Die Sonne stand bereits im Westen. In den Pfützen, die noch vom kürzlich gefallenen Regen die tief ausgefahrenen Karrenspuren füllten, spiegelten sich Bäume und Gebüsch rechts und links des Weges. Der Wald war hier von vielen Lichtungen unterbrochen. Im vergangenen Winter hatte der Klostervogt beinahe alle alten Bäume schlagen lassen. Überall ragten an dieser Stelle die mächtigen Stümpfe der Eichen und Buchen aus dem schütter bewachsenen Boden.
Die Frau, die sich beim Gehen sorgfältig auf dem grasigen Mittelstreifen zwischen den Karrenspuren gehalten hatte, blieb stehen. Sie stellte den kunstlos geflochtenen Weidenkorb ab, den sie am Arm getragen hatte, zupfte das Tuch zurecht, mit dem er zugedeckt war, und betrachtete tief aufatmend ihre Umgebung. Im kühlen Wind, zwischen den toten Stümpfen des Kahlschlags, wehten die fahlgelben Rispen des Waldgrases wie blasses Mädchenhaar. Aufsteigender Dunst verschleierte die jungen Fichten jenseits der Lichtung und verwandelte ihr schwärzliches Grün in zartes Blaugrau. Die Wipfel einiger letzter Hainbuchen trugen schon Spuren herbstlichen Goldes. Hoch oben in der durchsichtig gläsernen Luft über der Senke zogen zwei Habichte ihre trägen Kreise.
Einen Augenblick stand die Frau still und träumend, die Augen zum Himmel gerichtet. Dann, als sei sie plötzlich wieder erwacht, senkte sie den Kopf und tat einen langen Schritt über die wassergefüllte Karrenspur zum Wegrand. Ihr Blick wanderte suchend, prüfend über den moosigen Fleck am Fuß einer Kiefer. Sie bückte sich und klaubte drei, vier dicke, braunköpfige Pilze aus dem Moos.
Steinpilze. Und da, dicht am Stamm der Kiefer, standen weitere – fleischige, junge Exemplare, wie sie schöner nicht sein konnten.
Die Frau zog ein kleines Messer aus der ledernen Scheide an ihrem Gürtel und halbierte die gefundenen Pilze sorgfältig. Alle waren ohne Maden – tadellos. Aber in den vollen Korb passten sie nicht mehr. Ein Augenblick des Überlegens, dann knüpfte die Frau das verblichene rote Tüchlein von ihrem Hals los und band die Pilze vorsichtig darin ein.
Sie lächelte, als sie den improvisierten Beutel am Henkel ihres Korbes festknotete. Sie mochte siebzehn sein, vielleicht auch achtzehn und sicherlich noch nicht verheiratet, denn sie trug das prachtvoll glänzende schwarzbraune Haar unbedeckt, schlicht in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem dicken geflochtenen Knoten aufgesteckt. Über ihrer runden Stirn und an den Schläfen kringelten sich ein paar widerspenstige Löckchen.
Ihr Gewand, ein aus graubraunem Wollzeug gemachter knöchellanger Rock mit schwarzleinenem Schnürmieder, unter dem ein üppig gefälteltes weißes Hemd hervorblitzte, war ohne Zweifel ein Bauerngewand. Aber vielleicht unterstrich es, so grob und ungeschlacht es war, gerade durch seine völlige Schmucklosigkeit die zierliche Gestalt seiner Trägerin. Nicht einmal das dicke, ebenfalls graubraune und rauwollige Tuch, das ihre Schultern verhüllte, konnte über ihr wenig bäuerliches Aussehen hinwegtäuschen.
Die junge Frau hievte den schweren Korb vom Boden hoch. Mit einem letzten kurzen Blick zum Himmel setzte sie ihren Weg fort, stapfte in den klobigen, holzbesohlten Schuhen weiter den Weg entlang. Steinpilze! Beinahe die Hälfte ihrer Beute bestand aus Steinpilzen. Natürlich waren die für das Bauernvolk verboten und mussten abgegeben werden. Nicht umsonst wurden sie ja auch Herrenpilze genannt. Aber diesmal sollten sie zu Hause in der Pfanne landen und nicht in der Klosterküche!
Über der Nasenwurzel der jungen Frau zeigte sich eine senkrechte Falte. Sie kniff die Lippen zusammen, schob das Kinn vor und beschleunigte ihre Schritte. Man würde die Steinpilze so fein schneiden, dass sie zwischen den anderen – den Täublingen und Ritterlingen und Stockschwämmchen – nicht mehr auszumachen waren. Man würde viel Zwiebel dazugeben. Und dann sollte einmal jemand kommen und behaupten ...
Die tiefstehende Sonne warf goldene Lichter durch das Gezweig der Haselbüsche. Der Himmel, noch vor kurzer Zeit von hellem, durchsichtigem Blau, begann sich rosig zu färben. Es war empfindlich kühl geworden.
Hufschläge drangen auf einmal durch die Stille. Die junge Frau wandte den Kopf. Ein Reiter näherte sich hinter ihr in schwerfälligem Trab. Sein Tier, ein kräftig gebauter Falber, blies weiße Atemwolken aus den Nüstern und schritt weit aus. Es dauerte nur wenige Herzschläge, bis er die junge Frau eingeholt hatte. »Gott zum Gruß«, sagte der Reiter, indem er sein Pferd zügelte, »wie weit noch bis zum Dorf?«
»O – nicht mehr weit«, erwiderte sie und hob dem Reiter das Gesicht entgegen. »Ihr kommt leicht in wenigen Augenblicken hin ... zu Pferd.«
Der Reiter hatte blondes, schulterlanges Haar und blitzblaue Augen. Seine lange, leicht gekrümmte Nase verlieh ihm etwas Verwegenes, denn sie saß wie der Schnabel eines Raubvogels in dem scharf gezeichneten Gesicht. Aber der breite Mund war weich und milderte den Eindruck. Dieser Mund lächelte und enthüllte dabei zwei Reihen kräftiger weißer Zähne. »Gehe ich recht, wenn ich annehme, dass Ihr auch dorthin wollt, Jungfer?«, fragte der Reiter augenzwinkernd.
Sie fand sein Benehmen frech. »Wohin sollte ich wohl sonst wollen?«, erwiderte sie abweisend. »Glaubt Ihr, ich streune einfach so im Wald herum – gegen Abend und ohne Ziel?«
Der Reiter lachte, plötzlich etwas verlegen, wie es schien. »Um Vergebung, Jungfer«, sagte er, »das hätte ich niemals von Euch angenommen.«
Die junge Frau sagte nichts dazu und musterte ihn aus den Augenwinkeln. Um seine breiten Schultern lag ein Koller aus dunkelgrünem Filz – mit langzipfeliger Kapuze, nützlich bei Regenwetter. Seine Beine steckten in röhrenförmigen Beinkleidern aus speckigem Rauleder von nicht mehr auszumachender Farbe, und die Sohlen seiner Schuhe waren durchgelaufen – ein Fremder, wer wusste, woher? »Wollt Ihr jemanden besuchen im Dorf?«, fragte sie ihn vorsichtig.
»Nein.« Er betrachtete sie ebenfalls. »Ich reise nur durch.«
»Ach.« Sie senkte die Lider, denn seine Augen waren bei ihrem Gesicht angekommen und hatten ihren Blick gesucht. »Ihr kommt wohl von weit?«
»Hmm«, brummte er. »Gibt es ein Wirtshaus im Dorf?« »Seid Ihr ein Kaufmann auf Reisen?«, forschte sie, ohne seine Frage zu beantworten.
Er schüttelte den Kopf, tätschelte seinem Pferd die Mähne, lächelte.
»Das hätte mich auch gewundert«, sagte sie. »Wie ein Kaufmann seht Ihr mir überhaupt nicht aus ... zumal Ihr offenbar keinerlei Waren mit Euch führt.«
Er schwieg einen Augenblick. »Ich bin nur ein Wanderer«, sagte er dann langsam, »ein müder Wanderer auf der Suche nach Herberge für die kommende Nacht.«
Sie wandte sich zum Weitergehen. »Mein Vater führt eine kleine Wirtschaft«, sagte sie. »Könnt Ihr zahlen?«
»Ich denke schon«, gab er zurück und trieb sein Pferd wieder an. »Wenn’s nicht zu teuer ist ...«
»Gut und seinen Preis wert«, informierte sie ihn nüchtern und stapfte los. »Lasst Euer Tier langsam gehen, damit es mich nicht mit Schlamm bespritzt. Dann reitet einfach neben mir her – ich zeige den Weg.«
Sein Blick ruhte auf ihr, das spürte sie. Seine Stimme hatte einen sanften Klang, als er fragte: »Verratet Ihr mir wohl Euren Namen?«
»Anna Elisabeth.«
»Das sind zwei Namen. Bei welchem ruft man Euch?« »Bei beiden.«
»Wie soll das gehen? Lisanna? Annabeth?«
Sie musste lachen. »Annelies.«
»Ich werde Euch Anna nennen. Das gefällt mir besser.«
»Ganz nach Belieben.« Sie drehte sich halb zu ihm um. »Und wie ist Euer Name?«, fragte sie, sich gleich wieder abwendend, denn seine Augen hatten schon auf ihren Blick gewartet.
»Albrecht«, sagte er, noch immer in dem leisen, beunruhigend sanften Ton. »Mein Name beginnt mit dem gleichen Buchstaben wie Eurer.«
»Albrecht Namenlos?« Sie hatte nicht vor, sich einschüchtern zu lassen.
»Albrecht ... Hund«, antwortete er mit einem Zögern in der Stimme, »Albrecht Hund aus Schwarzental ...«
»Hund ... ein sonderbarer Name.« Sie übersprang eine Wasserlache, die sich quer über den Weg zog, und hielt dabei die freie Hand schützend über ihren Korb, damit nichts von seinem kostbaren Inhalt herausfallen konnte. »Wo liegt Schwarzental?«
»Warum wollt Ihr das wissen?«, fragte er.
»Nur so ... aus Neugier.« Sie wagte einen neuen Blick. »Ist es ein schöner Ort?«
»Ich weiß nicht ... ich bin da geboren, darum finde ich ihn vielleicht schön, auch wenn er es nicht eigentlich ist ...«
Sie stieß einen Seufzer aus. »So geht es mir mit meinem Dorf«, erwiderte sie, indem sie den Blick von seinen Augen losriss und ein sonderbares Gefühl der Unsicherheit niederkämpfte. »Es ist klein und nicht besonders hübsch, aber es ist meine Heimat ... und trotzdem, manchmal wünschte ich mir, ich könnte ...« Sie unterbrach sich.
»Was?«, fragte er nach.
»Die Welt sehen«, flüsterte sie, »die Welt hinter dem Wald.« Sie hob den Kopf zum Himmel, dessen Rosenfarbe sich vertieft hatte. »Die Schwalben sind schon fortgezogen ...«
Er setzte seinem Pferd die Fersen in die Flanken. »Es ist die Natur der Schwalben, im Herbst nach Süden zu ziehen«, sagte er. »In der Natur der Bauern aber liegt es –«
»Ich dachte ja auch nur«, unterbrach sie ihn spröde. »Was spreche ich überhaupt mit Euch über solche Dinge ... mit einem wildfremden Menschen, den ich gar nicht kenne ...«
»Das ist wahr.« Am Klang seiner Stimme konnte sie erkennen, dass er wieder lächelte. »Warum solltet Ihr mir wohl Eure Gedanken preisgeben – mir, einem wildfremden Menschen? Reden wir über andere Dinge.«
Sie blies die Wangen auf und bemühte sich, mit dem weit ausgreifenden Tritt seines Tieres Schritt zu halten. »Müssen wir überhaupt noch miteinander reden?«, erwiderte sie schroff. »Alle nötigen Worte sind ja bereits gewechselt, und es gefällt mir nicht, wie Ihr Euch über mich lustig macht.«
»Tu ich das?« Er fuhr sich mit der Linken durch sein ungeordnetes Haar. »Glaubt mir, Jungfer Anna – das war mir nicht bewusst. Ich bitte demütig um Vergebung.«
»Seht Ihr?«, blitzte sie ihn an, »da tut Ihr’s schon wieder. Das ist nicht schön von Euch!« Sie schaute auf ihren Rocksaum hinab, der vom Streifen über die langen Gräser einen feuchten Rand bekommen hatte. »Außerdem klatscht mir Eure Mähre mit jedem Schritt Wasser übers Kleid. Obwohl ich Euch vorhin gebeten hatte ...«
»Vielleicht solltet Ihr Euren Rock ein wenig höher schürzen«, gab er in gespielter Ernsthaftigkeit zurück. »Meine Mähre, wie Ihr meinen Hengst zu nennen beliebt, ist eben nur ein unverständiges Tier und hat überdies unziemlich große Hufe ...«
»Das könnte Euch so passen.« Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Lasst Euren ... Euren Gaul gefälligst langsamer gehen und sanfter auftreten. Ich denke nicht daran, vor Euren Augen meine Beine zu entblößen!«
Er hielt sein Tier an. »Jungfer Anna«, sagte er, diesmal mit tatsächlichem Ernst in der Stimme, »Ihr tragt da einen schweren Korb – wollt Ihr mir nicht erlauben, ihn zu mir aufs Pferd zu nehmen, und Euch dazu?«
Sie war ebenfalls stehen geblieben und widmete ihm schweratmend einen empörten Blick. Diese Dreistigkeit! Für den Augenblick fehlten ihr die Worte. Nur ein zorniges »Oh!« entrang sich ihr.
Er schien sich der Frechheit seines Angebotes überhaupt nicht bewusst zu sein, sondern streckte tatsächlich eine Hand nach dem Korb aus. »Kommt, reicht mir Eure Last herauf.«
»Auf keinen Fall!« Sie schnaufte indigniert und zerrte mit der freien Hand ihr Umschlagtuch am Hals zusammen. »Damit Ihr mir womöglich davonreitet? Ich müsste ja von allen guten Geistern verlassen sein!«
»Was enthält denn das Behältnis Kostbares?«, erkundigte er sich, aufs Neue belustigt.
»Pilze«, war ihre knappe Antwort. Sie schoss ihm einen trotzigen Blick zu.
Um seine Lippen zuckte ein Lächeln, das sich bis in die Winkel seiner Augen fortsetzte. »Und Ihr fürchtet, ich könnte mich damit davonmachen«, fragte er in gespieltem Ernst, »mit einem Korb voller Pilze? Ich kann ja nicht einmal beurteilen, ob sie essbar sind!«
Sie gab sich alle Mühe, seinem Blick standzuhalten. »Aber es ist doch jedermann bekannt«, konterte sie, »dass Pilze eine gute Speise abgeben.«
»Wenn man weiß, welche kein Gift enthalten«, widersprach
er.
»Und Ihr wisst es nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Das nimmt mich wunder«, murmelte sie verwirrt. »Als ein Fahrender solltet Ihr Euch eigentlich auskennen.« Sie umklammerte den Henkel ihres Korbes fester. »Im Herbst bietet der Wald doch alle Art von Nahrung, die man nur einzusammeln braucht...«
»Ich musste bisher noch nicht auf solche Mittel zurückgreifen«, erklärte er mit belustigt zuckenden Lippen.
Sie nickte zögernd. »Nun ja«, erwiderte sie halbherzig, »arm könnt Ihr nicht sein, Ihr besitzt immerhin ein Pferd – es sei denn, Ihr habt es ...« Sie presste die Hand auf den Mund. Ihre Augen weiteten sich erschrocken.
»Gestohlen?« Er lachte. »Nein, Jungfer, seid ohne Furcht. Das Tier ist mein. Hab’s selbst aufgezogen ... in Schwarzental.«
Sie atmete tief durch. »Ich weiß nicht genau, warum«, sagte sie mit einem gepressten Atemzug, »aber ich will Euch einmal glauben. Nur – wenn wir noch länger hier stehen bleiben und schwatzen, werden wir erst in der Dunkelheit das Dorf erreichen.«
Sie wollte weitergehen. Doch er beugte sich vom Pferd herab und streckte energisch die Hand aus. »Jetzt seid klug und gebt mir wenigstens Eure Last«, forderte er.
Mit leisem Widerstreben ließ sie es zu, dass er den Korb zu sich heraufhob und ihn vor sich auf den Sattel setzte – einen alten, abgewetzten Sattel, der früher sicherlich einmal recht teuer gewesen war, genau wie das Riemenwerk des Geschirrs, mit dem das Pferd aufgezäumt war. Langsam setzte sich der große Falbe wieder in Bewegung. Sein Reiter achtete sorgfältig darauf, den Wasserlachen der Fahrgeleise auszuweichen, und hielt den Korb ordentlich in der Waage. Sie schwiegen beide. Erst nachdem eine letzte Wegbiegung umrundet war, sagte die junge Frau: »Da sind wir. Das Haus am Weiher, das gehört meinem Vater.«
Der westliche Himmel hatte sich mit glühendem Rot überzogen, in dem fliederfarbene, goldgesäumte Wölkchen schwammen. Das Dorf, eine kleine Ansammlung bescheidener, mit Schindeln gedeckter Gehöfte, die von Flechtwerkzäunen umgeben waren, lag in rosiges Licht getaucht. Der Weiher, eigentlich ein Mühlenteich, strahlte das überwältigende Farbenspiel aus dunstigem Violett, Schwefelgelb und Feuersglut wider, in dem heute die Sonne versank; auf seiner stillen, fast unbewegten Mitte aber spiegelte sich als hell blinkender, leuchtender Punkt der Abendstern.
Der Reiter brachte sein Pferd zum Stehen und verhielt einen Augenblick, ganz verzaubert von dem Bild, das sich ihm bot. Doch die junge Frau strebte weiter. »Kommt«, drängte sie, »ich bin schon viel zu spät dran. Der Vater wird schelten, weil ich mich so lange habe aufhalten lassen!« Sie marschierte weiter, bog auf den Pfad ein, der um den Teich herumführte und bei dem Anwesen gleich neben der Mühle endete. Der Reiter ließ sein Tier in langsamem Schritt gehen und folgte ihr, den Blick fest auf ihre schmale Gestalt geheftet.
In dem Haus hart am Rand des Weihers brannte Licht; es schimmerte durch die bleigefassten Butzenscheiben zweier winziger Fenster auf den Weg. Drinnen schienen sich mehrere Leute aufzuhalten. Durch die spaltbreit offen stehende Bohlentür drangen Gelächter und Unterhaltungsfetzen.
»Himmel«, sagte die junge Frau, »es sind sogar Nachbarn da! Das wird was geben ...« Sie streckte dem Reiter beide Hände entgegen. »Reicht mir den Korb und sitzt ab – ich führe Euch hinein. Hurtig!«
Der Reiter kam ihrer Bitte schleunigst nach. Er zeigte ein schiefes Lächeln, als er sich aus dem Sattel gleiten ließ. »Ihr habt wohl viel Respekt vor Eurem Vater?«, bemerkte er mit leisem Spott.
»Ihr nicht?«, fragte sie und trat an die Tür.
Im gleichen Moment wurde sie von innen aufgestoßen. Ein grauhaariger Mann, faltig und beinahe greisenhaft, steckte den Kopf heraus. »Annelies«, polterte eine brüchige Stimme, »ich hatte schon gedacht, ich müsst dich suchen lassen ...«
»Aber Väterchen!« Sie machte dem Reiter ungeduldig ein Zeichen, näher zu treten. »Ich hab viel gefunden – und außerdem noch einen Gast mitgebracht. Da ist es ein bisschen später geworden ...«
»Dass dich ... !« Der Alte tat wütender als er war. »Jetzt aber an die Arbeit. Frisch Bier geholt – und die Supp ans Feuer!« Einen Augenblick ruhte sein Blick wohlgefällig auf seiner Tochter, dann hob er die Hand und tat, als wolle er sie schlagen. »Willst du wohl ...?«
Anna Elisabeth duckte sich ebenso halbherzig, deutete auf den Reiter, der hinter ihr an der Tür stand, und huschte mit dem Korb ins Haus. Drinnen, bei dem aus Feldsteinen gemauerten Herd, auf dem bereits ein Feuer loderte, stellte sie ihre Last ab.
Der Alte unterzog indessen den Mann, den seine Tochter ihm da ins Haus geführt hatte, einer gestrengen Prüfung. Der Reiter wurde vom unordentlich zerzausten Haupthaar bis zu den schadhaften Stiefeln gemustert und dabei ausgefragt: »Woher und wohin?«
»Ich komme von Wittenberg«, antwortete der Reiter, »und ich bin auf dem Weg nach Hause – nach ... Schwarzental.«
»Soso.« Der Alte legte den Kopf schief, wie Schwerhörige das oftmals zu tun pflegen. »Was habt Ihr getrieben in Wittenberg?«
»Ich ...«, der Reiter verzog den Mund zu einem schmallippigen Lächeln, »ich habe ... Studien betrieben. Und nun will ich zurück zu den Meinen.«
»Ihr seid ein Scholar?« Dieser Gedanke schien dem Alten zu
gefallen. »Oder habt Ihr am Ende gar schon ausgelernt?«
»So könnte man sagen«, wich der Reiter aus. »Gebt Ihr mir
ein Nachtlager, Speisung und einen Unterstand für mein Ross?« »Könnt Ihr zahlen?«
Diese Frage war schon einmal gefallen. Der Reiter beantwortete sie mit den gleichen Worten, die er bereits der Tochter dieses Mannes geboten hatte. »Wenn es nicht zu teuer ist ...«
Das Lachen des Alten mündete in einem trockenen Husten. »Hm, hm! Wir werden uns schon einig«, erwiderte er in weitaus freundlicherem Ton als zu Beginn der Unterredung, »wenn Ihr uns neue Zeitung aus der Welt bringt.« Er sah den Reiter gespannt an. »Ihr werdet doch viel erlebt haben in der Fremde. Oder nicht?«
»O ja«, murmelte der Reiter.
»Wie nennt Ihr Euch?«
Auch das war der Reiter bereits gefragt worden. Er räusperte sich. »Albrecht... Hund. Aus Schwarzental«, wiederholte er milde.
Der Alte streckte noch einmal den Kopf aus der Tür. »Michel«, rief er laut in die sinkende Dunkelheit hinaus, »herbei, Taugenichts ... !«
Es raschelte. Wie aus dem Nichts tauchte eine schmächtige Gestalt an der Tür auf – ein barfüßiger Junge, dem der grobe graue Kittel um die knochige Figur schlotterte. »Ja, Ohm...«,
sagte er und duckte sich vorsorglich vor dem Faustschlag, den der Alte in seine Richtung gezielt hatte und der ebenso wie bei seiner Tochter nicht wirklich ernst gemeint war.
»Versorg das Tier«, befahl der Alte mit knarrender Stimme. »Reib es ab, gib ihm Heu und einen Eimer Wasser zum Saufen. Erst, wenn du es gut gemacht hast, kriegst du selber was – verstanden?«
»Ja, Ohm.« Der Junge zögerte. »Aber die Packrolle ...« Er deutete auf den Mantelsack hinter dem Sattel des Pferdes.
»Die holst du erst herunter, Tunichtgut!«, donnerte der Alte. »Tummel dich!«
Er holte noch einmal aus, um dem Jungen eine Kopfnuss zu verpassen. Michel wich mit einem kleinen Satz zur Seite aus. »Sofort, Ohm ...«, murmelte er dienstbeflissen.
Der Reiter mischte sich ein. »Lass nur – ich schnalle den Mantelsack schon selber ab«, sagte er. »Kannst dann den Rest besorgen.«
Michel nickte so heftig, dass es seine ganze schmächtige Gestalt zu schütteln schien, und drückte sich an die Hauswand. Als die Packrolle vom Pferd heruntergehoben war, nahm er mit einem tiefen Bückling die Zügel entgegen und führte den Falben um die Hausecke.
»Tretet ein unter mein bescheidenes Dach«, sagte der Alte zu seinem neuen Gast und deutete ebenfalls eine Verbeugung an.
Die Mundwinkel des Reiters zuckten. »Der Knirps scheint mir nicht sonderlich gewitzt zu sein«, meinte er. »Wird er es auch richtig machen? Wenn nicht, dann kümmere ich mich lieber selbst darum. Bevor ich eine Mahlzeit zu mir nehme, muss erst mein Ross sein Futter haben.«
»Recht gesprochen«, bemerkte der Alte mit Wohlgefallen, »so soll es sein. Aber sorgt Euch nicht, der Michel ist schlauer, als er aussieht. Der tut schon seine Arbeit – und besser als so mancher Knecht.«
»Wenn das so ist«, sagte der Reiter zweifelnd. Er hob den Mantelsack auf die Schulter, trat hinter dem Alten in die Stube ein und sah sich um. Unter einer Decke aus schweren, lastenden Eichenbalken bot sich ihm der Anblick eines großen Raumes mit weiß gekalkten Wänden, dessen spärliche Einrichtung – ein dunkles Tellerbord und ein breiter Brotschrank mit durchbrochenen Türen – offensichtlich schon seit Generationen hier im Gebrauch war, denn ihr Eichenholz war wie das der Deckenbalken beinahe schwarz vom Alter.
Auf der Bank an der Stirnwand, wo in eisernen Halteringen zwei Kienspäne flackerndes Licht verbreiteten, saßen an einem langen Tisch mehrere Männer – wohl Bauern aus dem Dorf, die sich hier zum Abendtrunk eingefunden hatten. Zwei von ihnen, grauhaarig und mit zerknitterten, wettergegerbten Gesichtern, hatten wie der Wirt sicherlich die fünfzig schon überschritten. Die anderen vier, junge Kerle mit schwieligen Fäusten und schmutzigen Fingernägeln, hätten ihre Söhne sein können. Alle trugen die gleichen grauwollenen Kittel und klobigen Holzpantinen, nickten dem Reiter wortlos zu und blickten ihm aufmerksam entgegen.
»Zieht Euch einen Stuhl an den Tisch und setzt Euch dazu«, forderte der Wirt den Reiter auf. Der ließ seinen Packen gleich neben der Tür auf die Steinplatten des Fußbodens fallen und schob ihn mit der Stiefelspitze dicht an die Wand. Die Tochter des Wirtes hatte das Umschlagtuch abgelegt und an einen Wandhaken gehängt. Sie kauerte an der Längsseite des Raumes neben dem Herd und war mit dem Putzen und Schneiden der Pilze schon beinahe fertig. »Nur ein Augenblickchen Geduld«, rief sie zu den Gästen herüber, »heut dauert’s Essen nit lang.«
»Aber erst holst du neues Bier«, befahl der Alte, »bevor die Pfanne am Feuer steht und du nicht mehr davon wegkannst.« Er deutete auf den großen bauchigen Krug, aus dem eben einer von den Jüngeren, ein hagerer Kerl mit schütterem, fuchsfarbenem Schnurrbart, den letzten Schluck in seinen Becher geschüttet und getrunken hatte. Der neben ihm Sitzende, ein breitschultriger junger Mensch mit kurz geschnittenem Flachshaar und einem gutmütigen Gesicht, war besonders angetan von diesem Gedanken. »Ja, spute dich, Annelies. Gell – du lässt dein Schatz nit verdursten?«
Das Mädchen hatte sich aus ihrer hockenden Stellung beim Herd aufgerichtet und wandte sich jetzt unwillig ihrem Vater zu. »Kann nicht der Michel in den Keller gehen?«, fragte sie mit einem leichten Stirnrunzeln. »Wo steckt denn der Bengel schon wieder?«
»Der Michel versorgt das Pferd von dem Gast, den du hergebracht hast«, gab der Wirt zurück. »Lauf nur selbst – es wird dir nit schaden.«
»Dem Gast würd es nit schaden, wenn er sein ... seinen Gaul selbst füttern und tränken tät«, murmelte das Mädchen widerstrebend. »Er zeigt rechte Herrenmanieren – was ihm weiß Gott nit ansteht.« Sie strich sich den groben Rock glatt, ging zum Tisch und griff nach dem Krug. »Bei den durchgelaufenen Stiefeln ...«, fügte sie mit einem abschätzigen Blick auf das Schuhwerk des Reiters hinzu.
Die Männer am Tisch lachten. »Soll ich dir helfen, Schätzle?«, fragte der Flachshaarige und legte den muskulösen Arm um die Hüfte des Mädchens. »Ich könnt’s Licht halten ...«
Die Wirtstochter machte sich verlegen aus dem festen Griff des Mannes los. »Lass doch, Hannes«, erwiderte sie, während ihr eine sanfte Röte in die Wangen stieg.
Der Flachshaarige heftete den Blick fest auf ihre Augen und umfasste sie noch einmal. »Jeder darf sehen, dass du die Meine bist«, sagte er, »weil’s ja eh alle wissen – seit Jahr und Tag.« Er zog sie an sich. »Hannes Rebmann seine Annelies. Und nächstes Jahr die Frau Rebmännin.«
Sie entzog sich ihm ein zweites Mal. »Dann lass das nächste Jahr erst kommen«, sagte sie unwillig, packte den Krug und brachte sich mit einem langen Schritt außer Reichweite.
Die Männer lachten noch einmal. Der Reiter, der mit schmalen Augen zugesehen hatte, meldete sich zu Wort. »Wenn Ihr mir beschreibt, wo das Bier zu finden ist, gehe ich für Euch in den Keller«, sagte er und straffte sich. »Das wäre nicht mehr als recht und billig, da doch Euer ... Euer Mann mein Ross versorgt.«
Die Wirtstochter war beim Herd angekommen. Im Vorübergehen bückte sie sich, nahm von dem am Boden lagernden Haufen ein schmales Scheit auf und warf es in die Flammen. Funken stoben, wirbelten in einer glühenden Wolke den dachförmigen Kamin hinauf. Auch der Reiter, der dicht daneben stand, bekam einen kleinen Funkenregen ab. »Macht Euch nur keine Mühe«, sagte das Mädchen und warf dem Reiter einen schadenfrohen Blick zu. »Ich kenne meine Pflichten – selbst gegenüber Gästen, die sich wie Herren gebärden und schadhafte Schuhe tragen.«
Er wischte einen glimmenden Funken vom Rand seiner Gugel ab, verbrannte sich den Finger, zuckte zusammen, wollte etwas erwidern. Doch sie hatte schon von ihrem Vater ein brennendes Unschlittlicht entgegengenommen und war mit Krug und Kerze durch die schmale Brettertür verschwunden, die an der vorderen Stirnwand lag und offenbar in den Keller führte.
»Das ist meine Annelies, ’s schönst Mädchen im ganzen Odenwald«, sagte der Flachshaarige gut gelaunt, »wirblig wie immer – aber sie meint es nicht bös.« Er machte eine einladende Handbewegung. »Kommt – setzt Euch dazu. Wir haben gern Reisende hier, die uns was erzählen können.«
Der Reiter schüttelte den Kopf. »Gestattet, dass ich ein Weilchen beim Feuer bleibe«, gab er zurück, »ich bin ganz durchgefroren – hab heute mehr als vierzig Meilen zurückgelegt.«
»Ein langer Ritt«, brummelte einer der älteren Männer beeindruckt. Er legte den Kopf schief und widmete dem Reiter einen zweifelnden Blick. »So weit bin ich im Leben noch nie von hier weg gewesen ...«
»Lang genug jedenfalls, dass einem der Wind bis auf die Knochen geht«, erklärte der Reiter, ohne auf die unausgesprochene Frage in der Stimme des alten Bauern zu achten. Er trat näher an den Herd heran. »Das macht, dass man ganz lahm wird ...«
»Euer Pferd wird es gewiss auch spüren«, sagte der Dürre mit dem rotem Schnauzbart. »Es sei denn, Ihr habt ein sehr gutes Ross.«
»Es ist kräftig, wenn Ihr das meint.« Der Reiter nickte wie zu sich selbst und dehnte sich in der Wärme, die ihm vom Herd entgegenstrahlte. »Hat mich bis heut noch nie im Stich gelassen.«
»Euer Eigen?«, wollte der Alte wissen.
»So sagte er mir«, mischte sich die Wirtstochter ein, die mit dem gefüllten Krug wieder aus dem Keller aufgetaucht war. »Er will es selbst aufgezogen haben.«
Der Reiter drehte sich zu ihr um und sah sie an. Dann schaute er in die Schüssel mit den Pilzen, die auf dem Herdrand stand. »Solche habe ich schon gesehen«, sagte er langsam und maß das Mädchen mit einem bedeutsamen Blick. »Sind das nicht Herrenpilze?«
Plötzlich war nur noch das Krachen und Knistern des Feuers zu hören. Die Männer am Tisch sahen sich betreten an. »Ich dachte, Ihr könnt die Arten nicht auseinander halten«, sagte das Mädchen in die Stille hinein. »Wie wollt Ihr wissen ...«
»Diese sind mir durchaus bekannt«, erwiderte der Reiter. Er vertiefte den Blick auf ihr Gesicht. »Und sehr schöne habt Ihr gefunden, Jungfer Anna – dunkelbrauner Samt ... ganz wie Eure Augen...«
Sie musste schlucken. Doch sie fing sich gleich wieder. »Lasst solche Scherze«, widersprach sie störrisch, »es sind ja bloß Schusterpilze.«
Der Wirt hatte ihr mittlerweile den Krug abgenommen. Nun warf auch er einen Blick in die Schüssel. »Was redest du denn da, Tochter«, fuhr er das Mädchen an. »Unser Gast hat Recht. Die Herrenpilze kommen wieder in den Korb. Die stehen dem Kloster zu.«
»Stehen dem Kloster zu«, bestätigte einer der älteren Männer gottergeben, während die anderen missmutig zustimmten. »Als ob die fetten Pfaffen es nötig hätten«, knurrte der mit dem fuchsfarbenen Schnurrbart zornig, »die kriegen doch alle Tage volle Schüsseln – sogar in der Fastenzeit!«
Der Reiter räusperte sich. »Gibt es hier einen, der den Mönchen stecken könnte, dass heute in eurer Pfanne Herrenpilze schmoren?«, fragte er in den Raum hinein. »Wisst – ich wäre der Letzte, der es tun würde. Ich esse sie nämlich auch für mein Leben gern.«
Schlagartig hellten sich die Mienen der Männer wieder auf. »Ihr habt schon ...?«, fragte der Wirt in unwillkürlichem Flüsterton.
»Aber sicher.« Der Reiter grinste und hob verschwörerisch eine Augenbraue. »Ich muss sogar zugeben, dass ich mir aus den anderen Arten nicht so viel mache.« Dabei schnippte er spielerisch mit den Fingern.
»Ihr seid ein rechter Kerl!« Der Flachsblonde schlug mit der Faust auf den Tisch. »Es wird sowieso höchste Zeit, dass sich der Bauer widersetzt ... viel zu lange hat er demütig zu allem Ja und Amen gesagt!«
»Johannes!« Einer der beiden alten Männer am Tisch machte ängstliche Augen und legte den Finger an die Lippen. »So sollst du nicht sprechen. Das ist nicht nach Gottes Willen!«
»Und ich dulde solche Reden nicht in meinem Haus«, stimmte der Wirt zu. Doch seinen Worten war die Halbherzigkeit anzumerken.
Der mit dem roten Schnauzbart hob den Kopf. »Aber er hat ja Recht, der Hannes«, brummte er gereizt. »Es stinkt zum Himmel, wie mit uns Bauern umgesprungen wird!« Er ballte die verarbeitete Faust. »Habt ihr schon vergessen? Mitten in der Heuernte haben uns die Pfaffen ihre Gärten jäten lassen – die faulen Fresser! Derweil ist uns das Heu auf den Wiesen verfault...«
Die beiden anderen jungen Männer, die bis jetzt noch keinen Ton gesagt hatten, hoben die Köpfe. »Als unser Vater damals vom Baum erschlagen wurde«, sagte der eine von ihnen, »da hat unsere Mutter alle Hab abgeben müssen. Unser gnädiger Herr Abt«, er spuckte das Wort förmlich aus, »hat ihr den Todfall nicht erlassen.«
»Obwohl er wusste, dass er uns damit ins Elend stößt«, fügte der andere hinzu. »Unsere Mutter hat’s nicht überlebt – das wisst ihr alle.«
»Und wenn uns der Hannes nicht aufgenommen hätt ...«
»Versteht sich von selbst.« Der Flachshaarige ließ seine Faust noch einmal auf die eichene Tischplatte knallen. »Es geht doch nicht darum, Gottes Ordnung umzustoßen. Gerechtigkeit – das ist es, was wir wollen. Nichts mehr als nur Gerechtigkeit!«
Der Reiter nickte. »Mit der Gerechtigkeit ist es wie mit der Liebe«, sagte er ernsthaft, »beide braucht man zum Leben. So lehrt es der Doktor Luther in Wittenberg.«
Er warf der Wirtstochter, die unbeweglich beim Herd stand, einen funkelnden Blick zu. Hannes Rebmann riss den Mund auf. »Ihr habt den Doktor Martinus gesehen«, fragte er staunend, »leibhaftig ...?«
»Leibhaftig«, bestätigte der Reiter. »Er predigt ebendas, was Ihr gerade ausgesprochen habt. Nicht Gottes Ordnung soll aus den Angeln gehoben werden, nein. Denn Gottes Ordnung lautet anders als die der Menschen.«
Der mit dem fuchsigen Bart stieß einen Schnaufer aus. »Ich hab es immer gewusst«, sagte er, »und ihr spürt es doch auch, Brüder.« Seine blauen Augen leuchteten schwärmerisch. »Es muss sich etwas ändern ...«
Die Tochter des Wirts war unter dem Blick des Reiters blutrot geworden und wandte sich hastig ab. »Du sagst es, Simon«, sprach sie den Rotbart an, »es muss sich was ändern, und ich richte jetzt das Essen. Damit ihr zu kauen habt und nicht mehr solche gefährlichen Reden führt.«
»Ja, meint Ihr denn, Jungfer Anna, dass man denen, die nach Gerechtigkeit rufen, nur mit Essen das Maul stopfen muss?« Der Reiter suchte den Blick des Mädchens. »Glaubt Ihr, es geht dem Volk einfach darum, sich den Bauch zu füllen?«
Doch die Wirtstochter stellte sich ihm nicht. »Wer weiß das schon so genau?«, antwortete sie ausweichend und nahm eine eiserne Pfanne vom Wandhaken. »Es würde jedenfalls helfen ...«
»Zum Donnerwetter«, polterte Hannes Rebmann, »wir wollen mehr als nur genug zu essen. Euch Weibern mag das ja reichen – aber wir Männer ...«
Die Wirtstochter stellte die Pfanne auf den Dreifuß über den lodernden Flammen und tat aus einem Steinzeugtopf Schmalz hinein. Es zischte. »Ihr Männer«, sagte die Wirtstochter abfällig, »ihr solltet uns Weibern öfter zuhören.« Sie schnitt eine Zwiebel in das rauchende Bratfett, rührte mit einem hölzernen Löffel um, wandte sich dabei von der Pfanne ab und wischte sich über die Augen.
»Siehst du, Annelies«, frotzelte Hannes Rebmann, »jetzt musst weinen. Gut, dass du deine unüberlegten Worte so schnell bereust!«
Die jungen Männer am Tisch lachten. Die beiden Alten begnügten sich mit einem knappen Schmunzeln. »Tu noch Speck dazu«, befahl der Wirt seiner Tochter, »und schwatz nicht so viel. Weiber sollten sich vor allem sehen lassen und nur reden, wenn sie gefragt werden.«
Er schlurfte zu seinen Gästen an den Tisch und schenkte ihnen frisches Bier in die Becher. Den widerspenstigen, zornigen Blick, den seine Tochter ihm nachschickte, bemerkte nur der Reiter.
Ein kleines Lächeln blitzte in seinen Augen auf, während er ihr beim Hantieren am Herd zusah. Sie hatte jetzt nur noch Augen für die Pilze, von denen der kleinere Teil in ihrer Pfanne schmorte und mittlerweile einen köstlichen Duft verbreitete. »Was werdet Ihr mit der übrigen Ausbeute anfangen?«, sprach der Reiter sie an.
»Wegwerfen werde ich sie ganz bestimmt nicht«, kam ihre abweisende Antwort, »und die Mönche sollen sie auch nicht kriegen.«
»Also – was tut Ihr dann damit? Spart Ihr sie auf für morgen?«
Sie wandte ihm kurz das Gesicht zu, das von der Hitze des Feuers ganz rosig schimmerte. In ihren Augen flackerte der Flammenschein, als sie antwortete: »Unsere Schweine sollen auch einmal ein Festessen bekommen ...«
»Das kann doch nicht Euer Ernst sein!« Der Reiter war ehrlich betroffen. »Herrenpilze für die Schweine – wo hat man je so etwas gehört!«
Sie rollte die Augen. »Jetzt ist es heraus«, spottete sie, »Ihr seid ein Dummkopf. Was werde ich schon mit so schönen Steinpilzen tun? Ich trockne sie natürlich – damit wir im Winter auch manchmal etwas Köstliches im Topf haben!«
»Ach so.« Er atmete auf, suchte ihren Blick festzuhalten. Doch sie gönnte ihm keinen weiteren Augenblick ihrer Aufmerksamkeit. »Wenn Ihr Euch genug aufgewärmt habt«, sagte sie, »dann setzt Euch endlich an den Tisch zu den anderen und stört mich nicht bei der Arbeit!«
Er wollte etwas erwidern. Ein leises Klopfen, eher ein Kratzen, das von der Haustür herkam, lenkte ihn davon ab. »Mir scheint, da kommen noch mehr Gäste«, murmelte er. »Eure Schenke ist wohl recht beliebt.«
»Schenke?« Sie rührte in ihrer Pfanne, ohne ihn anzusehen. »Dies ist keine Schenke.«
»Aber Ihr sagtet doch ...«
»Mein Vater braut das beste Bier am Ort«, widersprach sie ihm. »Die Nachbarn kommen gern, um hier ihre Krüge füllen zu lassen oder einen Becher bei uns zu trinken.«
»Aber ...«
»Und Ihr könnt gern unter unserem Dach übernachten«, schnitt sie ihm die Rede ab. »Mein Vater hat Euch ja schon aufgenommen.«
Der Reiter schüttelte den Kopf. »Ich dachte ...«, begann er.
»Das lasst lieber bleiben«, unterbrach sie ihn ein zweites Mal, »denn Ihr versteht nicht viel davon. Nun setzt Euch endlich zu Tisch – das Essen ist gleich fertig!«
Er holte tief Luft. Doch bevor er etwas sagen konnte, klopfte es erneut, und diesmal dringlicher. Sie warf kopfschüttelnd einen Seitenblick auf die Tür. »Kommt doch herein«, sagte sie, »wir haben nicht abgesperrt!«
Die Klinke bewegte sich, die Tür schwang langsam auf. Aus der Dunkelheit trat mit unsicheren Schritten eine Gestalt in die Stube – ein ausgemergelter Mann von dreißig oder fünfunddreißig Jahren, dessen blasses Gesicht mit Schweißperlen übersät war. Seine Augen, dunkel umschattet, lagen tief in den Höhlen, als habe er lange nicht mehr geschlafen; seine ärmliche Kleidung war zerrissen, und er schlotterte am ganzen Leibe.
»Matthias!« Das Mädchen starrte den Mann erschrocken an. »Um Gottes willen – was gibt es denn?«
Der Mann torkelte in den Raum herein, schwankte, brach in die Knie. »Ich ... suche meine Kinder ...«, stammelte er, »habt ihr sie gesehen ... ?«
»Deine Kinder?«, fragte der Hausvater. »Ich dächte doch, die hätten Besseres zu tun, als sich nächtens herumzutreiben. Zumal dein Weib –«
Matthias ließ den Kopf auf die Brust sinken und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Kein Laut kam über seine Lippen, aber seine zuckenden Schultern verrieten, dass er weinte.
Mit zwei Schritten war der Hausvater bei ihm und zog ihn vom Boden hoch. »Was ist geschehen?«, wollte er wissen. »Erzähle, Matthias – warum suchst du deine Kinder bei uns?«
Der Mann nahm seine Hände noch nicht vom Gesicht. Es dauerte einen Augenblick, bevor er in der Lage war, zu sprechen. »Sie ... sie sind fortgelaufen in der Angst ...«, stammelte er schließlich und wischte sich mit einer halb wütenden, halb resignierten Bewegung über die nassen Augen. Seine Finger hinterließen blutige Schmieren in seinem Gesicht.
Der Hausvater sah es mit Schrecken. »Du hast ja ganz blutige Hände, Matthias«, sagte er fassungslos. »Rede doch endlich! Wovor haben sich deine Kinder gefürchtet?«
Matthias räusperte sich, senkte wieder den Kopf. »Der Vogt war da«, erwiderte er mit tränenrauer Stimme, »hatte fünf Mann bei sich und wollte den Zehnten eintreiben ...« Er hielt einen Moment inne, zuckte die Achseln. »Aber ihr alle wisst es ja selbst – meine Ernte ist mir dies Jahr auf dem Halm verdorben. Ich hätt nichts abgeben können ...«
»Und da haben sie dir das genommen, was du für die Deinen brauchst.« Der Hausvater nickte und zog die Stirn in tiefe Falten. »Ist es das?«
Matthias schüttelte den Kopf. Ein wildes Schluchzen, das er diesmal nicht unterdrücken konnte, entrang sich ihm. »Wenn es nur das wär«, flüsterte er, »wenn es nur das wär ...«
Der Hausvater legte den Arm um ihn. »Sorg dich nicht, mein Lieber«, versuchte er zu trösten, »deine Kinder tauchen schon wieder auf – die sind doch alle nicht dumm. Besonders dein Ältester ist ein kluger Bursche. Der bringt die Kleineren wieder nach Hause, sobald die Klosterknechte weg sind. Und was deine Nahrung betrifft ...«, er sah sich zu seinen Gästen um, »da wird sich Rat finden. Es wär nit das erste Mal, dass einer Hilfe braucht.«
Über Matthias’ eingefallenes Antlitz strömten plötzlich neue Tränen. »Mein Junge«, flüsterte er, »den haben die Knechte ...« Er kam nicht mehr weiter. Mit aufgerissenen Augen, aus denen jetzt unaufhörlich Tränen stürzten, starrte er seine Hände an. »Und da sind die Kleinen ... weggerannt ...«, fügte er zitternd hinzu.
»Sie haben deinen Jungen verwundet?«, fragte der Hausvater ungläubig, »einen, der noch keine dreizehn ist? Wie schwer ist er verletzt?«
Matthias, der bis jetzt am Boden gekniet hatte, versuchte wieder auf die Beine zu kommen. »Ihm kann keiner mehr helfen«, sagte er tonlos. »Ihm nicht ... und mir nicht ...«
Anna Elisabeth sah ihn entrüstet an. »Und deine Frau ist jetzt ganz allein mit der Leiche? Du hättest nicht weggehen dürfen, Matthias – nicht so kurz vor ihrer Niederkunft!« Sie raffte ihr Umschlagtuch von der Wand und warf es sich um die Schultern. »Ich gehe hinüber zur Barbara, Vater, und leiste ihr Beistand. Ihr werdet schon noch ein Weilchen auf das Essen warten müssen.« Ihre Stimme hatte fest und sehr entschlossen geklungen. Mit einem Ruck zog sie die Pfanne vom Feuer und wollte zur Tür. Doch Matthias hielt sie am Rock fest. »Die Barbara hat mich verlassen«, sagte er mit blassen Lippen, »schon heute früh ...«
»Was soll das heißen?« Anna Elisabeth machte sich unwillig von ihm los. »Das glaubst du doch selber nicht. Nie würde die Barbara –«
»Sie hat’s nicht überlebt«, flüsterte er, während seine Augen sich in nachträglichem Entsetzen noch weiter öffneten. »Sie ist gestorben – einfach so, mitsamt dem neuen Kind. Die alte Margrethe hat ihr beigestanden, aber helfen hat sie ihr auch nicht können. Und als die Klosterknechte meine Barbara auf der Bahre sahen, haben sie gleich den Todfall eingefordert.« Die Worte sprudelten jetzt aus ihm heraus, er hob die Stimme. Sie klang schrill und wuterfüllt. »Für die Barbara forderten sie die Kuh. Und das Schwein haben sie für das Kleine aus dem Koben geholt. Aber mein Matthias, mein lieber Junge –«, er reckte sich und hob die geballte Faust, »der wollt’s ihnen verwehren. Ist’s nicht genug damit, dass meine Mutter tot ist, hat er geschrien und die Knechte mit der Forke angegriffen ...«
Seine Stimme brach. Er sackte von neuem auf den Steinplatten des Bodens zusammen. Es war totenstill geworden im Raum.
Der Hausvater war der Erste, der sich fasste. Er beugte sich zu seinem Nachbarn nieder und streichelte ihm mit rauer Zärtlichkeit über das wirre Haar. Dann ergriff er Matthias’ Hände. »Komm, steh auf«, sagte er sanft, »der Michel soll deine Kinder suchen, und du bleibst hier bei uns. Das Essen reicht für alle. Und es hat keinen Sinn, dass du weiter durch die Nacht irrst. Später, wenn du dich satt gegessen und aufgewärmt hast, gehen ein paar von uns mit dir hinüber zur Barbara und deinen toten Kindern. Die Totenwache sollst du nicht allein halten – hörst du?«
Matthias erschauerte. Dann, wie ein Schlafwandler, ließ er sich aufhelfen und an den Tisch führen.
Der Hausvater drückte ihn auf die Bank nieder. Anna Elisabeth stand noch in ihrem Umschlagtuch. Sie hatte augenscheinlich Mühe zu begreifen, was geschehen war, und kam erst ganz allmählich wieder zur Besinnung. Dann endlich nahm sie mit müden Bewegungen das Tuch von den Schultern, hängte es auf und machte sich mechanisch daran, das Pilzgericht fertig zu kochen, während ihr Träne für Träne über die Wangen rollte.
Der Reiter hatte wie die Männer am Tisch stumm beobachtet. Nun sprach er die Tochter des Hauses an. »Die junge Frau war wohl Eure Freundin?«, fragte er teilnahmsvoll.
Anna Elisabeth streifte ihn flüchtig mit einem Seitenblick aus tränennassen Augen. »Ich kenne niemanden, dem sie nicht Freundin war«, erwiderte sie tonlos. »Wollt Ihr Euch nicht endlich zu Tisch setzen und mich in Ruhe lassen?«
Der Reiter schluckte schwer an dieser unmissverständlichen Abfuhr. Verlegen nestelte er am Koller seiner Gugel herum, zog sich schließlich das Kleidungsstück über den Kopf und streifte es ab. Erst dann fand er Worte. »Sagt, Jungfer Anna – was missfällt Euch so sehr an mir?«
Ihre Antwort kam schnell. »Ihr könnt nicht schweigen«, sagte sie, »nicht einmal in einem solchen Augenblick. Und was Ihr sagt, das hat einen geckenhaften Klang – als wolltet Ihr Euch nicht nur über mich, sondern auch über alle Welt lustig machen.«
Sie hatte ihn voll angesehen, und er begegnete dem Blick ihrer dunklen Augen mit großer Verwirrung. »Aber um Gottes willen«, begann er zögernd, »Jungfer ... ich ...«
»Lasst Gott besser aus dem Spiel«, fuhr sie ihm in die Rede, »der steht über uns allen. Selbst über einem, der in einem wohlhabenden Bürgerhaus geboren ist.«
»Ihr meint ... einem wie mich?« Tief in seinen Augen irrlichterte es, auch wenn seine Miene Anspannung verriet.
»Ganz recht.«
»Und woraus schließt Ihr, dass das Haus, dem ich entstamme, wohlhabend ist?« Er schaute auf seine Stiefelspitzen hinab und suchte dann wieder ihren Blick. »Spricht nicht der Augenschein dagegen?«
Sie hielt stand. »Euer Schuhwerk mag schadhaft sein«, widerlegte sie ihn, »doch Euer Benehmen – das verrät Euch.«
Er räusperte sich, senkte den Kopf. Sein blondes Haar fiel ihm tief in die Stirn und verbarg seine Betroffenheit. Doch der Augenblick seiner Verwirrung dauerte diesmal nur einen Herzschlag. Dann richtete er sich auf und strich mit einer heftigen Bewegung die Strähnen aus dem Gesicht. »Ihr unterstellt mir eine Haltung, die ich keineswegs einnehme«, gab er zurück. »Ihr selbst seid, was Ihr mir vorwerft, Jungfer – hochmütig.«
Sekundenlang war Anna Elisabeth sprachlos. Mit großen Augen starrte sie den Reiter an, der eben etwas so Ungeheuerliches ausgesprochen hatte, und wusste nichts zu erwidern. Und mit einem Mal wurde ihr auch bewusst, dass die Männer am Tisch ihr Gespräch mit dem Fremden verfolgt hatten und gespannt auf ihre Antwort warteten.
Sie holte tief Luft. »O nein«, sagte sie, »jeglicher Hochmut liegt mir fern. Nur ... wenn einer sich aufführt wie ein Herr ... und ist doch keiner ... dann geht mir die Galle über!«
»Wacker zurückgeschlagen!« Der junge Bauer mit dem roten Bart lachte. »Das ist meine Annelies«, sagte der Mann namens Hannes und grinste. »Die weiß sich zu wehren ... !«
Der Hausvater runzelte die Stirn, während er den Arm fest um die Schultern des armen Matthias legte. »Mir geht die Galle auch über«, knurrte er mit unterdrücktem Groll. »Du beschuldigst diesen Reisenden, zu viel zu reden, und kannst selbst den Mund nicht halten. Unter meinem Dach sind ehrliche Männer willkommen. Alle – außer Edlen oder Pfaffen.«
Im Gesicht des Reiters zuckte ein Muskel.
»Vater, was ich sagen wollte«, lenkte Anna Elisabeth ein, »das war lediglich ...«
Doch der Hausherr ließ sie nicht ausreden. »Ich dulde es nicht, dass mein eigen Fleisch und Blut einen Gast beleidigt, den ich aufgenommen habe«, sagte er abschließend. »Wo bleibt das Essen?«
Damit war für ihn der kurze Disput abgetan. Doch seine Tochter sah es anders. Mit kurzen, heftigen Bewegungen rührte sie den Inhalt der Pfanne um – nicht, ohne dem Reiter einen letzten, zornig glühenden Blick zuzuwerfen. »Es ist fertig«, sagte sie knapp.
»Dann trag auf, Tochter«, sagte der Hausvater, jetzt wieder in milderem Ton. »Vergiss nicht, auch Matthias einen Löffel zu geben. Er hat bestimmt heute noch nichts zu beißen gehabt.«
Die Haustür ging auf. Herein kam der spindeldürre Junge, der das Pferd des Fahrenden versorgt hatte. In seinem Kielwasser folgten vier Kinder, zerlumpt, frierend, barfüßig und alle noch unter zehn Jahre alt.
Matthias, der sich umgesehen hatte, stand schwankend von seinem Platz am Tisch auf. »Gelobt sei der Allmächtige«, stammelte er mit rauer Stimme, »ihr seid da – und es geht euch gut...«
»Wir sind einfach zum Michel«, sagte eins der Kinder, ein etwa fünfjähriges kleines Mädchen mit dünnem blondem Haar. »Beim Michel in der Scheune, da ist es dunkel. Da hätten sie uns nie gefunden.«
Die Kleine nickte ernsthaft. Ihr Bruder, vielleicht acht Jahre alt und ebenso blond, bestätigte die Worte seines Schwesterchens. »Ja. Aber ich schnitz mir einen Bogen«, sagte er, während Tränen sich in seinen Augen sammelten. »Ich hol unsere Kuh zurück, Vater – kannst dich auf mich verlassen ... !«
»Unser Schwein auch«, piepste das Jüngste, ein Mädchen, das höchstens drei Jahre alt sein konnte. »Wir gehen zum Kloster und schießen den Vogt tot, hat der Martin gesagt. Nicht, Martin?« Sie zupfte ihren Bruder am Ärmel. »Und der Michel kommt mit – und ich, und die Gertrud. Nur der Mattheis nicht ...«
»Ach, mein Schätzchen!« Der Vater der Kinder ließ sich auf die Knie nieder und umfing sein Jüngstes mit beiden Armen. »Du hast ja ganz kalte Finger...« Er drückte das kleine Mädchen an sich. »Die Annelies, die gibt dir ein bisschen zu essen – dann wird dir warm ...«
Die anderen Männer, die am Tisch gesessen hatten, erhoben sich. »Dank für den Abendtrunk, Ohm«, sagte der mit dem roten Bart, »wir gehen nach Hause zu den Unsrigen. Wenn wir unser Nachtmahl verzehrt haben, treffen wir uns beim Matthes.« Er sah Hannes an. »Du kommst nach?«
»Das versteht sich.« Hannes schob das Kinn vor. Auch er war aufgestanden. »Ich ess daheim ein Stück Brot und Speck«, sagte er und warf einen mitleidigen Blick auf die zerlumpte kleine Gesellschaft, die sich um ihren Vater geschart hatte. »Damit hier für die Kinder genügend übrig ist ...«
Alle stapften hinaus in die Nacht. Der Hausvater ließ sie mit einem Nicken schweigenden Einverständnisses gehen. Hannes war der Letzte. Er wollte sich mit einer Umarmung von Anna Elisabeth verabschieden, doch sie wich seiner Berührung aus. »Nicht, Hannes«, sagte sie, während sie sich abrupt abwandte. »Dies ist kaum der rechte Augenblick.«
Er ließ die Arme sinken. Im Hinausgehen warf er ihr einen Blick zu, der Überraschung und völlige Verständnislosigkeit zu erkennen gab. »Dann wünsch ich dir eine gute Nacht, Anne- lies«, sagte er leise, »und dass du dich morgen wieder besser fühlst, mein Mädchen.«
Die Tür schloss sich hinter ihm. »Sagt, Jungfer«, fragte der Reiter, »wird es wirklich für alle reichen? Wo nicht, kann ich mich leicht mit einem Stück Brot begnügen – und einem Becher von Eurem guten Bier.«
Er hatte sich zu seinem Mantelsack niedergebeugt, ihn aufgeschnallt und einen kleinen irdenen Napf herausgenommen, dazu einen Zinnlöffel und einen Becher aus dem gleichen Metall. Anna Elisabeth hatte ihm zugesehen. Auf seine Frage nickte sie zuerst. Dann verzog sie spöttisch den Mund. »Ich sehe«, sagte sie, »Ihr seid auch, was Eure Ausstattung betrifft, durch und durch ein rechter Herr.«
»Heißt das, ich kann etwas von Eurem Pilzgericht für mich beanspruchen?« Er hatte ihre Bemerkung anscheinend überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, sondern rieb seinen Becher am Ärmel ab und prüfte, ob er sauber war.
»Ganz recht«, erwiderte Anna Elisabeth, »und sogar ein Stück Brot dazu – wie auch einen Schluck Bier.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Oder erwartet Ihr etwa Wein?«
Er hob den Kopf und sah sie erfreut an. »Ihr habt Wein in Eurem Keller? Das hätte ich mir kaum träumen lassen!«
Anna Elisabeth schüttelte den Kopf – nicht verneinend, sondern ungläubig. »Wie könnt Ihr so etwas ernsthaft annehmen?«, fragte sie.
»Aber ...« Einen Wimpernschlag lang begriff der Reiter nicht. Dann kam ihm die Erleuchtung. »Um Vergebung«, murmelte er, »ich bin müde von der langen Reise. Da vergeht einem das Denken, und der Verstand schläft ein.« Er hielt ihr den Napf hin. »Nur ein wenig, wenn ich bitten darf. Auch ich will nicht, dass die Kinder hungern.«
Wortlos füllte Anna Elisabeth ihm seine Schüssel, schnitt eine dicke Scheibe für ihn von dem Brotlaib ab, den sie aus dem Vorratskasten genommen hatte, und füllte seinen Becher mit Bier. Während er sich zum Essen auf den Herdrand setzte, nahm sie bei ihrem Vater, dem armen Matthias und den Kindern am Tisch Platz, wo alle gemeinsam mit Holzlöffeln aus der Pfanne aßen. Gesprochen wurde nicht. Niemandem stand der Sinn danach.
Als alles aufgezehrt war, wandte sich Anna Elisabeth an ihren Vater. »Die Kinder sollten über Nacht bei uns bleiben«, bestimmte sie. »Hier haben sie es warm, wenn der Michel ihnen neben dem Herd eine Strohschütte bereitet, und der Gast könnte ja auf der Bank schlafen.« Sie warf dem Reiter einen Seitenblick zu. »Falls ihm der Heuschober nicht bequem genug ist...«
»Ein Platz im Stall bei meinem Pferd reicht mir vollkommen zum Nachtlager«, sagte der Reiter. »Und mit Verlaub, Jungfer Anna – das Pilzgericht, das Ihr zubereitet habt, war von überaus köstlichem Wohlgeschmack. Ich danke Euch sehr dafür.«
Sie fühlte sich gemaßregelt. Doch seine Worte boten ihr keinen Anhaltspunkt zu einer bissigen Erwiderung. »Bitte«, sagte sie steif und drehte ihm den Rücken zu.
Ihr Vater nickte und nahm dann Matthias beim Arm. »Du wirst sicher auch nicht wollen, dass deine Kleinen diese Nacht bei dir daheim ...?«, begann er zögernd.
»Nein, nein.« Matthias zitterte von neuem. »Ich wollte dich und deine Tochter selbst darum bitten, die Kinder heut bei dir aufzunehmen. Was gescheh’n ist, bekommen sie noch früh genug zu spüren ...« Er stand auf. »Dank dir, Joseph, für deine Güte. Gott vergelt’s dir tausendfach ...«
»Lass gut sein und komm nun«, sagte der Hausvater. »Die anderen werden schon warten. Wir wollen deine Barbara und deine beiden anderen Lieben nicht länger als nötig unversorgt lassen. Der Pfarrer war doch sicherlich schon da?«
Matthias wischte sich über die Augen. »Nein«, antwortete er. Seine Stimme klang erstickt. »Der Pfaffe sagte, weil ich nicht bezahlen kann, kommt er auch nicht zum Versehen.«
»Was?« Der Hausvater richtete sich steil auf. »Wann war das?«
»Heute morgen – als es mit der Barbara zu Ende ging ...«
»Heißt das, dein Weib ist ohne Beichte hinübergegangen?«
Matthias nickte bekümmert. »Aber mit mir hat sie noch gebetet«, flüsterte er. »Martinus Luther sagt, jeder aufrechte Christ kann unserm Herrgott seine Sünden selbst vortragen, und es braucht keinen Priester, damit Gott uns vergibt ...«
»Und damit hat der Doktor Luther Recht«, sagte der Reiter. »Nirgendwo steht geschrieben, dass zur Vergebung der Sünden ein Priester nötig ist.« Er erhob sich vom Herdrand und kam langsam an den Tisch. »Seid ohne Furcht, guter Mann«, sprach er Matthias direkt an, »Eure Verstorbenen sind in Gottes Hand – auch ohne den Segen der Kirche.«
»Drauf setz ich meine ganze Hoffnung.« Matthias sah den Reiter mit müden Augen an. »Aber Ihr ... wie könnt Ihr so sicher sein? Wer seid Ihr?«
Anna Elisabeth mischte sich ein. »Er ist Albrecht Hund aus Schwarzental«, antwortete sie für den Reiter. »Er behauptet, er hat diesen Doktor Luther schon selbst gesehen. Ist es nicht so?«
Sie heftete den Blick forschend auf das Gesicht des Reiters. Doch der verzog keine Miene. »Ja, ich habe ihn predigen gehört und seine Schriften gelesen«, sagte er gelassen. »Was er sagt, das spricht mir aus der Seele – und vielen anderen ebenfalls.«
»Komm, Matthias«, wiederholte der Hausvater noch einmal und stand auf. Er zog den Unglücklichen am Arm mit sich zur Tür. »Was auch immer der Pfaffe heute gesagt hat – morgen wird er deine Toten nach Fug und Recht auf dem Gottesacker zur Ruhe betten. Mit allem, was dazu gehört. Und sollte er sich noch einmal weigern, seine Pflicht zu tun, dann zerre ich ihn persönlich aus seinem Betstübchen. Darauf kannst du dich verlassen!«
Matthias folgte ihm mit schleppenden Schritten. »Gottes Segen über dein Haus, Joseph«, murmelte er, als er mit seinem Nachbarn die Stube verließ.
Nun war Anna Elisabeth mit den Kindern und dem Fremden allein. Sie schickte den Michel hinaus, um Stroh zu holen, und der Junge, der den Reiter die ganze Zeit neugierig beobachtet hatte, ging widerwillig. Schneller als erwartet war er wieder da – mit einem riesigen Bündel, das er eilfertig neben dem Herd auseinander zerrte und zu einem Lager ausbreitete. »Gut so?«, wollte er anschließend wissen.
Anna Elisabeth kam seinem Wunsch nach Lob entgegen. Sie nickte. »Kannst es dir mit den Kleinen schon mal darauf gemütlich machen«, sagte sie. »Ich zeig dem Gast den Stall.«
Sie nahm eine Sturmlaterne, die in der Ecke neben der Kellertür auf dem Boden gestanden hatte, steckte ein neues Unschlittlicht hinein und zündete den Docht an. Dann winkte sie dem Reiter. »Wenn Ihr mir folgen wollt«, meinte sie knapp.
Der Reiter schulterte seinen Mantelsack und kam ihrer Aufforderung nach. Der Stall, ein Anbau hinter dem Haus, bot nur einen einzigen Raum, in dem jedoch kein Vieh zu stehen schien. An seinem hinteren Ende gab es lediglich einen Koben, der mehreren Schweinen zur Unterkunft diente. Vorn neben dem Eingang stand der große Falbe angebunden und rupfte gemächlich Heu aus einer Raufe.
Anna Elisabeth deutete auf eine Leiter, die zum Heuboden führte. »Da oben ist es recht gemütlich, wenn Ihr Euch ins Heu eingrabt«, sagte sie, plötzlich mit Verlegenheit in der Stimme. »Etwas Besseres kann ich Euch nicht bieten – selbst wenn ich möchte.«
Er lächelte. »Möchtet Ihr wirklich?«, fragte er leise.
Sie antwortete nicht. Mehrere Atemzüge lang herrschte Stille. Dann holte sie tief Luft. »Ich wünsche Euch eine ruhige Nacht«, sagte sie frostig. »Morgen früh schicke ich den Jungen, um Euch zu wecken.«
»Warum?«, wollte er wissen. »Glaubt Ihr, ich mache mich heimlich davon, ohne zu zahlen?«
Sie schnaufte. »Es ist Sitte bei uns«, erwiderte sie, »einen Gast nicht ohne Frühstück wieder auf die Reise zu schicken. Darum ... Herr Albrecht Hund aus Schwarzental.«
»Meinen Namen habt Ihr jedenfalls gut in Eurem Gedächtnis untergebracht«, sagte er lächelnd in der Dunkelheit.
Sie warf den Kopf zurück. Hastig stellte sie die Sturmlaterne hin und wollte gehen, doch ihr Schuh verfing sich in einem Strick, der am Boden lag. Sie strauchelte. Der Reiter fing sie gerade noch auf, bevor sie fallen konnte.
Er zog sie an sich. Für einen Augenblick lag sie an seiner Brust, und er spürte ihre Wärme durch den groben Stoff ihres Gewandes. Ihr Haar berührte seine Wange. Aus dem Ausschnitt ihres weißen Hemdes stieg ihr Geruch auf – ein Duft nach Kräutern und Wald und junger Haut. Sie atmete heftig. Aber lange hielt sie nicht still. Nur wenige schnelle Herzschläge, dann riss sie sich los und stürmte hinaus.