. Es war dämmrig in dem großen Raum. Die hoch in der vorderen Wand liegenden Fensterchen ließen besonders an einem so trüben Tag nur wenig Licht ein. Von den Steinplatten, mit denen der Boden gepflastert war, stieg feuchte Kälte auf. Überhaupt war es empfindlich kühl hier – daran konnten auch die verblichenen Bildteppiche, mit denen zwei der vier Wände behangen waren, kaum etwas ändern.
Ein mächtiger Tisch mit gedrechselten Beinen war das einzige Möbel. Darauf stand ein zinnener Halter mit einer zur Hälfte abgebrannten Wachskerze. In dem eisernen Radleuchter, der an einer Kette von der Decke hing, steckten keine Kerzen.
Das Türchen in der Wand öffnete sich wieder. Heraus trat eilfertig eine alte Frau mit weißleinenem Kopftuch und lief mit ausgebreiteten Armen auf den Reiter zu. »Albrecht«, rief sie freudig, »mein lieber Junge – endlich!«
»Magdalene.« Der Reiter schenkte ihr ein Lächeln, doch es blieb nicht lange auf seinem Gesicht. »Sag, Magdalene – was ist hier geschehen? Du wirst mir Auskunft geben.«
Die alte Frau wurde ernst. Ihr Gesicht, von unzähligen Fältchen zerknittert, drückte plötzlich tiefe Besorgnis aus. Ihr ohnehin schon schmaler Mund wurde zu einem dünnen Strich. »Wisst, Albrecht«, sagte sie, »unser gnädiger Herr, dein Vater, ist vom Arm des Herrn niedergestreckt worden. Der Zorn Gottes hat ihn getroffen – wie ich es ihm schon so oft vorhergesagt hatte. Und da er –«
»Du redest um den heißen Brei herum«, unterbrach der Reiter sie unwillig. »Ein letztes Mal – was ist während meiner Abwesenheit auf Weißenstein vorgefallen?«
Die Alte schob sich mit zittriger Hand eine weiße Haarsträhne zurück unter das Kopftuch. »Nun«, begann sie zögernd, »sie sind ausgeritten, unser gnädiger Herr und die Männer. Sie hatten vor, die Straße nach Heilbronn ... zu bewachen ...«
»Wie sie das gemeinhin tun«, fuhr ihr der Reiter in die Rede. »Das Wichtige, Magdalene. Das Wichtige sollst du erzählen!«
»Hört also«, sagte die alte Frau bekümmert, »Euer Vater liegt danieder – drei Tage schon hat er sich nicht mehr erheben können, jedwede Bewegung fällt ihm schwer. Er wartet auf Euch, mein Albrecht...« Sie hob den Blick und suchte seine Augen, »er hat sogar nach Euch gefragt.«
Der Reiter runzelte die Brauen. Die Alte hatte abrupt das vertrauliche Du mit dem ehrerbietigen Ihr vertauscht. »Das ist allerdings sonderbar«, murmelte er und wandte sich der Treppe zu, die vom hinteren Teil der Halle in die oberen Geschosse des Palas führte. »Bring mich zu ihm, Magdalene. Jetzt gleich.«
Diese Forderung duldete keinen Widerspruch. Die alte Frau raffte ihr grauwollenes Kleid und beeilte sich, dem Reiter nachzulaufen. »Seid bereit, Albrecht«, murmelte sie, »für einen Anblick, den Euer Vater in seinem Leben noch nie geboten hat ... Wappnet Euch vor allem gegen seine üble Laune!«
Der Reiter hatte die ersten Stufen bereits genommen und drehte sich halb zu ihr um. »Also ist er doch immer noch der Alte«, erwiderte er wenig beeindruckt, »und mit seiner Krankheit kann es so schlimm nicht sein.«
Sie gab keine Antwort. Er hörte sie schwer atmen, während sie sich mühsam hinter ihm die Stufen hinaufarbeitete. Als das erste Geschoss erreicht war, wollte sie sich an ihm vorbeischieben. »Lasst mich erst sehen, ob er schläft«, sagte sie mit unterdrückter Stimme, »und wenn das so ist, sollten wir ihn in Frieden lassen – er hat eine sehr unruhige Nacht hinter sich.«
»Unsinn«, sagte der Reiter unwirsch, »eher wird er wütend werden, wenn er später erfährt, dass ich nicht gleich nach meiner Ankunft an seinem Krankenlager erschienen bin und ihn geweckt habe.« Er sah sich um. Vom Treppenabsatz war ein Korridor mit altersschwarzer Balkendecke zu erkennen. Seine grün gestrichenen Wände, durchbrochen von mehreren Türen aus dunkel glänzendem Eichenholz, zeigten ebenfalls Altersspuren, die sich in abblätternden Farbpartien äußerten. Der Reiter näherte sich der ersten Tür und klinkte sie auf. Sie öffnete sich mit einem Knirschen.
Das dahinter liegende Zimmer war ohne Möbel – bis auf ein mächtiges Bett, dessen von vier gedrehten Säulen getragener Baldachin fadenscheinige Vorhänge aus verschossenem rotem Damast aufwies. Sie waren offen und gewährten den Blick auf dicke weiße Kissen und eine mit Wolfspelz gefütterte Decke, unter denen eine hagere Greisengestalt ruhte. Der alte Mann hatte langes, schlohweißes Haar, das wirr um Gesicht und Schultern ausgebreitet lag. Seine Augen waren geschlossen, doch er öffnete sie ruckartig in dem Moment, als der Reiter ins Zimmer trat.
»Das wurde Zeit«, knurrte er.
»Grüß Euch Gott, Vater«, antwortete der Reiter. »Was höre ich? Ihr seid nicht wohlauf?«
Der alte Mann hustete. »Wer sagt das?«, raspelte er. »Derjenige soll zur Hölle fahren!«
»Alle meinen es, Vater«, gab der Reiter trocken zurück. »Irren sie sich?«
»Sie irren sich.« Der alte Mann versuchte im Bett hochzukommen, brachte es aber nicht fertig und ließ sich wieder in die Kissen sinken. »Gib mir drei, vier Tage, und ich reite wieder aus.«
»Magdalene berichtet mir«, begann der Reiter, »Ihr hättet –«
»Das Rabenaas!« Der alte Mann hustete noch einmal. »Ihr Leben lang hat sie nichts anderes getan, als wieder und wieder geunkt und Unheil prophezeit! Dabei müsste sie doch die Erfahrung gelehrt haben, dass ein Wolf von Weißenstein so leicht nicht aus dem Sattel gehoben werden kann!«
Magdalene war inzwischen eingetreten und hatte sich in der Nähe des Bettes postiert. Sie hob den Finger und drohte dem alten Mann. »Auch ein Wolf von Weißenstein unterliegt den Gesetzen Gottes, Herr Eberhart«, sagte sie ruhig. »Auch Ihr müsst irgendwann vor Euren Richter treten. Bedenkt es wohl!«
»Irgendwann, alte Unke«, sagte der Alte heiser, »aber jetzt noch nicht. Ich weiß genau, mir bleibt noch etwas Zeit!«
»Seid Ihr da so sicher?«, wandte Magdalene ein und heftete den Blick ihrer grauen Augen auf das Gesicht ihres Herrn. »Ist es nicht vielmehr so, dass der Allmächtige Euch diesmal Einhalt geboten hat?«
Der Alte wurde zornig. Sein Gesicht, das bis jetzt bleich gewesen war, rötete sich, und an seiner Schläfe begann eine Ader zu pulsieren. »Dummes altes Weib«, fuhr er Magdalene an, »von Ammendiensten magst du etwas verstehen – hast mir meinen Sohn recht kundig großgezogen. Aber alles andere kann dein einfältiger Kopf doch nicht fassen! Kümmere dich nun darum, dass die Mägde ihre Arbeit tun – da Albrecht deine Dienste nicht mehr braucht – und behalte ansonsten deine Weisheiten für dich!«
Die Alte ließ sich nicht einschüchtern. Sie trat an die Seite ihres Herrn und drückte ihn energisch in die Kissen zurück, denn er hatte wieder versucht, sich aufzusetzen. »Herr Eber- hart«, erwiderte sie streng, »Ihr mögt es wenden wie Ihr wollt – Gott lässt nicht mit sich handeln. Eure Zeit ist abgelaufen, das sagte auch der Medicus, der Euch untersucht hat.«
»Der unfähige Quacksalber?« Herr Eberhart lachte auf. »Woran will der denn erkennen, wann ich abtrete? Er hatte keine Ahnung. Faselte was von Schlagfluss und schlechten Säften ...«
»Das meine ich auch, Herr«, sagte Magdalene ungerührt. »Der gütige Gott hat Euch bloß noch eine Gnadenfrist gelassen, damit Ihr Eure Angelegenheiten ins Lot bringen könnt. Und bedenkt, was Euch unser hochwürdiger Herr Pfarrer riet...«
Herr Eberhart sah seinen Sohn an und rollte mit den Augen. »Als ob ich das vergessen könnte«, stöhnte er. »Noch jetzt triefe ich vom heiligen Crisam, das dieser Pfaffe über mich ausgegossen hat ... meine Haare sind so fettig wie meine Stirn und meine Hände. Vergiss nicht, mir eine Magd mit einer Schüssel Wasser und etwas Seife heraufzuschicken, wenn du mich später wieder verlässt. Ich muss mich unbedingt reinigen von all dem geweihten Schmieröl!«
Die alte Magdalene unterdrückte eine erschrockene Bemerkung. Der Reiter schaute ernst drein. »Ihr habt bereits die Sakramente erhalten, Vater?«, fragte er. »Wann war das?«
»Zum Teufel, Albrecht ... als sie mich herbrachten!« Herr Eberhart ballte die dürre Faust. »Sie dachten, ich hätte das irdische Jammertal hinter mir – aber weit gefehlt! Einen Wolf von Weißenstein erklärt man nicht so schnell für tot. Noch lebe ich – und es ist noch nicht heraus, wann mich der Teufel holt!«
»Herr – ich bitte Euch«, sagte die alte Magdalene.
»Nun gut«, knurrte Herr Eberhart mürrisch, »es ist also noch nicht heraus, wann ich in die Grube fahre. Bis dahin –«
»Erzürnt den Himmel nicht über Gebühr«, unterbrach ihn Magdalene.
»Hexe«, donnerte der alte Edelmann in einem plötzlichen Wutanfall, »du hast meine Geduld jetzt über Gebühr in Anspruch genommen. Hinaus – was ich von nun an zu sagen habe, ist allein für die Ohren meines Sohnes bestimmt!«
»Herr«, wollte Magdalene einwenden. Doch der Alte ließ sie nicht mehr zu Worte kommen. »Hinaus!«, schrie er, während er von neuem dunkelrot anlief, »dein Anblick ist mir ein Gräuel, und ist es immer gewesen! Erspare ihn mir für den Rest des Tages!«
Magdalene senkte den Kopf und zog sich zurück. Leise schloss sich die Tür hinter ihr; Vater und Sohn waren allein miteinander. Einige Augenblick verstrichen, während derer Eberhart Wolf von Weißenstein ins Leere starrte. Dann sagte er: »Ich hatte befürchtet, du könntest nicht rechtzeitig hier anlangen, Albrecht ...«
»Aber nun bin ich da.«
»Ja – du bist da.« Der Alte seufzte tief. »Es ist ein Glück, dass du dich nicht länger hast aufhalten lassen.« Er heftete den Blick auf Albrechts Antlitz. Seine Augen waren von dem gleichen hellen Blau wie die seines Sohnes, doch sie wirkten ungleich kälter und härter. »Gut, dass ich noch einmal mit dir reden kann, bevor ...« Er unterbrach sich.
»Bevor was geschieht?«, fragte sein Sohn nach.
»Du warst immer ein besonnener Mensch, Albrecht«, sagte Herr Eberhart, ohne die Frage zu beantworten, »zu besonnen für meinen Geschmack. Aber das Tier in unserem Wappen ist der Wolf – ein wildes, reißendes Tier, das die Gefahr nicht scheut. Ein Wolf«, er betrachtete seinen Sohn scharf, »ein Wolf lässt sich nicht zähmen. Er bleibt, was er ist – sein Leben lang.«
»Was wollt Ihr mir damit sagen, Vater?« Zu Albrechts Besorgnis kam noch Verwunderung. Er trat näher an das große Bett heran. »Werdet deutlicher.«
»Gemach.« Herr Eberhart atmete tief durch. Es klang wie ein unterdrücktes Röcheln. »Ich will, dass du dich unseres Wappens würdig erweist, wenn das Regiment an dich übergeht«, fuhr er fort. »Ein Wolf von Weißenstein ist ein Wolf – und soll es sein, solange noch Glieder unseres Stammes am Leben sind. Sei ein Wolf, mein Sohn – kein Schaf!«
Albrecht brauste auf. »Wann wäre ich je ein ... ein Schaf gewesen, Vater?«, sagte er zornig. »Nennt mir auch nur eine Gelegenheit, zu der ich –«
»Nicht weiter!« Der Alte hob die knochige Hand und gebot seinem Sohn Schweigen. »Wenn andere Fehde schworen, wolltest du verhandeln. Wenn um Pfründe und Land hätte gestritten werden müssen, hättest du versucht, dich gütlich zu einigen. Nun ist unser Besitz der Gier der Fürsten beinahe vollkommen zum Opfer gefallen, und nur ein einziges jämmerliches Dorf ist uns geblieben – ein erbärmlicher Weiler, dessen wenige Bauern uns schon längst nicht mehr standesgemäß ernähren können. Ich will, dass mein Sohn ...«
Seine Stimme war immer schwächer geworden und versagte nun. Aber seine Augen hatten den wilden Ausdruck nicht verloren. Sie starrten Albrecht an und verlangten Antwort auf seine unausgesprochene Forderung.
Albrecht Wolf von Weißenstein wartete, doch er wusste, was sein Vater hatte sagen wollen. Schon seit seiner Kinderzeit hatte es ab und zu diese Unterredungen zwischen ihm und seinem Vater gegeben; und immer waren sie genau gleich abgelaufen.
Herr Eberhart hatte wieder Atem gefasst. »Ich will, dass du uns die alten Ländereien zurückgewinnst«, fuhr er mit leiser, bissig klingender Stimme fort. »Ich will, dass meine Kindeskinder so leben, wie es uns Edlen aus altem Stamm gemäß ist. Ich will ...«
Wieder versagte ihm die Stimme. Doch diesmal ergriff Albrecht das Wort. »Wie oft haben wir schon über diese Eure Forderungen gesprochen, Vater«, sagte er geduldig, »und wie oft habe ich Euch zu erklären versucht, dass die Zeiten sich geändert haben! Es geht nicht mehr an, dass ein Reichsritter ohne Besitz sich mit einem reichen Fürsten bekriegt. Der Ausgang eines solchen Streites wäre sonnenklar – von Anfang an!«
»Der Sickingen hat’s gewagt«, widersprach der Alte wütend. »Der hatte Mark in den Knochen ...« Er ballte die Faust und schlug damit auf die pelzgefütterte Bettdecke. »Hab ihn gut gekannt. Ein Ehrenfester von gutem Adel – und nicht zu feige, den Fürsten aufs Dach zu spucken!«
»Wir wissen beide, was aus dem Sickingen geworden ist«, sagte Albrecht trocken. »Sein Krieg hat ihm nichts eingebracht als die Acht und den Tod!«
»Die Acht ...« Der Alte schloss kurz die Augen. »Aber geächtet waren schon viele Gute aus alten Geschlechtern.« Das Atmen schien ihm zunehmend schwer zu fallen. »Kein Ritterbürtiger scheut sich vor der Acht, wenn er im Recht ist. Und der Kaiser –« »Aber gerade der Kaiser hat doch damals die Acht über den Sickingen verhängt«, unterbrach ihn Albrecht störrisch. »Der Sickingen hätte am Ende Urfehde schwören müssen, wenn er nicht umgekommen wäre!«
Herr Eberhart riss die Augen auf. Ein wilder, unversöhnlicher Blick traf seinen Sohn. »Ich will, dass du unsere Wälder vom Bischof von Eichstätt zurückgewinnst«, brüllte er unbeherrscht, »ich will, dass du diesem gefräßigen Pfaffen den Handschuh hinwirfst. Unsere Reisigen stehen treu zu uns – fünfunddreißig Mann im besten Alter, und alle kampfgewohnt. Wenn du noch Bauern aus dem Dorf aushebst, müssten ... an die fünfzig ... zusammenkommen ... und ...«
Er hustete krampfhaft. Der Wutausbruch war offensichtlich über seine Kräfte gegangen. Albrecht streckte die Hand aus und legte sie auf dem Arm seines Vaters. »Mäßigt Euch«, sagte er in einem Versuch, Herrn Eberhart zu beschwichtigen, »es tut nicht Not, Euch so darüber zu erregen.«
»Ich übergebe dir dein Erbe erst, wenn du mir schwörst, es wieder zu mehren«, keuchte der Alte. »Also gib mir deinen Eid darauf!«
»Wie kann ich das?« Albrecht erwiderte den wilden Blick seines Vaters mit Befremden. »Dem Bischof von Eichstätt steht eine Armee zur Verfügung. Eine Fehde gegen ihn ist nicht zu gewinnen mit unseren wenigen Männern – und seien sie noch so getreu.«
»O ja«, stieß der Alte aus, »sie würden sterben für uns!« »Das würden sie«, stimmte Albrecht zu. »Aber was wäre mit ihrem Tod gewonnen?«
Herr Eberhart hob noch einmal die dürre Faust. »Nichts«, knirschte er erregt, »aber sie sollen ja auch nicht in den Tod gehen, sondern unser Land zurückgewinnen! Schwöre mir ... du wirst es nicht nur versuchen – du wirst es erreichen!«
»Einen solchen Eid kann ich nicht ablegen.« Albrecht schüttelte den Kopf. »Ich wüsste ja von vornherein, dass ich ihn brechen müsste ...«
»Dann sieh zu, wo du bleibst.« Der Alte ließ den Kopf sinken. »Sei sicher – das Erbe übertrag ich dir nicht. Nur ein Wolf kann Herr sein zu Weißenstein!«
»Vater!« Albrechts Stimme war eindringlich geworden. »Überdenkt Eure Worte gut – ich bitte Euch sehr! Vor allem merkt: Ich bin weder ein Wolf noch ein Lamm. Ich fühle mich als Mensch unter Menschen, und –«
Der Alte riss die Augen weit auf und starrte seinen Sohn voller Abscheu an. »Mensch unter Menschen«, stieß er hervor, »ha! Welche Ähnlichkeit hätte denn ein Ritterbürtiger mit einem Bauern oder Handwerker oder Pfeffersack? Verrate mir doch das, Albrecht Weißenstein! Fühlst du dich etwa eins mit den Jammergestalten da unten aus dem Dorf? Dann wärst du wirklich das Schwarze unterm Fingernagel nicht wert!«
»Der Doktor Luther sagt, vor Gott sind alle Menschen gleich«, erwiderte Albrecht lakonisch. »Er sagt außerdem, sie sollten es nach Gottes Willen auch vor der weltlichen Obrigkeit sein.«
»Es ist mir völlig gleich, was dein Doktor Luther sagt«, schrie Herr Eberhart. »Die Meinung eines entlaufenen Mönchs schert mich keinen Deut! Ich will, dass wir vom guten Adel wieder freie Herren auf unseren Burgen sind – dass wir jagen in den eigenen Wäldern und den Zehnten einfordern von den eigenen Bauern und unser gutes Auskommen haben, wie es früher war! Ich will ...«
Er hielt abrupt inne und schnappte heftig nach Luft. »Vater«, sagte Albrecht in neuer Besorgnis, »erregt Euch doch nicht so sehr! Das tut Euch nicht gut!«
Herr Eberhart krallte die Hand in den weichen grauen Pelz seiner Decke. »Hätte ich mehr Luft«, zürnte er, »ich würde es noch lauter herausschreien. Sechs Dörfer haben für Weißen- stein gefront damals ... wir besaßen reiche Wälder und Land genug! Dann kam die Teuerung ... wir mussten Fürstendienst leisten ... und die Burgen und Dörfer gingen drauf, an den gierigen Pfaffen und seine Wucherer – nur, um die Kosten zu bezahlen, die ein fremder Krieg forderte!« Er keuchte mühsam. »Doch er soll uns Land und Leute wieder herausgeben, der Schurke – so wahr ich lebe!«
»Ich flehe Euch an, Vater«, begann Albrecht erneut, »seid still und gebt Euch erst einmal der Ruhe hin! Morgen werdet Ihr Euch besser fühlen – dann können wir –«
Mit einer herrischen Geste brachte der Alte seinen Sohn zum Schweigen. »Ich werde nicht verhandeln«, flüsterte er heiser, »nicht heute und nicht morgen. Du kennst nun meinen Willen, Albrecht. Handle danach und schwöre, dass du ihn ausführen wirst – oder verzichte auf dein Erbe und lass dich mit Schimpf von der Burg weisen!«
»Kann ich denn mit keinem vernünftigen Wort erreichen, dass Ihr anderen Sinnes werdet?« Albrecht heftete den Blick angestrengt auf das Antlitz seines Vaters, das auf einmal starr und wächsern wirkte. »Könnt Ihr wirklich nicht einsehen –«
»Schwöre – oder weiche ...«, kam die schwache Antwort.
»Es gibt keinen anderen Erben außer mir, Vater. Wem wollt Ihr Weißenstein denn anvertrauen, wenn nicht mir?«
»Gut«, wisperte der Alte, »gut denn ... so gebe ich Weißen- stein dem Christoph ... Ich wollte ... ich hätte ... ihn anerkannt...«
»Christoph ... ?« Das war der Junge, der dem Torwächter zur Seite stand. »Du willst den Christoph in mein Erbe einsetzen, Vater?« Albrecht verstand kein einziges Wort von dem, was Herr Eberhart eben von sich gegeben hatte. »Aber der Christoph ist doch –«
» ... mein Sohn«, flüsterte der Alte so leise, dass seine Worte kaum noch vernehmlich waren. »Seine Mutter ... hat mein Bett geteilt ... ein paar Jahre, nachdem die deine gestorben war ...« Er röchelte, fuhr mit der Hand an seine Brust. »Er soll kommen ... lass ihn rufen ...«
»Vater!« Albrecht beugte sich entsetzt über den Alten und griff nach seiner Hand. Sie war eiskalt und zitterte. »Vater – um der Liebe Gottes willen ... was ist Euch?«
»Lass ihn kommen ... !« Noch immer sprach heißer Jähzorn aus dem Alten. »Sofort ... ich dulde ... keinen Aufschub!«
»Vater – wenn Ihr mit mir keinen Frieden machen wollt, dann tut’s wenigstens mit dem Himmel«, sagte Albrecht. »Mir scheint, die Zeit drängt.«
Der Alte heftete den Blick auf seinen Sohn und stieß ein kurzes Lachen aus. Es klang hohl und atemlos. »Was brauche ich ... Pfaffengeleier ...«, kam es über seine blassen Lippen. »Ein freier burggesessener Herr ist niemandem etwas schuldig – nicht einmal ...«
»Ihr versündigt Euch«, fuhr ihm Albrecht in die Rede.
»Nicht mehr ... als ich mich schon ... versündigt habe ...«
»Dann lasst Euch freisprechen.« Albrecht drückte die knochigen Finger seines Vaters. »Danach wird Euch wohler sein, und der Segen des Himmels bewirkt vielleicht, dass Ihr klarer seht.«
»Ich sehe ... klar genug«, wisperte der Alte mühsam. »Du bist vom Wolf... zum Hund geworden ... und nicht mehr würdig ... einer meines Stammes ... zu sein ...«
Albrecht spürte, wie auch in ihm Zorn aufstieg. Er ließ die Hand seines Vaters wieder fahren, wandte sich wortlos ab und ging zur Tür. Draußen auf dem Korridor warteten die alte Magdalene und ein Mädchen, das Essen für den Kranken hatte bringen wollen. »Lauf«, befahl ihr der Jungherr, »der Priester soll heraufkommen, falls er noch anwesend ist. Wenn nicht, lass ihn holen – und auch den Christoph. Herr Eberhart verlangt nach ihm.«
Die kleine Magd riss erschrocken die Augen auf. Dann reichte sie Magdalene die Suppenschüssel, drehte um und rannte mit fliegenden Röcken die Treppe hinunter. Magdalene heftete den Blick auf ihren jungen Herrn. »Dann hab ich mich doch nicht geirrt«, murmelte sie wie zu sich selbst.
»Wusstest du es?«, fragte Albrecht.
»Was? Dass Herr Eberhart sterben wird?«
Albrecht schüttelte den Kopf. »Das mit Christoph«, erwiderte er ungeduldig.
»Was soll mit ihm sein?«
Magdalene stellte sich dumm. Doch ihr junger Herr merkte es sofort. »Steh mir Antwort, Magdalene. Hast du es gewusst?«
Sie lächelte. Doch die winzige Bewegung ihrer Mundwinkel hatte nichts Fröhliches. Dann nickte sie. »Aber Euer Vater hat ihn nie anerkannt«, erklärte sie leise.
»So sagte er mir. Warum nicht?«
»Der Junge war ihm gleichgültig. Er ist ja nur ... ein Bastard.«
Albrecht ließ die Augen nicht vom Gesicht seiner alten Amme. »Magdalene – Christophs Mutter«, forschte er, »lebt sie noch unter diesem Dach?«
»Schon lange nicht mehr«, kam die Antwort. »Sie starb im Kindbett, genau wie Eure edle Mutter – Gott gebe ihr Frieden ...« Die Alte bekreuzigte sich und senkte den Blick zu Boden. »Sie war ein hübsches junges Ding, die Käthe ... und der Junge hat sie bei der Geburt zerrissen. So, wie Ihr Eure Mutter zerrissen habt ...«
Albrecht stockte für einen Augenblick der Atem. Bis heute hatte er über die Umstände seiner Geburt nicht viel gewusst. Was die Amme gerade verraten hatte, kam unerwartet für ihn. »War sie so zart?«, fragte er.
»Nein.« Die Amme hob den Kopf und spähte ihrem jungen Herrn ins Gesicht. »Nein – sie war hoch gewachsen und sehr kräftig, nicht anders als die Käthe.«
»Wie konnte den beiden Frauen dann solches Unheil geschehen?«, wollte Albrecht wissen.
Magdalene war sehr ernst. »Die Söhne, die die Herren von Weißenstein zeugen, sind oftmals allzu groß bei ihrer Geburt«, antwortete sie nachdenklich. »Herr Eberhart lachte, als er erfuhr, dass du anderthalb Ellen lang seist, und meinte, ein Wolf müsse eben rechtens von Anbeginn seines Lebens den anderen an Größe voraus sein ...«
Albrecht biss die Zähne zusammen. »Doch er weinte, als meine Mutter starb?«, fragte er gepresst.
»Er war ... gefasst«, sagte Magdalene. »Auch er selbst war schließlich ohne Mutter aufgewachsen.«
»Aus dem gleichen Grund wie ich?«
Magdalene nickte. »Und sein Vater, den ich noch gekannt habe, nahm gleichfalls keine zweite Frau«, erwiderte sie.
Die Magd kam wieder die Treppe herauf, einen ältlichen Priester im Gefolge. Dem folgte ein Knabe mit dem liturgischen Gerät und einer langen weißen Wachskerze, die noch nicht angezündet war.
»Wo bleibt der Christoph?«, herrschte Albrecht die Magd mit unterdrückter Stimme an. »Ich hatte dir doch aufgetragen, ihn herzubestellen!«
»Ich hab den Bub nirgends auftreiben können«, verteidigte sich das Mädchen erschrocken. »Und da sagte mir der alte Burkart, er hätt in den Wald wollen, um Knüppelholz zu sammeln fürs Feuer im Wachturm ...«
»Schon gut.« Albrecht zwang sich zur Gelassenheit. »Du kannst ja nichts dafür, dass der Herumtreiber gerade aushäusig ist. Geh wieder nach unten und schick ihn herauf, sobald er zurück ist.«
Das Mädchen knickste verschüchtert und huschte davon. Inzwischen hatte der Priester die Hand auf die Klinke gelegt und sacht die Tür aufgedrückt. Albrecht folgte ihm ins Krankenzimmer, während Magdalene auf dem Korridor zurückblieb.
Herr Eberhart lag still da; sein Gesicht war nun beinahe ebenso weiß wie das Leinen seiner Kissen. Er regte sich auch nicht, als der Priester an seine Seite trat. »Bin ich zu spät gerufen?«, fragte der Priester im Flüsterton. »Herr – könnt Ihr meine Stimme noch hören?«
Der Alte öffnete langsam die Augen. »Schreien musst du nicht, Pfaffe«, flüsterte er mühsam, »noch höre ich gut genug ...«
Die letzten Worte waren mehr einem schmerzlichen Stöhnen ähnlich gewesen. Der Priester neigte sich über den Kranken. »Ihr solltet Eure Seele erleichtern«, sagte er, einen drängenden Unterton in der Stimme. »Ihr werdet ruhiger in die Ewigkeit hinübergehen können, wenn –«
»Halt’s Maul«, stieß Herr Eberhart hervor. »Mach kein Brimborium ... und erspare mir auch das elende Räuchern ... es nimmt mir den Atem ... und den brauche ich für das, was ich ... noch zu sagen habe ...«
Er keuchte, rang nach Luft. Albrecht näherte sich seinem Lager von der anderen Seite. »Vater«, sagte er, »wir alle glauben, es geht mit Euch zu Ende. Ihr müsst nun –«
»Deine Ratschläge brauche ich nicht, Hund«, schnitt ihm Herr Eberhart mit einem verachtungsvollen Blick die Rede ab. Er bäumte sich in den Kissen auf. Mit beiden Händen bekam er die Bettkanten zu fassen, stemmte sich dagegen, schaffte es aber nicht, zum Sitzen zu kommen. Langsam sank er wieder in sich zusammen. »Wo ... ist mein Sohn ... ?«, fragte er, während seine Augen unruhig suchten.
»Ich bin hier, Vater«, erwiderte Albrecht ruhig, »an deiner Seite.«
Herrn Eberharts Blick blieb auf Albrechts Antlitz haften. »Du ...«, kam es beinahe unhörbar von seinen Lippen, »du ... bist nicht gemeint ...« Er schaute zur Tür hinüber. »Wo ist ...«
Seine Stimme riss abrupt ab. Plötzlich trat ein wilder Glanz in seine Augen; sein Mund öffnete sich, er tat einen heulenden Atemzug und versuchte noch einmal, sich aufzusetzen. »Verflucht sollt ihr sein ... Verräter ...«, stieß er hervor, »zum Teufel mit euch allen ...«
Der Priester hatte die Hand des Alten ergriffen. »Herr Eber- hart«, fragte er, »bereut Ihr Eure Sünden?«
»Was ... Sünden ...« Eberhart Wolf von Weißenstein saugte noch einmal heftig den Atem ein. »Weg, Pfaffe ...«, knurrte er, »weiche von mir ... und spar dir deine Litaneien ... ich verlange nicht danach!«
Der Priester zuckte zurück, doch er gab dem kleinen Ministranten einen Wink. Der Junge zündete an der mitgebrachten Laterne die lange Wachskerze an und reichte sie dem Priester. Der drückte sie dem Kranken in die abgezehrte Hand. »Pater noster – qui es in coelis – sanctificetur nomen tuum ...«, begann er zögernd zu beten.
Herrn Eberharts Finger schlossen sich wie Krallen um das Wachslicht. Einen weitäugigen Blick warf er auf die flackernde kleine Flamme, dann schleuderte er die Kerze von sich. »Totenvogel«, hauchte er mit letzter Kraft und sah den Priester starr an, »schwarze Krähe ... der letzte Wolf vom Weißenstein ... fürchtet dich nicht!«
»Dann fürchtet den Zorn Gottes«, sagte der Priester, »bekennt Eure Sünden, Herr!«
»Der Satan soll dich holen ...«, flüsterte der Burgherr. Der Glanz begann aus seinen Augen zu schwinden. »Ich will ... ich will ...« Ein langgezogener, leidenschaftlich ausgestoßener Hauch entfloh seinem Mund. In dem Augenblick, als die Kerze am Boden erlosch, brach auch sein Blick.
Eberhart Wolf von Weißenstein war nicht mehr. Mehrere Atemzüge lang verharrten die Anwesenden in beklommenem Schweigen. Schließlich sprach der Priester murmelnd und mit monotoner Stimme die Worte des Vaterunsers zu Ende. Nach dem Amen erhob sich Albrecht, der niedergekniet war, von seinem Platz neben dem Bett und drückte seinem Vater mit sanfter Hand die Augen zu, während der Ministrant Salböl und Weihwasserkessel bereitstellte.
Doch der Priester wollte den Toten nicht aussegnen. »Wie kann ich ihm die Tröstungen der heiligen Mutter Kirche verleihen?«, sagte er verbissen. »Er starb ja mit einem Fluch auf den Lippen ... nicht einmal die Beichte hat er abgelegt.«
»Ich bin mir sicher, dass mein Vater seine Sünden ehrlichen Herzens bereute«, widersprach Albrecht. »Was also sollte dich daran hindern, deine Pflicht zu tun?«
»Ich sagte es schon.« Der Priester machte eine abwehrende Handbewegung. »Betet für ihn, Herr Albrecht. Vielleicht erbarmt sich ja Gott seiner schuldbeladenen Seele, und er fährt nicht zur Hölle ...«
Albrecht erstarrte für einen Augenblick. Dann packte er den Pfarrer am Kragen seines Priestergewandes. »Du gibst ihm den Segen, Pfaffe«, befahl er wütend, »sonst landest du im tiefsten Loch, das auf Weißenstein zu finden ist. Der neue Herr bin ich – und sei sicher, ich werde zu gebieten wissen!«
Der Priester schrumpfte in sich zusammen. Etwas im Blick des jungen Wolf von Weißenstein brachte ihn dazu, klein beizugeben. »Da Ihr sicher zu sein scheint, dass Euer Vater ein reuiger Sünder war, will ich Eurem Wunsch nachkommen«, murrte er, »doch mit Überzeugung füge ich mich nicht.«
Starren Angesichtes tat er, was noch zu tun übrig blieb, und vollzog die Totensegnung. Dann verließ er wortlos und mit anklagendem Blick das Gemach. Albrecht war mit der Leiche seines Vaters allein.
Er stand da und starrte in das stille Gesicht des Toten, das selbst jetzt noch streitbar und zornig wirkte. Widerstreitende Gefühle – Wut, Auflehnung, Schmerz und Trauer – überwältigten ihn fast. »Schon immer wolltest du mich anders haben als ich bin, Vater«, murmelte er mit schmalen Lippen, »ich musste dir als Kind die Studien in der Klosterschule abtrotzen, weil du dachtest, ein freier Herr braucht weder lesen noch schreiben zu können. Hinter deinem Rücken musste ich mich nach Wittenberg absetzen – weil du die Erlaubnis zum Studium nicht geben wolltest. Und jetzt ...?«
Er fuhr sich über die Stirn, schloss für einen Moment die Augen. »Was du jetzt von mir verlangst, das ist zu viel«, fuhr er fort. »Es gibt kein Zurück in die alten Zeiten ... kein Fürst ist mehr angewiesen auf die Gefolgschaft freier Ritter. Heute wirbt man einfach Lanzknechte an – es melden sich ihrer genug, wenn genügend Handgeld geboten wird. Nein, Vater ...«, er fixierte den Toten noch einmal, als könne Eberhart von Weißenstein die Augen wieder aufschlagen, »die Welt hat sich gewandelt – du wolltest es bloß nicht wahrhaben.«
Die Tür ging leise auf. Magdalene und der junge Christoph traten ins Zimmer. Albrecht blickte ihnen geistesabwesend entgegen. »Was gibt’s?«
Die Amme warf einen kurzen Blick auf den Toten. Dann schickte sie mit einer Handbewegung den Jungen wieder hinaus. Christoph verließ mit einem verständnislosen Blick das Gemach. Magdalene sah Albrecht an. »Nun hat Herr Eberhart doch nicht mehr sagen können, was er wollte, und wir sollten des zufrieden sein«, bemerkte sie gelassen.
»Hast du dem Jungen nicht Bescheid gegeben?«, fragte Albrecht. »Weiß er immer noch nicht, dass er –«
»Still, mein Albrecht«, unterbrach ihn Magdalene, »es ist besser so. Gott in seiner großen Güte wird wissen, warum er Eurem Vater im rechten Augenblick die Worte nahm.«
»Er schalt mich einen Hund, als er noch Sprache hatte«, murmelte Albrecht. »Und einem Hund wollte er das Regiment nicht überlassen ...«
Die alte Amme warf einen zustimmenden Blick auf den Toten. »Recht so, Herr Eberhart«, sagte sie, »und da Euer ältester Sohn kein Hund ist, sondern ein Echter aus dem Stamm Weißenstein, so geht das Erbe auch an den Richtigen.«
Albrecht musste lächeln. Das Bild eines zierlichen jungen Mädchens mit dunklen Augen und schwarzbraunem Haar war plötzlich vor seinem inneren Auge aufgetaucht. »Vielleicht hatte er aber doch Recht«, murmelte er versonnen, »und ich bin schon vor zwei Tagen vom Wolf zum Hund geworden ...«