Der junge Kleriker, der eben hereingeführt worden war und jetzt etwas unsicher und verlegen in der Tür stand, machte einen hungrigen Eindruck. Er war ausgesprochen mager, seine Wangen wirkten sogar regelrecht eingefallen. Seine Augen hatten diesen Glanz, den man nur bei Menschen findet, die oft mit leerem Magen zu Bett gehen. Seine Kleidung unterstrich noch seine Armut: fadenscheinig, abgeschabt und von unbestimmter Farbe der wollene Mantel, dünn und ausgefranst die Gugel, zerlöchert, ja, beinahe irreparabel zudem die Beinkleider, die seine dünnen Beine umschlossen. Doch sein Blick war der eines aufmerksamen kleinen Raubtiers – eines Wiesels vielleicht, eines Marders oder Fuchses. Seinen grüngrauen Augen schien nichts zu entgehen – keine Einzelheit des Zimmers und keine Bewegung seines Gegenübers.

Albrecht musste ein Schmunzeln unterdrücken. »Ihr seid ein begabter Zeichner und Schreiber?«, begann er, während er den Besucher von oben bis unten musterte.

Der junge Kleriker verzog den Mund zu einem etwas asymmetrischen kleinen Lächeln. »Sagt man so?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.

»Ganz recht«, meinte Albrecht. »so sagt man. Außerdem auch, dass Ihr ein recht genialer ... Erfinder ... seid.«

»Damit hat es seine Richtigkeit«, gab der Kleriker zurück. »Seid Ihr an Belagerungsmaschinen interessiert – oder an Wasserspielen, oder an –«

»So etwas hat meine Neugier noch nie gereizt«, winkte Albrecht ab. »Es geht mir um völlig andere Dinge.« Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar, das sich bei dem feuchten Wetter ungebärdig lockte. »Versteht Ihr Euch auf das Zeichnen von ... Stammtafeln?«

Der junge Mann verstand sofort. In seinen Augen blitzte ein listiger Ausdruck auf. »Ihr meint das Entwerfen von ... ?«

»So ist es«, unterbrach ihn Albrecht und heftete den Blick erwartungsvoll auf das Fuchsgesicht seines Gastes. »Brächtet Ihr so etwas zustande?«

»Aber ja«, bestätigte der Kleriker mit einem weiteren, etwas anzüglichen Lächeln. »Eine sehr angenehme Beschäftigung, die mir – mit Verlaub – besonders viel Freude macht.«

»Warum das?«

»Weil sie all meinen Erfindungsreichtum fordert.«

»Das ist gut«, sagte Albrecht. »Und könnt Ihr Eure ... Erfindungen ... auch für Euch behalten?«

Der Scholar legte den Kopf schief. Seine Augen funkelten. »Sicherlich«, erwiderte er langsam, »es ist alles eine Frage des Preises.«

An Selbstbewusstsein mangelte es diesem Kerl ja nicht. Andererseits schien er nicht viel mit seinen Künsten zu verdienen. Albrecht war belustigt. »Und wie viel würdet Ihr für eine Genealogie verlangen?«, fragte er vorsichtig.

»Das kommt ganz darauf an.«

»Worauf?«

»Wollt Ihr Euch von Eurer Gemahlin trennen?«, fragte der Scholar. »Müsste ich Euren Stammbaum so weit ändern, dass Ihr mit Eurer Gemahlin zu nah verwandt seid und darum Eure Ehe einfach anullieren lassen könnt?«

Albrecht schluckte. »Aber nein«, sagte er verwundert. »Wird so etwas oft verlangt?«

»Öfter als man meinen sollte«, erklärte der Kleriker nüchtern. »Was nun Euch betrifft – hält etwa Euer Stammbaum ... verzeiht, mir Herr ... hält er einer genauen Prüfung nicht stand? Und soll ich daran etwas ... ändern?«

Albrecht konnte nicht anders – er musste lachen, obwohl ihn der Gedanke, den der Scholar gerade geäußert hatte, heftig empörte. »Bube«, sagte er, »so etwas denkt man nicht einmal von einem Wolf von Weißenstein – verstanden?«

»Ich bitte demütig um Vergebung«, murmelte der Scholar. Doch sehr erschrocken war er offenbar nicht, denn er fügte noch eine Forderung hinzu: »Wollet mir nun Euren Wunsch nennen, damit ich Euch meinen Preis nennen kann.«

Albrecht gab sich einen Ruck und sprach aus, was er von dem Scholar wollte. »Ich brauche einen völlig neuen Stammbaum – aber einen, der dennoch über jeden Zweifel erhaben ist. Sprecht die Wahrheit: Seht Ihr Euch imstande, mir so etwas zu liefern?«

Die Augen des jungen Klerikers glühten auf. »Ob ich dazu in der Lage bin?« Er beschrieb mit seinen dürren, knochigen Händen einen weiten Kreis. »Ich behaupte sogar, dass ich in deutschen Landen wohl der Einzige bin, der so etwas überhaupt fertig bringt! Aber billig ... billig bekommt Ihr es nicht, Herr. Dazu steckt zu viel Mühsal drin!«

»Was ich es mich kosten lassen will«, sagte Albrecht, »darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Er musterte den Scholar und versuchte, grimmig dreinzuschauen, obwohl es ihm schwer fiel. »An welchen Preis hättet Ihr denn gedacht?«

Das Scholar konnte Albrechts Blick nicht standhalten und wandte den Kopf zur Seite. »Mindestens Nachtlager und tägliche Nahrung müssen mir gewährt werden, solange ich daran arbeite«, sagte er langsam, »des Weiteren erwarte ich ein paar gute, solide Kleidungsstücke.« Er wagte es, Albrecht wieder anzusehen. »Ihr seht ja selbst, wie abgenutzt meine Ausstattung ist...«

Albrecht nickte. »Wohl wahr«, erwiderte er, »und da wird sich auch etwas machen lassen. Wie aber steht es mit Geld oder Geldeswert?«

Der Scholar schien überrascht. »Ich weiß nicht«, sagte er zögernd, »eigentlich bin ich immer nur in Naturalien entlohnt worden ... das ist besser als in barer Münze, die einem auf der Straße nur gestohlen würde ...«

»Nun – dann wird es sich finden«, sagte Albrecht. »Was für Material braucht Ihr für das Unterfangen?«

»Papier, Tinte, Federn ... was für ein Handschreiben nötig ist«, erklärte der Scholar. »In erster Linie aber müsstet Ihr mir unterbreiten, wie Ihr es gerne hättet und um welche Person es sich überhaupt handelt. Habt Ihr schon irgendwelche Vorstellungen?«

Albrecht überlegte kurz. Dann schüttelte er verneinend den Kopf. »Sie ist eine junge Frau bäuerlicher Herkunft«, sagte er gedankenverloren, »und ich möchte sie in den minderen Adelsstand erhoben sehen ...«

Der Scholar lächelte verschmitzt. »Obwohl ich glaube, es mir denken zu können, Herr – warum wollt Ihr das?«

»Was geht es dich an, Kerl?« Albrecht empfand diese Frage als ungebührlich. »Sie soll zur Edelfrau werden – das muss dir als Erklärung genügen!«

»Verzeiht, Herr – ich wollte nicht indiskret sein.« Der Kleriker kam schnell wieder zum Kern der Sache. »Habt Ihr denn schon an einen bestimmten Namen gedacht ... oder überlasst Ihr es mir, einen zu ersinnen?«

»Anna Elisabeth von Weiher«, sagte Albrecht. »Dieser Name würde mir gefallen ... aber ich bin offen für jegliche Vorschläge von Eurer Seite.« Er schenkte dem Scholaren ein Lächeln. »Verzeiht meine Ungeduld – und nennt mir nun auch Euren Namen. Ich weiß ja überhaupt nicht, wie ich Euch ansprechen soll.«

Der Scholar gab das Lächeln zurück und reckte die schmalen Schultern. »Heinrich«, sagte er, »nennt mich einfach Heinrich, Herr.«

»Kein Nachname?«

»Ich brauche keinen. Komme auch so zurecht, Herr.«

»Das mag durchaus sein.« Albrecht strich sich über das stoppelige Kinn. »Für einen aus dem Volk zählt der Name wohl nicht so viel.«

Der Kleriker lachte. »Das kommt ganz darauf an, aus welchem Teil des Volkes einer stammt«, sagte er. »Es gibt Bürger, deren Namen zählen heutzutage weit mehr als die so mancher Fürsten.«

»Ist das so?« Albrecht konnte es sich nicht vorstellen. »Welche sollten denn das sein?«

»Jakob der Reiche zum Beispiel«, murmelte Heinrich der Scholar, »der Fugger ...«

»Der Geldverleiher?«

»Der größte Handelsherr, den die Welt je gesehen hat«, widersprach der Scholar mit rollenden Augen.

»Aber der ist doch kein Bürger«, sagte Albrecht. »Soweit ich weiß, führt er einen Grafentitel ...«

»Der ihm für treue Dienste vom Kaiser verliehen wurde«, ergänzte Heinrich mit einem verschmitzten Grinsen. »Angefangen haben die Fugger als einfache Handwerker.«

»Zurück zum Thema«, sagte Albrecht ungehalten. »Wie werdet Ihr es anstellen?«

Heinrich schielte nach dem steinernen Fenstersitz. »Erlaubt Ihr, dass ich mich setze, Herr? Ich fühle mich ein wenig schwach, weil ich schon seit langem nichts Rechtes mehr im Magen habe ...«

Albrecht verspürte plötzlich auch Hunger. »Wir wollen uns einen Imbiss richten lassen«, sagte er und deutete auf die Fensternische. »Nehmt nur Platz, Heinrich. Und erklärt mir endlich, wie Ihr es fertig bringen wollt!«

Der Scholar ließ sich auf der gemauerten Sitzbank nieder, während Albrecht zur Tür ging und die Dienstmagd, die draußen den Korridor fegte, nach Speisen in die Küche schickte. Als er die Kemenate wieder betrat, fand er den Scholaren damit beschäftigt, die getäfelte und schön ausgemalte Holzdecke zu betrachten. »So wird es zustande kommen«, sagte er und deutete auf die bunten Fabeltiere, das verschlungene Rankenwerk und die fein ausgeführten Blumen der Deckenmalerei, »genau so frei erfunden und dennoch logisch und zusammenhängend.«

Albrecht wollte sich damit nicht zufrieden geben. »Wie?«, fragte er.

Heinrich der Scholar seufzte und grinste dann. »In jeder adligen Familie gibt es Nachkommen, die jung versterben«, sagte er. »Wenn man nun etwas tiefer in die Vergangenheit geht – vier, fünf Generationen etwa –, dann finden sich auch da Namen von Kindern, die nie erwachsen geworden sind. Von diesen nun lässt man einfach einige weiterleben, lässt sie heiraten und selber Kinder zeugen ... die man dann wiederum miteinander verbindet und sich fortpflanzen lässt ... und schon hat man –«

»O, du durchtriebener Fuchs!« Albrecht verschluckte sich beinahe an seinem Lachen. »Und natürlich wird niemand nachforschen, ob es damit seine Richtigkeit hat, denn die Namen sind ja tatsächlich in der Stammtafel vorhanden!«

»Ihr habt es erfasst, Herr«, sagte Heinrich gelassen. »Am einfachsten gelingt es mit weniger einflussreichen, dafür aber kinderreichen Familien, deren Stammsitz möglichst auch noch in einem entlegenen Teil des Reiches liegen sollte.«

»Versteht sich.« Der junge Kleriker schien sich ja wirklich allerbestens auszukennen. »Ihr habt solches schon einmal gemacht?«

»Noch nicht«, sagte Heinrich, »aber durchdacht habe ich es genauestens. Es muss gelingen – ohne Zweifel.«

»Das glaube ich auch.« Albrecht war überzeugt. Er schmunzelte. »Ihr geht sofort ans Werk, versteht Ihr? Wie schnell könnt Ihr damit fertig sein?«

»Das kann ich noch nicht genau sagen«, murmelte Heinrich. »Ich werde ja erst einmal in den Bibliotheken der hiesigen Klöster auf die Suche nach Stammtafeln gehen müssen. So etwas kostet Zeit...«

»Wie lange?«

»Einige Wochen ... vielleicht auch Monate ...«

»Ich gebe Euch acht Wochen«, sagte Albrecht, »nicht länger.« »Acht Wochen!« Der Scholar riss die Augen auf. »Das ist viel zu wenig Zeit, Herr. Es könnte ja sein, dass ich –«

»Acht Wochen.« Albrecht blieb unerbittlich. »Aber es soll Euer Schaden nicht sein, Heinrich.«

Die Magd brachte eine Schüssel mit Hafergrütze, mehrere Scheiben frisches Brot, einen Krug Bier und zwei Becher. Auf die stumme Handbewegung ihres Herrn stellte sie Speise und Getränk auf den kleinen Klapptisch vor dem Kamin und entfernte sich knicksend wieder aus dem Zimmer. Albrecht reichte dem Scholaren einen der beiden Löffel, die die Magd ebenfalls mitgebracht hatte. »Jetzt habt Ihr Gelegenheit, Euren Magen zu füllen«, forderte er seinen jungen Gast auf, »nutzt sie, und schnell – denn auch ich habe großen Appetit und bin ein starker Esser!«

Der Haferbrei war mit Salz und zerlassener Butter verfeinert. Darüber hinaus fanden sich noch Rosinen und sogar Spuren von Pfeffer in dem appetitlichen duftenden Mus. Der Scholar, ausgehungert wie er war, ließ sich nicht lange bitten und langte kräftig zu. Brei, Brot und Bier verschwanden in erstaunlich kurzer Zeit. Danach lächelten sich die beiden jungen Männer freundschaftlich an. »Nun, Heinrich ohne Namen«, sagte Albrecht, »da Euer Hunger fürs Erste gestillt ist, mögt Ihr Euch an die Arbeit machen. Und wenn Euer Entwurf fertig ist, verlange ich ihn zu sehen. Alsdann, sollte ich mich damit einverstanden erklären ...«

»Werde ich die Stammtafel auf ein Pergament übertragen und das Blatt so bearbeiten, dass niemand sein geringes Alter erkennen kann«, fiel ihm der Scholar in die Rede. »Das, lieber Herr von Weißenstein, habe ich schon zur Genüge praktiziert und beherrsche es deshalb in Perfektion.«

»Wisst Ihr, Heinrich, dass ich Euch mehr und mehr traue?«, meinte Albrecht und lächelte noch immer. »Ich glaube Euch tatsächlich inzwischen beinahe jede Eurer Behauptungen. Ist das nicht verwunderlich?«

»Wieso, Herr?« Heinrich fand das gar nicht. »Ich sage ja die Wahrheit. Nehmt mich beim Wort!«

»Und wie, wenn ich fragen darf, wollt Ihr aus einem neuen Pergament ein altes machen?«, erkundigte sich Albrecht mit einem belustigten Augenzwinkern.

Heinrich der Scholar kicherte wie ein kleiner Lateinschüler, dem es gelungen ist, seinem Mentor einen Streich zu spielen. »Nichts leichter als das«, sagte er, »ich nehme einfach die Dinge, die auch beim alten Pergament zu würdigem Aussehen geführt haben: Lampenruß, Fett, ganz gewöhnlichen Schmutz. Dazu walke ich das fertig beschriebene Blatt noch ein wenig an den Ecken, zerknicke es sanft, verschleiße es leicht mit meinen Fingernägeln ...«

»Euer Ruf ist berechtigt«, sagte Albrecht, inzwischen wieder ernst geworden. »Gebe Gott, dass Euer Werk meinen Zwecken dienlich sein und fördern kann, wozu ich es nutzen will. Ihr ahnt nicht, wie sehr mein Leben davon abhängt ...«

»Von einem falschen Stammbaum?«, fragte Heinrich erstaunt. »Aber Ihr sagtet doch, Ihr selbst hättet nichts zu fürchten ...«

Albrecht winkte ab. »Lasst gut sein, Heinrich. Ihr würdet kaum verstehen, was ich meine. Gebt Euer Bestes, Fälscher – hört Ihr? Ich will es Euch vergelten, so reich ich kann.«

Damit war der Scholar für den Augenblick entlassen. Er verneigte sich und wollte mit einen zögernden Gruß den Raum verlassen.

»Lasst Euch von der Beschließerin die Kammer über den Pferdeställen herrichten«, gab Albrecht ihm mit auf den Weg. »Da ist es warm – und solltet Ihr dennoch frieren, so hat der Raum einen kleinen Kamin. Ich gestatte Euch, so viel Holz zum Einheizen zu nehmen, wie Ihr braucht. Eure Nahrung bekommt Ihr in der Küche – oder, besser ... ich lade Euch ein, künftig mit mir zusammen die Mahlzeiten einzunehmen ...«

»Großen Dank, Herr«, murmelte Heinrich der Scholar, indem er plötzlich tief errötete. »Diese hohe Ehre hatte ich nicht erwartet – aber ich nehme sie gern an. Einstweilen wünsche ich Euch einen ruhigen Abend und eine erquickende Nacht ...«

»Auch Euch eine solche ...«, murmelte Albrecht, der in Gedanken längst woanders weilte. »Bis morgen zum Frühstück also, Fälscher ...«

 

Der Mann, der in Anna Elisabeths Wohnstube eingetreten war, ließ sich bereitwillig von Michel aus seinem tropfnassen Mantel helfen. Der Junge hängte das durchweichte und dreckverschmierte Kleidungsstück am Haken bei der Herdstelle auf und sah Anna Elisabeth fragend an. »Bier? Brot? Brei?«

Anna Elisabeth nickte und machte eine ungeduldige Handbewegung. Sie betrachtete den Fremden unauffällig aus dem Augenwinkel, während sie von neuem den Besen zur Hand nahm und fortfuhr, den Boden vor der Herdstelle zu kehren. Der Mann war breitschultrig und muskulös – der Umfang seiner Oberarme, die jetzt nach Ablegen des Mantels zu sehen waren, ließ darauf schließen, dass er oft schwere Lasten zu tragen hatte. Er mochte um die dreißig Jahre zählen, aber die tiefen Linien um seinen Mund erweckten den Eindruck eines höheren Alters und verrieten einen ziemlich ungeordneten Lebenswandel.

Michel hatte aus dem großen schwarzen Eisenkessel, der am Feuer stand, einen Napf mit Brei gefüllt und ein Stück Brot vom Laib abgeschnitten. Jetzt war er dabei, Bier in einen Tonbecher einzuschenken. Der Fremde hatte sich ohne lange Umstände an den Tisch gesetzt und nahm Speise und Trank wortlos von dem Jungen entgegen. Er tat einen großen Zug aus dem Becher, biss von dem Brot ab und wandte sich dann an Anna Elisabeth. »Wie lange noch, bis der Herr dieses Hauses heimkommt?«

Anna Elisabeth hielt mit Fegen inne und richtete den Blick auf den Mann. »Herrin dieses Hauses bin ich«, sagte sie nüchtern.

»Ja, ja«, erwiderte der Mann, »das sehe ich. Aber ich fragte nach dem Herrn.«

»Den gibt es nicht.« Anna Elisabeth stellte den Besen an die Wand und musterte den Mann kühl. »Ihr müsst schon mit mir vorlieb nehmen.«

Einen Augenblick lang verzog der Vierschrötige keine Miene. Dann breitete sich ein Grinsen auf seinem grob geschnittenen Gesicht aus. »Ihr redet gerade so wie die Meine«, sagte er, »die hat auch Haare auf den Zähnen und lässt sich die Butter nicht vom Brot nehmen.« Er nahm einen weiteren Schluck aus seinem Becher. »Aber nun Scherz beiseite. Sagt mir, wann der Hannes Rebmann zurückkehrt.«

»Sobald Ihr mir verraten habt, wer Ihr seid«, erwiderte Anna Elisabeth frostig. »Ich kenne nicht einmal Euren Namen, geschweige denn, dass ich weiß, in welcher Sache Ihr den Hannes sprechen wollt. Ihr platzt hier einfach so herein, tut, als gehöre Euch das Haus und wollt mir befehlen. So haben wir nicht gewettet ...«

Der Fremde reckte die breiten Schultern. »Aber gemeldet worden ist Euch doch, dass ich kommen werde«, sagte er langsam und nicht ohne eine Spur von Verlegenheit. »Hat Euch der Bote denn meinen Namen nicht genannt?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Anna Elisabeth.

»Ich bin Konrad«, kam die schnelle Erklärung.

»Etwa ein Bote dieses Wirts, der überall von sich reden macht?«

»Eben desselbigen.«

»Und Ihr reist den ganzen Weg von Böckingen, nur um mit Hannes Rebmann zu sprechen?« Anna Elisabeth warf dem Fremden einen misstrauischen Blick zu. »Was wollt Ihr von ihm?«

»Er will was von mir«, sagte der Fremde und verzog spöttisch den Mund. »Aber es ist gehupft wie gesprungen ... wir brauchen einander.«

»Wozu?«, fragte Anna Elisabeth. Doch der Fremde kam nicht mehr dazu, Antwort zu geben, denn die Tür schwang auf und Hannes trat ein. Auf der Schulter trug er die Hellebarde, die er selbst aus einer Haue, einer Sense und einer Sichel geschmiedet hatte. Als er des Fremden ansichtig wurde, hellte sich seine Miene, die grimmig gewesen war, schlagartig auf. »Lange haben wir gewartet«, sagte er strahlend, »aber was lange währt, wird endlich gut. Willkommen, Konrad!«

»Ich sehe, du wappnest dich schon, Bruder!« Der Bote des Wirts von Böckingen sprang von seinem Sitz auf und trat Hannes mit lachendem Gesicht entgegen. »Es ist ja auch an dem, dass wir draufschlagen wollen – die großen Hansen haben uns lange genug genasführt.«

»Wohl wahr«, sagte Hannes. »Nach allem, was uns zugetragen wurde, wird seit dem vergangenen Herbst ohne Unterlass geredet und geredet. Nur, dass des Redens kein Ende ist, und dass die Herren nach wie vor auf die Zwölf Artikel spucken!«

»Nicht mehr lange«, knurrte Konrad. In seinen grauen Augen blitzte ein kalter Funke. »Die Menge der Bauern im Odenwald und Neckartal hat sich gerüstet und ist bereit, ihnen zum Tanz aufzuspielen, Bruder.«

Anna Elisabeth mischte sich ein. »Warum reist Ihr von Dorf zu Dorf und verbreitet überall Eure aufrührerischen Gedanken?«, fauchte sie den Boten des Wirts von Böckingen an. »Warum habt Ihr nicht Geduld und wartet auf den Ausgang der Verhandlungen? Der Kanzler von Hohenlohe, dieser Wendel Hipler, führt sie doch zurzeit –«

Sie unterbrach hastig ihren angefangenen Satz und presste die Hand auf den Mund. Hannes Rebmann und Jäcklein Rohrbachs Bote starrten sie verblüfft an. »Woher weißt denn das schon wieder, Annelies?«, wollte Hannes wissen.

»Hab’s gehört. Von dir selbst...« Anna Elisabeth wandte sich ab und machte sich bei der Herdstelle zu schaffen.

»Das kann nicht sein«, sagte Hannes. »Wenn du dabei warst, haben wir Männer nie darüber gesprochen.«

Er schämte sich offenbar vor diesem Konrad, dass er Männerdinge an eine Frau weitergegeben hatte. Anna Elisabeth überlegte blitzschnell. »Damals auf der Michaelikirmes«, sagte sie, »da war doch dieser Albrecht Hund. Und der erwähnte beim Tanz ...«

»Das ist ja sonderbar«, sagte Konrad, »dass einer beim Tanz mit einer jungen Frau den Wendel Hipler nennt.«

Hannes legte seinem Gast die Hand auf die Schulter. »Ich erinnere mich an diesen Kauz«, meinte er mit einem bedeutungsschweren Seitenblick auf Anna Elisabeth. »Der war mal bei meinem Schwiegervater selig zu Gast, und auch da hat er schon Reden geschwungen über das Recht des Christenmenschen und die Freiheit, die es zu erringen gilt.«

»Hund heißt der?« Jäcklein Rohrbachs Bote kratzte sich den dichten schwarzen Schopf. »Hab den Namen ehrlich gesagt noch nie gehört.«

Hannes lachte. »Aber du kannst doch auch nicht jeden Herumtreiber kennen, der von Wendel Hipler und der Freiheit redet«, sagte er. »Komm, Bruder – iss und trink. Und danach rufen wir die Männer zusammen und beratschlagen, wann wir aufbrechen wollen.«

»Aufbrechen?« Anna Elisabeth konnte nicht anders, als sich wieder in das Gespräch der beiden Männer einmischen. »Wohin denn – um Gottes willen?«

»Ins Feldlager«, klärte Konrad sie auf. »Wie ich schon sagte, noch dieses Frühjahr wollen wir unsere Zwingherren aufs Haupt schlagen.«

»Nur so erreichen wir, was wir wollen«, ergänzte Hannes.

»Ihr wollt Frauen und Kinder verlassen und gegen die Herren in den Krieg ziehen?«, fragte Anna Elisabeth fassungslos.

»Es steht Euch frei, mitzuziehen«, sagte Konrad augenzwinkernd. »Viele Weiber tun das. Die vom Jäcklein – Margarete Hofmann – wird auch an seiner Seite bleiben und für gut Glück sorgen...«

»Hab schon von der schwarzen Hofmännin gehört«, murmelte Hannes beeindruckt. »Es heißt, sie kann Wunden besprechen und kennt so manchen wirksamen Zauber ...«

Jäcklein Rohrbachs Bote lachte schallend. »Das ist wahr«, sagte er und widmete Anna Elisabeth einen anzüglichen Blick. »Doch ich meine, die deine besitzt diesen Zauber ebenso ... wenn ich sie mir betrachte, könnte ich mir vorstellen, sie hat auch alles, was Männer sich wünschen.«

»Wir werden sehen«, murmelte Hannes und lief rot an. »Hast sie noch nicht ausprobiert?«, fragte Jäcklein Rohrbachs Bote grinsend.

Anna Elisabeth schnaufte unwillkürlich und warf dem Fremden einen empörten Blick zu. Hannes wusste nicht genau, wie er sich jetzt verhalten sollte. »Hmm«, brummte er ausweichend, »aber bis Mai ist es ja nicht mehr weit.«

Konrad lachte auf. »Wohl wahr«, stimmte er zu, »und wenn erst unsere Ziele erreicht sind, wird dir das Hochzeiten umso schöner vorkommen ... oder etwa nicht?«

Diese Frage war an Anna Elisabeth gerichtet, die zornrot beim Herd stand und um Beherrschung rang. Wie konnte Hannes es wagen, auf diese Anzüglichkeiten einzugehen? »Wenn Ihr mich fragt«, antwortete sie eisig, »dann ist es bis Mai noch sehr weit – und wer weiß, was bis dahin alles geschieht!«

»Wie meintest du deine Bemerkung heut vom Nachmittag?«, wollte Hannes wissen.

»Welche Bemerkung?«

»Nun – dass bis Mai noch allerhand geschehen könnte.«

Anna Elisabeth, die eben das Schmutzwasser aus dem Kübel vorm Haus ausgeleert hatte, stellte den Eimer mit einem energischen Schwung an die Hauswand. »Wir haben März«, sagte sie trocken.

»Ach so.« Hannes nickte und tat, als habe er verstanden, was sie meinte – auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte. »Und freust du dich schon auf unsere Hochzeit, Schätzle?«

Anna Elisabeth zuckte die Achseln. Zu einer deutlicheren Antwort war sie nicht in der Lage.

Er starrte in die sinkende Dämmerung, wo im zarten Spätdunst die ersten Sterne aufschimmerten. »Die Haselkätzchen sind schon gelb«, sagte er, »mir scheint, es müsste jetzt gepflügt werden ...«

»Und?«

»Keiner denkt auch nur dran«, murmelte Hannes. »Alle haben nichts als den Feldzug im Sinn ...«

»Du auch?«

»Hmm.«

Das war weder ein Ja noch ein Nein. »Du auch?«, wiederholte Anna Elisabeth ihre Frage.

»Ja, sicher.« Hannes schloss für einen Moment die Augen. »Das Heer der Bauern aus dem Odenwald und Neckartal nimmt jeden Tag an Zahl zu. Der Konrad hat Recht. Wir werden sie bezwingen, die Raubpfaffen und adligen Wegelagerer, die da behaupten, sie hätten ihre Rechte von Gott.«

»Haben sie das nicht?«

Hannes riss die Augen weit auf. »Nein«, sagte er und stieß den Atem heftig von sich. »Sie haben sich ihre Rechte einfach angemaßt. Und dagegen wehren wir uns nun.«

»Ist es gestattet?«, ließ sich eine Stimme hinter ihnen vernehmen. Jäcklein Rohrbachs Bote war durch die sinkende Dämmerung an sie herangetreten und stellte sich nun neben Hannes.

»Macht keine Umständ«, sagte Hannes.

»Ja – wir wehren uns«, führte Konrad das Gespräch zwischen Hannes und Anna Elisabeth fort. »Auge um Auge – Zahn um Zahn. So, wie es in der Bibel heißt.«

Anna Elisabeth drehte den Männern den Rücken zu. »Eine gute Nacht wünsch ich«, sagte sie knapp, indem sie durch die Haustür in die Stube ging.

»Was hat sie denn?«, hörte sie Konrad fragen.

»Ach, nichts«, kam Hannes Rebmanns Antwort. »Du weißt doch, wie die Weiber sind. Was sie sagen wird, wenn ich ihr mitteile, dass wir schon übermorgen auf den Marsch gehen – das kann ich mir bereits denken.«

»Was denn?«

»Lamentieren wird sie. Und sie wird mich daran erinnern, dass ich bald für ihr Hauswesen verantwortlich sein werde.« »Und was wirst du ihr antworten, Bruder?«

»Nur, dass sie sich zu schicken hat«, knurrte Hannes Rebmann. »In Männerdinge hat sie sich zukünftig nicht mehr einzumischen. Ob’s ihr passt oder nicht ...«

»Die Weiber in Böckingen sind da ganz anders«, sagte Konrad nachdenklich. »Obwohl ... so anders nun auch wieder nicht. Aber sie nehmen das Unvermeidliche auf sich.«

»Dass sie dieses Frühjahr die Feldarbeit allein zu schaffen haben?«

»Hmm.« Konrad nickte. »Aber im Sommer, wenn gemäht werden muss, dann sind die Männer wieder da – und im Herbst wird keine Abgabe mehr zu entrichten sein. Das wissen sie auch.«

»Und das macht das Warten süß ...«

»Recht, Bruder.« Jäcklein Rohrbachs Bote klopfte Hannes fest auf die Schulter. »Aber noch süßer wird unser erstes Gefecht sein ... ich kann’s kaum erwarten, die Herren vor mir zu sehen und mein Rapier durch ihre feisten Wänste zu rennen ...«

Hannes erwiderte nichts dazu. Doch die Art, wie er das Kinn vorschob und dazu die Fäuste ballte, war Antwort genug. Anna Elisabeth, die seine Miene durch den Türspalt gesehen hatte, erschauerte. Schnell wollte sie die Tür vollends zuziehen, da hörte sie noch, wie Hannes fragte: »Hat das Bauernheer schon eine Fahne?«

»Sicher«, sagte Konrad. »Die Evangelische Bruderschaft führt eine Sonne im Wappen ... und das Motto: Wer frei will sein, der zieh zu diesem Sonnenschein.«

»Das lass ich mir gefallen«, murmelte Hannes so leise, dass Anna Elisabeth ihn durch die beinahe geschlossene Tür kaum noch verstehen konnte. »Nun erzähl mir, Bruder – wie soll’s gehen, und wer befehligt die jeweiligen Haufen?«

Anna Elisabeth hatte genug gehört. Sie wusste, sie würde Hannes und die anderen Männer aus dem Dorf und den umliegenden Weilern nicht von ihrem ungeheuerlichen Vorhaben abbringen können. Zum ersten Mal beschlich sie ein Gefühl des Unabänderlichen – des Schicksalhaften, dessen Gang niemand umleiten kann. Sie musste mit Albrecht darüber reden; er gehörte ja zu den Herren und hatte sicherlich die Gerüchte vom Bauernaufruhr zugetragen bekommen. Er würde vielleicht ein Mittel kennen, um einen Zusammenstoß zwischen dem Heer der Bauern und dem der Herren zu verhindern …