
So trostlos das Christfest auch ohne den Vater gewesen sein mochte – für Anna Elisabeth war es dennoch von Freude überglänzt gewesen. Hannes, der mit seiner Mutter am Weihnachtstag zum Essen gekommen war, konnte sich ihr Strahlen nicht recht erklären. Er schrieb es ihrer starken Natur zu und bewunderte sie dafür. »Du wirst mir eine gute Frau sein, Annelies«, sagte er, nachdem die einfache Gerstensuppe aufgegessen und die Schüssel abgeräumt worden war. »Ich hab’s schon immer gewusst.«
Anna Elisabeth nickte ihm zu. Aber was sie dachte, entsprach dem nicht. Wie konnte sie Hannes eine gute Frau werden, wenn ihr Herz einem anderen gehörte? Wortlos wusch sie die Bierbecher ab und stellte sie zurück auf das Wandbord. In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.
»Erwartest du noch mehr Gäste?«, fragte Hannes’ Mutter. »Nein«, sagte Anna Elisabeth verwundert.
Hannes rief: »Herein!«, als sei er bereits der Herr in diesem Haus.
Sieben Männer, alle aus dem Dorf, betraten die Stube. Sie nahmen die Filzmützen ab, stampften sich den Schnee von den Stiefeln, grüßten mit stummem Kopfnicken. Matthias, der als Erster hereingekommen war, ergriff das Wort. »Wir sind hier, um die Sache mit deinem Vater zu beratschlagen, Annelies«, sagte er.
»Aber du weißt doch, dass er im Loch sitzt«, gab Anna Elisabeth zurück. »Wir müssen uns gedulden, bis der Vogt ihn wieder freilässt – so hart es auch ist. Alles andere wäre vergebene Mühe.«
Sie wischte sich über die Augen. Matthias widersprach. »Lass das unsere Sorge sein, Mädchen«, sagte er gelassen. »Wir Männer wollen nicht länger stillhalten. Darum sind wir hier – um zu bereden, was geschehen muss.«
Hannes winkte die Leute zu sich an den Tisch, während seine Mutter aufstand, ihr großes Umschlagtuch überwarf und sich verabschiedete. »Ich will nicht hören, was ihr besprecht«, sagte sie unwillig. »Ihr tut ja doch, was ihr wollt, ihr Jungen ... und auf uns Alte hört ihr nicht, auch wenn’s besser für euch wäre.«
Sie ging, obwohl Anna Elisabeth versuchte, sie zurückzuhalten. »Nein, nein, Kind«, sagte sie, als sie schon aus der Tür war, »ich meine es ernst. Lange genug habe ich mich jetzt schon über die aufrührerischen Reden geärgert, die unsere jungen Männer in letzter Zeit führen – am heiligen Weihnachtstag will ich meinen Frieden!«
Sonderbarerweise lächelte Hannes, als seine Mutter verschwunden war. »Sie versteht es nicht besser«, meinte er und machte eine abwertende Handbewegung. »Sie ist aus einer anderen Zeit ...«
»Unsere Eltern sind auch nicht anders«, sagte der Heinz, der sommers immer die Schweine hütete. »Sie schelten und geifern – als ob sie nicht auch leiden müssten unter der Willkür, die von dem verfluchten Pfaffenvogt ausgeht.«
Sie hockten sich alle auf die Bank am Tisch und steckten die Köpfe zusammen. »Alle fähigen Männer aus Brunnheim sind dabei«, setzte der Schweineheinz seine Rede fort. »Wie ist es mit denen aus Weidenbach, Matthias? Du warst doch da, oder?«
Matthias nickte. »Sie sind dabei«, sagte er.
»Die aus dem Birkenhof ebenfalls«, fügte der Schmiedejörg hinzu. »Ich hab’s von meinem Vetter, der da wohnt.«
Anna Elisabeth hatte bis jetzt schweigend vom Herd aus zugehört. Langsam beschlich sie ein ungemütliches Gefühl. Die genannten Dörfer gehörten alle zur Abtei und waren dem Abt von Kaltenbrunn tributpflichtig, genau wie die aus ihrem Dorf. »Was habt ihr vor?«, fragte Anna Elisabeth. »Welche Aufgabe erfordert so viele Männer?«
»Der Matthias sagte es ja schon«, erwiderte Hannes, »wir wollen uns die Schinderei nicht länger schmecken lassen. Diesmal wehren wir uns. Dein Vater hat’s nicht verdient, beim Klostervogt im Loch zu liegen.«
»Er hat nichts getan, weswegen er überhaupt gestraft werden sollte«, fügte der Schweineheinz hinzu. »Die aus den anderen Dörfern sehen es ebenso wie wir.«
»Aus dem Birkenhof sitzt auch einer im Loch, und aus ähnlichen Gründen.« Der Schmiedejörg, für seine Gewalttätigkeit wohlbekannt, grinste in sich hinein. »Endlich werden wir’s den Pfaffen zeigen – darauf hab ich schon lange gewartet ...«
»Und wann schlagen wir los?«, wollte Hannes wissen. »Ich muss euch ja wohl nicht erklären, dass die Zeit drängt. Der Vater von der Annelies, der ist ein alter Mann und erträgt’ s kalte Wetter schlecht – wie alle alten Leut.«
»Die vom Birkenhof meinten, Maria Lichtmess wär ein guter Tag, um’s dem Abt von Kaltenbrunn heimzuzahlen«, sagte der Schmiedejörg mit einem Blick auf seine schwieligen Fäuste, »aber ich mein, wir sollten das überdenken und schon zwei Wochen früher drangehen. Mich juckt’s in den Fingern ...«
»Gemach, Jörg«, mischte sich der Matthias wieder in das Gespräch. »Wenn wir das Kloster belagern, sollten wir vollzählig sein. Der Abt hat fünfzig Bewaffnete. Wir müssen mindestens doppelt so viele Männer aufbieten, wenn wir gewinnen wollen!«
»Ach was«, sagte Hannes unwillig, »zwei von denen sind so gut wie einer von uns. Diese faulen, voll gefressenen Klosterknechte rennen doch wie die Hasen, wenn es brenzlig wird.« Er grinste im Gedanken an die Episode neulich, als ein einzelner Mann vor seinen Augen drei von ihnen ganz allein in die Flucht geschlagen hatte. »Hab’s selbst gesehen ... hier in dieser Stube.«
Anna Elisabeth wagte einen Einwurf. »Der Herr von Weißen- stein kennt sich mit Waffen aus, Hannes«, sagte sie vorsichtig. »Den kannst du nicht mit einem Bauern vergleichen, und –«
»Der Herr von Weißenstein – Potz Teufel!« Hannes wurde brandrot im Gesicht. »Du redest ja gerade so, als sei er dein Herr, Annelies! Nein –«, er wandte sich an seine Nachbarn, »den kann man wirklich nicht mit einem Bauern in den gleichen Sack stecken, den armseligen Junker! Was der uns an Übung voraus hat, das machen wir allemal mit Kraft und Entschlossenheit wieder wett – oder etwa nicht, Brüder?«
Die anderen nickten; besonders der Schmiedejörg und der Schweineheinz pflichteten ihm begeistert bei. »Das will ich meinen«, sagte der Schweineheinz und grinste breit, »wo ich hinschlage, da wächst lange kein Gras mehr. Und der Jörg ist ja wohl auch kein Schwächling!«
»So einen wie den verhungerten Wolf von Weißenstein hau ich ungespitzt in den Boden«, grinste Jörg, »oder ich schmeiß ihn durch die Ruten – ganz, wie er will!«
Gelächter war die Antwort darauf. Unwillkürlich warf Anna Elisabeth einen Blick auf die Bleiruten, mit denen die vielen kleinen, rechteckigen Glasscheiben der beiden Fensterchen in der Stube eingefasst waren. Da hindurch ...? Was für ein Gedanke! Sie holte tief Luft. »Bleibt in der Wirklichkeit«, sagte sie und musterte die Männer mit festem Blick. »Mit dem Herrn von Weißenstein solltet ihr euch nicht –« »Jetzt ist es genug, Annelies«, schnitt ihr Hannes zornig die Rede ab. »Ich kann den Namen dieses Junkers nicht mehr hören. Er steht doch für alles, was wir abschaffen wollen! Adel und Pfaffen gehören ausgerottet ... mit Stumpf und Stiel. Und das, was Adel und Pfaffen in ihren Kellern gehortet haben – das ist unser Hab und Gut. Wir haben es mit Blut und Schweiß mühsam erarbeitet und wollen es nicht mehr ohne Gegenleistung abgeben!«
Anna Elisabeth verstummte. Hannes hatte ohne Zweifel Recht. Solange sie denken konnte, hatten sie und ihr Vater immer hart gearbeitet und dennoch für ihre Mühe meist nicht einmal das Nötigste zurückbehalten. Ganz gleich, ob die Ernte gut oder schlecht gewesen, das Vieh gesund geblieben war oder nicht – so gut wie immer hatten der vom Kloster geforderte Zehnte und Kleine Zehnte sämtliche Überschüsse aufgefressen, so dass gegen Ende des Winters regelmäßig gehungert werden musste. Währenddessen konnten sich die Mönche ein sanftes Leben leisten und hatten immer einen reich gedeckten Tisch. Bei denen gab es täglich Fleisch und fastentags Fisch oder fetten Biberbraten. Biber waren schon seit langem zur Fastenzeit erlaubt, weil sie Schwimmhäute zwischen den Zehen trugen und im Wasser lebten; seit bekannt geworden war, dass in warmen Ländern Fische vorkamen, die fliegen konnten, erwog der Abt von Kaltenbrunn sogar, ob er nicht auch Enten und Gänse zur Fastenspeise erklären sollte – der Abwechslung halber.
Die wenigen Tage, an denen ein Bauer sich ein nennenswertes Stück Fleisch leisten konnte, waren an den Fingern einer Hand abzuzählen. Bei Fischen sah es nicht anders aus – es sei denn, ein Bauernjunge traute sich, heimlich zu angeln oder eine Schlinge zu legen und Kaninchen zu wildern. Fisch- und Jagdrecht lagen ja selbstverständlich beim Grundherrn.
Anna Elisabeth spürte heißen Zorn in sich aufsteigen. Dazu gesellte sich ein schreckliches Schuldgefühl. Sie liebte einen, der aus den Reihen der Grundherrn stammte, und der vielleicht mit seinen Bauern nicht anders verfuhr als der Abt von Kaltenbrunn. Wie konnte sie ihr Herz an einen Wolf von Weißen- stein hängen, wenn die eigenen Leute darbten?
»Wir wollen es bereden, wenn wir genau wissen, wie viele Männer mitmachen«, sagte Hannes gerade. »Inzwischen sorgen wir für Waffen. Wohl jeder von euch hat eine alte Sichel oder Sense in der Ecke stehen, die man zum Spieß umschmieden könnte.«
»Ja«, fiel der Schmiedejörg ein, »bringt alles brauchbare Gerät zu mir. Ich mach schon was draus – und das könnt ihr mir glauben: die schlechtesten Waffen sollen es nicht werden!«
»Ich mach die Stiele«, sagte der Matthias, plötzlich eifrig dabei.
»Stiele?« Der Jörg lachte schallend. »Lange Schäfte brauchen wir, damit wir sie den faulen Pfaffenknechten durch den Wanst rennen können!«
»Mindestens sieben Fuß lang«, pflichtete Hannes bei. »Und haltbar müssen sie sein. Sie dürfen nicht beim ersten Stoß schon brechen – also nimm junges Stangenholz, Mattheis!«
Anna Elisabeth wandte sich ab. Nachdem ihre Hausarbeit getan war, konnte sie guten Gewissens in ihr Kämmerchen hinaufsteigen. Ohne ein Wort an die Männer kletterte sie die schmale Leiter hoch, die unter das Dach führte. Hier war ihre Schlafstätte, ein schlichter Strohsack, bedeckt mit selbst gewebtem Leinen und einem mächtigen Federbett, das jetzt im Winter die schlimmste Kälte abhielt. Darauf ließ sie sich niedersinken und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Was die Männer unten im Wohnraum besprachen, war auch von hier aus noch gut zu verstehen. Sie planten einen bewaffneten Überfall auf das Kloster, um ihren Vater und den Mann aus dem Birkenhof zu befreien. Sie kamen überein, doch bis Maria Lichtmess abzuwarten – denn zu dem Zeitpunkt würden alle Spieße, Äxte, Schwerter und Hellebarden fertig sein, wie der Schmiedejörg versicherte. Man würde mit etwa achtzig Mann zur Vogtei ziehen und die Wachen niedermachen. Danach ...
Es war auch davon die Rede, dass man weiterziehen und sich dem Bauernheer anschließen sollte, das im Odenwald aufgestellt wurde. Ein gewisser Georg Metzler, Wirt zu Ballenberg, sei der selbst erklärte Hauptmann dieses Heeres und ließe allenthalben die Bauern zu den Waffen rufen. »Den kenne ich«, sagte der Schmiedejörg gerade, »ein Kerl wie ein Baum – und alles andere als ein Feigling. Der weiß, was er will, und wird’s den Pfaffen und Herren schon richtig eintränken!«
»Darauf kannst du einen mächtigen Furz lassen«, erwiderte der Schweineheinz mit einem Lachen in der Stimme, »so würde unser lieber Doctor Martinus sagen!«
»Seit wann bist du fromm?«, fragte der Schmiedejörg.
»Seit ich weiß, dass ich als Christenmensch dieselben Rechte habe wie die Herren«, gab der Schweineheinz im Brustton der Überzeugung zurück. »Der Joos Fritz hat’s mir erklärt.«
»Ja, dann ...« Das war Hannes’ Stimme. »Aber noch ist der Furz nicht fällig. Erst müssen wir unser Ziel erreicht haben.«
»Der Doktor Luther hat auch gesagt: Aus einem verzagten Arsch kann kein fröhlicher Furz kommen. Also, Brüder – seid unverzagt. Dann können wir bald –«
»Herzhaft furzen!«, ergänzte der Schmiedejörg, begleitet von röhrendem Gelächter.
Albrecht tauchte die Feder in sein silbernes Tintenfass. Sorgfältig malte er ein großes und ein kleines A auf den Bogen aus dickem grauem Hadernpapier. Daneben zeichnete er in schwungvollen Linien einen Apfel, den er noch mit einem Stiel und einem elegant gekrümmten Blatt verzierte.
Der nächste Buchstabe war das B. Eine Birne – nicht sehr phantasievoll, aber eindeutig – versinnbildlichte den Laut. Nun kam das C ...
Citrone ... Aber nein, Anna würde diese seltene Frucht nicht kennen. Sicherlich hatte sie noch nie eine gesehen. Also, welcher Begriff kam dann in Frage?
Albrecht überlegte minutenlang, aber es fiel ihm kein einziger Gegenstand ein, der mit C geschrieben wurde und Anna Elisabeth bekannt sein konnte. Er entschloss sich, den Buchstaben C wegzulassen, und wischte die Feder sauber, an der die Tinte eingetrocknet war. D – das war um ein Vielfaches leichter.
Er zeichnete eine Faust mit emporgerecktem Daumen. E jetzt ... Elefant? Nein – Esel. Das Tier, das da auf dem Blatt zu sehen war, hatte erstaunlich lange Ohren. Albrecht musste leise lachen. Und der Fuchs für F – der sah eher wie ein Wolf aus. Viel zu hochbeinig. Aber vielleicht führte der überaus lang und buschig gezeichnete Schwanz Anna auf die richtige Fährte.
Bei den folgenden Buchstaben würde er sich auf leicht darzustellende Gegenstände beschränken müssen ... seine Zeichenkünste ließen wahrlich viel zu wünschen übrig. G – für Gans. Aufpassen, dass die Gans nicht wie eine Ente aussah.
Selbst eine Fibel für Anna Elisabeth zu zeichnen, damit sie sich im Lesen üben konnte – dieser Gedanke war ihm auf dem Heimritt gekommen. Eine Edelfrau hatte das Lesen und Schreiben zu beherrschen. Daran führte kein Weg vorbei. Edle Haltung und Eleganz würde seine Liebste nicht erst mühsam erlernen müssen. Beides war ihr angeboren.
Er erinnerte sich an den Tanz auf der Michaelikirmes. Wie eine Feder war sie an seiner Seite geschwebt ... wenn er ehrlich war, so hatte er noch kein Edelfräulein kennen gelernt, das Anna, was Liebreiz und Anmut betraf, das Wasser reichen konnte.
Die Gans war gut ausgefallen. Der Hund für das H sah ebenfalls ganz manierlich aus. Und der Igel für I verriet sich ja schon durch seine Stacheln. Das J dagegen machte wieder Schwierigkeiten.
Nach langem Überlegen zeichnete Albrecht, so gut er es vermochte, einen Jäger mit Sauspieß und einem Stück Wild über der Schulter. Von neuem musste er über seine eigenen ungeschickten Versuche lachen. Der Kerl sah ja wie ein buckliger Waldschrat aus! Hoffentlich erkannte Anna, auf was er mit dieser Zeichnung hinausgewollt hatte.
Das K war leicht. Kirsche. Er zeichnete ein Pärchen, verbunden an langen Stielen – Anna und Albrecht. Das L bot auch weiter keine Probleme. Liebe ... Lippen ...
Nein. Lampe. Das war erheblich leichter darzustellen. Die Stalllaterne, die er neben den Buchstaben aufs Papier kritzelte, ähnelte ihrer eigenen – ein ungeschlachtes Ding aus Eisen mit einem Talglicht darin. Ganz genau konnte er sich ihre kleine Hand vorstellen, die den dicken Tragering umfasst hielt.
Er legte die Feder hin und starrte aus dem Fenster. Noch zwei lange Wochen bis zum Dreikönigstag. Zwei lange Wochen des Wartens auf nur wenige kurze Augenblicke – Augenblicke, die schneller vorbei sein würden als ein Ave Maria.
Albrecht seufzte. Glücklicher Bauerntölpel Rebmann, der täglich in Annas Nähe sein durfte und diesen Vorzug sicher kaum zu schätzen wusste. Wahrscheinlich betrachtete er sie einfach als sein versprochenes Eigentum ... aber das sollte ihm streitig gemacht werden!
Albrecht stand auf und ging langsam zu der großen eichenen Stollentruhe hinüber, die am Fußende des Bettes stand. Diese Kiste, aus soliden Bohlen gezimmert und sparsam mit Kerbschnitzereien verziert, enthielt noch immer die Gewänder seiner Mutter – Kleidungsstücke, von denen er sich nie hatte trennen mögen, auch wenn er sie nicht mit einer Person verbinden konnte. Er klappte den Deckel auf. Ganz zuoberst lag ein Kleid aus grünem Samt, diesem dicken, weichen Seidenstoff, den er so besonders liebte. Er zog es hervor und legte es auf der Bettdecke aus. Es schimmerte kostbar, und das sanfte Rot des Futters war noch kein bisschen verblichen. Vom Schnitt her war das Gewand etwas altmodisch; besonders die schmale Pelzverbrämung um den sehr tief gezogenen Ausschnitt entsprach nicht mehr dem heutigen Geschmack. Aber die feinen Goldstickereien am Mieder funkelten, als seien sie eben erst gefertigt worden, und der breite rote Gürtel mit der ziselierten Schnalle bildete immer noch einen prachtvollen Kontrast zu dem weichen Laubgrün des Gewandes.
Ob es Anna passen würde? Denkbar war das schon – sie stand seiner früh verstorbenen Mutter an schlanker Schönheit in nichts nach, und auch in der Größe stimmten sie vielleicht überein. Aber sie würde lernen müssen, wie man sich in einem Schleppgewand fortbewegt ...
Albrecht schob die Hand tiefer in die Truhe, tastete nach der kleinen Schatulle, die da irgendwo unter den anderen Kleidungsstücken sein musste. Da war sie schon. Er zog sie hervor und klappte den dachförmigen Deckel des silberbeschlagenen Kästchens auf. Der bescheidene Schmuck einer nicht sehr begüterten Edelfrau schimmerte ihm entgegen: einige kleine goldene Ringe, teils mit Steinen besetzt, eine schöne Goldkette mit einem Anhänger in Form eines Einhorns, eine Kette aus dicken, unregelmäßig geformten Perlen und ein dünnes Kettchen mit einer großen, tropfenförmigen Perle daran.
Albrecht wählte ein zierliches Ringlein mit einem runden Rubin. Das sollte Anna bekommen am Dreikönigstag. Wie sie es unbemerkt tragen sollte, war ihm noch nicht ganz klar, aber sie würde schon einen Weg finden, klug wie sie war. Er faltete das prächtige grüne Gewand und ordnete es wieder sorgfältig auf den anderen Gewändern in der Truhe. Auch das Schmuckkästchen kam zurück an seinen Platz tief unter den Kleidungsstücken. Als er fertig war, warf Albrecht einen Blick auf das Bildnis seiner Mutter, das von der Wand gegenüber dem Fenster auf ihn niederschaute. Ernste hellblaue Augen betrachteten ihn nachdenklich ... Augen, die den seinen erstaunlich ähnlich waren. Um die feine, helle Haut der jungen Frau zu betonen, hatte ihr der Maler einen zarten weißen Schleier über das eng gelockte blonde Haar gelegt – einen Schleier, der ihren hohen Haaransatz spielerisch umgab. Schmuck war nicht nötig gewesen. Auf dem Bild trug sie das Gewand, das ihr Sohn noch vor Augenblicken auf dem Bett liegen gehabt hatte.
Ein Mund mit schön geformten Lippen, ein festes Kinn, eine schlanke, regelmäßige Nase – all diese äußerlichen Attribute hatte sie ihm vererbt. Von seinem Vater kam nur das gelegentlich wüst aufbrausende Temperament und die Neigung, den Willen durchzusetzen ...
»Ihr würdet meine Wahl gutheißen, Mutter«, murmelte er vor sich hin, »immer vorausgesetzt natürlich, dass sie ein junges Fräulein aus bester Familie ist. Und darum muss ich Sorge tragen, dass sie als Edle durchgeht ...«
Das würde die nächste Aufgabe sein, die er zu lösen hatte: Anna Elisabeth irgendwie hierher zu holen und ihr all das beizubringen, was sie unbedingt können und wissen musste. Was, wenn er dazu keine Möglichkeit fand? Was, wenn sie dazu nicht bereit war?
Es konnte ja sein, dass die Furcht vor dem Ungeheuerlichen, was er von ihr verlangen musste, ihre Liebe überwog. Vielleicht war sie doch schwächer, als er sie einschätzte, und traute sich nicht, ihm in eine für sie so fremde Welt zu folgen. Albrecht ballte die Fäuste, spürte, wie sein Blut heftiger durch seine Adern zu strömen begann. Ruhe, befahl er sich. Kommt Zeit, kommt Rat – und was dergleichen Altweibersprüche mehr sind!
Er warf dem Bildnis seiner Mutter einen kämpferischen Blick zu. Dann machte er sich daran, seine Fibel zu vollenden. Wie kam er denn dazu, jetzt schon zu zweifeln – da er Anna Elisabeth noch nicht einmal seinen Plan dargelegt hatte!