DIE SPIELE DER MÄCHTIGEN
Albrecht hatte Anna Elisabeth in einem kleinen Gasthof in Würzburg untergebracht und dem Wirt die Zeche auf eine Woche im Voraus bezahlt. »Hier kann niemand dich behelligen«, hatte er ihr gesagt, als sie in der Kammer allein gewesen waren. »Im Lager wären wir keinen Augenblick ungestört, und ich will nicht, dass man dich mit scheelen Augen ansieht, nur, weil wir noch nicht offiziell –«
»Mein Ritter von Weißenstein«, hatte sie ihn lächelnd unterbrochen, »du irrst. Wir sind offiziell – wie die Welt es auch betrachten mag. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich werde mich der dummen Bemerkungen und der scheelen Blicke schon zu wehren wissen.«
Das lag nun eine Woche zurück, und Albrecht hatte mit Verwunderung feststellen dürfen, dass sie sich tasächlich Achtung zu verschaffen gewusst hatte. Wenn sie in der niedrigen Gaststube ihr Essen zu sich nahm, dann speiste sie – und der Wirt, der eigentlich ein recht ungehobelter Kerl war, bediente sie mit ausgesuchter Höflichkeit. Von Anfang an hatte er keinerlei Fragen gestellt, sondern war, bewogen durch Anna Elisabeths Haltung, davon ausgegangen, sie sei die Gemahlin des jungen Freiherrn, der, wann immer er konnte, seine Zeit mit ihr verbrachte.
Heute war der vierzehnte Tag des Mai. Anna Elisabeth saß am Fenster, vor sich die Schüssel Brotsuppe, die ihr der Wirt mit einem tiefen Bückling dargeboten hatte, und schaute hinaus auf die Gasse. Der Nachmittag ging dem Ende zu; schon waren die Schatten tiefer geworden, das Tageslicht hatte abgenommen, und die ersten Laternenträger kamen vorüber. In der Stadt wimmelte es von Bewaffneten; auch jetzt zog eine kleine Truppe mit geschulterten Hellebarden am Fenster vorbei. Doch Anna Elisabeth wusste: Der größte Teil des Hellen Haufens war vor Tagen aus Würzburg abgezogen; wohin, das hatte ihr der Wirt nicht sagen können.
War Hannes Rebmann bei denen gewesen, die die Stadt verlassen hatten, oder hielt er sich noch hier auf – bei den Truppen, die den Frauenberg belagerten? Auch das hatte sie nicht in Erfahrung bringen können, und es schmerzte sie ein wenig. Immerhin war Hannes ihr seit der Kindheit vertraut, und es war schwer, sich völlig von ihm loszusagen. Wenigstens die Freundschaft zu ihm hätte sie gerne erhalten ...
Die Tür der Gaststube öffnete sich. Albrecht trat in den niedrigen Raum ein, dessen schwere, schwarz gerußte Deckenbalken den Eindruck von noch größerer Enge erweckten. Er widmete dem Wirt, der vor ihm einen tiefen Kratzfuß gemacht hatte, ein kleines Kopfnicken und wandte sich dann Anna Elisabeth zu. »Meinen liebevollen Gruß«, sagte er und verneigte sich kurz vor ihr. »Ich könnte mir vorstellen, du hast die Nachricht schon vernommen ...«
Seine Stimme hatte belegt geklungen, rau beinahe, und er war blass. Anna Elisabeth erschrak. »Was für eine Nachricht?«, forschte sie und suchte schon in seinem Gesicht nach einer Antwort auf ihre Frage.
Albrecht setzte sich zu ihr auf die Bank. »Dann weißt du es noch nicht«, murmelte er. »Umso schlimmer ...«
Sie spürte, wie Angst in ihr aufkeimte. »Was soll ich denn wissen?«, drängte sie. »Sag mir’s doch, Albrecht!«
»Die Bauernschaft«, gab er mit plötzlich tonloser Stimme Auskunft, »sie ist geschlagen worden – vor Böblingen. Ein sehr großer Teil des Hellen Haufens ist vernichtet ... und sie haben Jäcklein Rohrbach gefangen genommen ...«
»Oh ...« Jetzt griff der Schrecken nach Anna Elisabeths Herz. Sie konnte nichts sagen, sondern schloss nur kurz die Augen.
»Wie viele gefallen sind, wissen wir noch nicht genau«, setzte Albrecht seinen Bericht fort, »aber es müssen weit mehr als tausend sein. Die Böblinger, die den Unsrigen Unterstützung zugesagt hatten, müssen vom Truchsess erpresst worden sein ... oder bestochen. Florian Geyer meint, es sei eher das Letztere gewesen.«
»Was heißt das?« Anna Elisabeth war so entsetzt, dass sie kaum noch klar denken konnte. War Hannes Rebmann unter den Toten? Diese Frage begann in ihrem Kopf zu kreisen.
»Nun«, erklärte Albrecht, »Georg von Waldburg wird den stadtgesessenen Bürgern Geld geboten haben, oder Privilegien – falls sie den Bauern in den Rücken fallen. Und das haben sie getan.«
»Wie?«, fragte Anna Elisabeth mit blassen Lippen.
»Sie haben die Geschütze ihrer Stadtmauer auf die Männer der Evangelischen Bruderschaft gerichtet.« Albrecht zog die Schultern hoch, als friere er. »Der Truchsess griff den Hellen Haufen von der einen Seite an, und die Böblinger Geschütze mähten sie auf der anderen nieder. Es gab keinen Ausweg ... nur ein ungeordneter Rückzug war noch möglich. Und den Jäcklein haben sie, nachdem sie ihn gefangen hatten, nach Neckar-Gartach gebracht, wo sie ihn ...«
Er konnte nicht weitersprechen, sondern legte nur in einer schmerzlichen Geste die Hand über die Augen.
»Sag es mir«, forderte Anna Elisabeth. »Ich will’s erfahren, damit ich weiß, was dich so sehr erschüttert!«
»Sie haben ihn bei lebendigem Leib geröstet«, flüsterte Albrecht mit Entsetzen in der Stimme. »Sie haben ihn an einem Baum aufgehängt und ein Feuer unter ihm angezündet.
Es muss Stunden gedauert haben, bis er endlich ausgelitten hatte ...«
»O Albrecht!« Anna Elisabeth nahm seine Hand und presste sie hart. »Und was wird nun aus der Sache der Bauern?«
Albrecht erwiderte ihren Händedruck. »Morgen stürmen wir den Frauenberg«, sagte er. In seinen Augen, in denen eben noch Schrecken gestanden hatte, glimmte plötzlich Zorn auf. »Wendel Hipler verhandelt immer noch in Heilbronn – der unverbesserliche Gutmensch. Aber Florian Geyer und ich, wir sind uns längst darüber im Klaren, dass Vernunft in dieser Lage nichts mehr bewirken kann. Nun muss Gewalt herrschen, und nur noch die Waffen können eine Wende bringen!«
»Nein, Liebster, nein!« Anna Elisabeth hielt seine Hand, die sich zur Faust ballen wollte, verzweifelt fest. »Wollt ihr nicht wenigstens abwarten, bis ihr Nachricht von den Unterredungen habt, die der Kanzler von Hohenlohe führt? Er ist doch ein kluger Mann – er wird immer noch einen Weg finden, wie man die hohen Herren zum Umdenken bringt. Gebt ihm die Möglichkeit dazu, bevor noch mehr Menschen ihr Leben verlieren !«
Albrecht bedachte sie mit einem zärtlichen, aber auch mitleidigen Blick. »Mein Abendstern«, sagte er sanft, »du bist eine Frau, und darum verstehst du auch nicht, was Fürsten dazu treibt, Krieg zu führen. Es ist die pure Lust am Streiten, und, wahrhaftig – der Truchsess von Waldburg gehört in jedem Fall zu denen, die lieber den Krieg als die Verhandlung wählen würden, um Konflikte zu lösen.«
»Aber Wendel Hipler hat doch –«, setzte Anna Elisabeth an.
Doch diesmal wurde sie von Albrecht unterbrochen. »Wendel Hipler ist nicht vom Adel«, sagte er sanft. »Er hat nach dem, was Jäcklein Rohrbach in Weinsberg verbrochen hatte, keine Möglichkeit mehr bekommen, sich noch einmal Gehör zu verschaffen. Man hält ihn hin, um die Bauernschaft in dem Glauben zu lassen, es gebe noch etwas zu gewinnen. Aber die Wirklichkeit sieht völlig anders aus. Glaub mir, Liebste.«
Einen Augenblick lang sah Anna Elisabeth ihm in die Augen. Dann senkte sie den Kopf. »Ich glaube dir ja, Albrecht«, flüsterte sie, während sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten, »ich habe nur solche Angst ...«
Er nahm sie in die Arme. »Lass uns nicht den Mut verlieren«, flüsterte er ihr zu, »es kann noch alles gut werden. Daran glaube ich ganz fest.« Mit einer beiläufigen Handbewegung rief er den Wirt herbei. »Bringt mir einen Krug Bier«, befahl er dem Mann, der dienstbeflissen sofort erschien.
Während der Wirt schnell seiner Aufgabe nachkam, wandte sich Albrecht wieder an Anna Elisabeth. »Heute bin ich nicht nur gekommen, um bei dir zu sein«, sagte er ernst. »Ich will, dass wir noch an diesem Abend eine Verabredung wahrnehmen.«
Sie suchte seinen Blick. In ihren Augen zeigte sich neue Furcht. »Was für eine Verabredung?«, fragte sie bebend.
Er nahm beruhigend ihre Hand. »Du trägst einen goldenen Ring am Band um deinen Hals«, erwiderte er, »und der soll ab heute an deinem Finger stecken. Ich möchte, dass unsere Verbindung den Segen erhält.«
»Du willst ...« Sie konnte nicht weitersprechen. »Warum gerade jetzt?«, fragte sie nach einigen Herzschlägen. »Was drängt dich dazu?«
Er umarmte sie noch einmal. »Wie ich dir schon sagte«, erklärte er, während er sie an sich presste, »morgen werden wir den Frauenberg stürmen. Und du musst meine rechtmäßige Gemahlin sein, sollte ich fallen ...«
Sie erstarrte in seinen Armen. »So etwas darfst du nicht einmal denken«, wisperte sie in tiefem Entsetzen. »Ich ertrage das nicht!«
»Aber es könnte sein«, gab Albrecht zurück, »und ich will, dass deine Rechte gewahrt sind, falls es geschieht. Schau, Liebste –«, er drückte ihr einen kleinen Kuss auf die Schläfe, »ich bin jung und stark, und mir wird nichts geschehen, wenn der Allmächtige es nicht beschlossen hat. Aber nur für den Fall, dass er mich doch abrufen sollte ...«
»Albrecht ... nein!« Anna Elisabeth klammerte sich an ihn. »Können wir nicht einfach all diesen Schrecken den Rücken kehren und weggehen? Können wir nicht diesen elenden Krieg –«
»Still, Abendstern.« Er tupfte einen kleinen Kuss auf ihre Lippen. »Warum weigerst du dich, mit mir vor einen Priester zu treten?«, fragte er, nachdem er ihren Mund wieder freigegeben hatte. »Willst du denn nicht wirklich meine Frau sein?«
Das hatte scherzhaft klingen sollen, aber Anna Elisabeth nahm es anders auf. »Das bin ich ja längst«, wisperte sie mit belegter Stimme und Tränen in den Augen.
»Dann gehorche mir dieses eine Mal«, erwiderte er, nun nicht mehr in diesem gespielt heiteren Ton. »Es ist mir wichtig, dich gesichert zu sehen. Tu mir die Liebe, und stell nicht alles in Frage, was ich von dir verlange.«
Anna Elisabeth schluchzte auf. Dann schlang sie die Arme um seinen Nacken und küsste ihn leidenschaftlich, obwohl der Wirt gekommen war und den Becher für Albrecht auf den Tisch gestellt hatte. »Ich würde dir bis ans Ende der Welt folgen«, flüsterte sie weinend, »aber dein Eigentum und deinen Titel begehre ich nicht...«
»Das weiß ich«, sagte Albrecht. »Trotzdem will ich, dass du ein Recht darauf hast.« Er nahm den Krug und trank. Dann stand er von der Bank auf und zog sie mit sich hoch. »Es ist alles vorbereitet«, fügte er hinzu. »Komm ... !«
In der Sakristei warteten vier Personen – zwei junge Männer in Brustharnisch und recht unauffälliger, geradezu zerschlissener Kleidung, ein drahtiger, etwa vierzigjähriger Herr, der ohne Panzer, dafür aber in dezent edler Gewandung erschienen war, und ein in schlichtes Schwarz gekleideter Priester. Sie alle musterten Anna Elisabeth mit unverhohlener Verwunderung, als sie an Albrechts Seite eintrat.
»Hier bringe ich meine Braut«, sagte Albrecht zu ihnen. »Gestattet, dass ich sie mit Euch bekannt mache.«
Die Männer verneigten sich knapp. »Herr Ulrich von Starkenberg«, stellte Albrecht Anna Elisabeth den Jüngsten vor, der kaum die zwanzig erreicht hatte, und dessen Harnisch selbst im matten Schein der beiden Kerzen seine Roststellen nicht verbergen konnte.
Anna Elisabeth neigte wortlos den Kopf und schenkte dem Mann ein flüchtiges Lächeln.
»Herr Markwart zu Rhein«, sagte Albrecht und deutete mit einer kleinen Geste seiner Hand auf den zweiten der jungen Männer.
Der verzog die Mundwinkel und lächelte strahlend zur Antwort, als Anna Elisabeth auch ihn mit einem Kopfnicken bedachte.
»Herr Florian Geyer«, bezeichnete Albrecht den dritten, nicht gewappneten Anwesenden. Der trat auf sie zu und machte eine tiefe Verbeugung. »Ich freue mich herzlich, Eure Bekanntschaft zu machen, mein Fräulein«, sagte er mit gedämpfter Stimme, in der Rührung mitschwang.
Anna Elisabeth, die bis jetzt ihre Fassung bewahrt hatte, wusste nun nicht mehr, wie sie sich geben sollte. Sie neigte noch einmal den Kopf und erwiderte zögernd: »Auch ich freue mich ...« Dann verstummte sie betreten.
Albrecht rettete sie. »Wir wollen ohne lange Umschweife zur Sache kommen«, sagte er an den Priester gewandt. »Habt Ihr die Papiere bereit?«
»Der Klosterschreiber ist rechtzeitig damit fertig geworden«, kam dessen beflissene Antwort. »Sie liegen vor und müssen nur noch unterzeichnet werden. Soll ich jetzt gleich ...?«
»Ja, ja«, erwiderte Albrecht. In seiner Stimme klang Ungeduld auf. »Schreiten wir sofort zum Wesentlichen.«
»Ihr habt es sehr eilig«, wagte der junge Herr Ulrich lächelnd zu bemerken.
Doch ein Blick aus Albrechts Augen brachte ihn zum Schweigen. »Ihr wisst genauso gut wie ich, dass die Zeit drängt, Vetter«, sagte er. »Wer weiß – vielleicht stehen wir Männer der Schwarzen Schar alle schon morgen Nacht vor unserem Schöpfer, und meine Braut soll dann nicht unversorgt sein.«
»Sehr richtig«, gab Herr Markwart zu. »Ich kann Euch gut verstehen, Vetter.«
»Das kann ich doch auch«, beeilte sich Herr Ulrich hastig zu bemerken, während er seine plötzliche Verlegenheit hinter betont forscher Sprache zu verbergen suchte. »Alsdann – verfahren wir, wie es Sitte ist.«
Albrecht führte Anna Elisabeth in die Mitte des dämmrigen Raumes, und der Priester begann mit der Zeremonie. »Albrecht Joachim Georg Heinrich Wolf von Weißenstein«, intonierte er, »willst du diese hier anwesende Frau aus Gottes Hand zu deiner rechtmäßigen Gemahlin annehmen, sie ehren und lieben in guten wie in schlechten Zeiten und nur ihr angehören, so lange ihr beide lebt?«
»Das will ich«, antwortete Albrecht mit lauter, tragender Stimme.
»Willst du ihr Schutz bieten in allen Gefahren – leiblichen wie geistlichen – und sie nie verlassen, bis dass der Tod euch scheidet?«
»Auch das – und von ganzem Herzen«, gab Albrecht auf diese Frage zurück.
»Und willst du den Kindern, die euch geschenkt werden, ein Hort und ein Halt sein und sie im treuen Glauben an Gott den Herrn erziehen?«
»Bei meiner Ehre«, antwortete Albrecht, »das will ich.«
»Dann frage ich dich, Anna Elisabeth ...« Für einen Augenblick wanderte der Blick des Priesters fragend zu Albrecht hinüber, doch der nickte nur ungeduldig.
Der Priester räusperte sich und setzte neu an. »Ich frage dich, Anna Elisabeth ... willst du den hier anwesenden Albrecht Wolf von Weißenstein aus Gottes Hand zu deinem rechtmäßigen Gemahl nehmen, ihn lieben und ehren, ihm gehorchen und ihm die Treue halten, bis dass der Tod dich von ihm nimmt?«
»Das will ich«, flüsterte Anna Elisabeth mit zitternden Lippen.
»Dann reicht einander die Hände«, forderte der Priester das Paar auf. Anna Elisabeth und Albrecht, die sich ohnehin die ganze Zeit bei den Händen gehalten hatten, verstärkten ihren Händedruck und knieten nieder.
Der Priester sprach den Segen. Dann war die kurze Zeremonie zu Ende. Die Urkunde, die auf dem Sakristeitisch gelegen hatte, wurde unterzeichnet. Albrecht setzte seinen Namen in schwungvollen, ausladenden Buchstaben darunter, während Anna Elisabeth ihren in unsicheren, aber ebenso großen Schriftzeichen malte. Die Namen der Zeugen wurden hinzugesetzt. Dann war es geschehen, und sie verließen die Sakristei.
Albrecht und Anna Elisabeth trennten sich sogleich wieder von den Männern, die Zeuge ihrer Trauung gewesen waren. »Feiern werden wir, wenn wir diesen Kampf bestanden haben«, sagte Albrecht zu ihnen, als sie sich voneinander verabschiedeten. »Ich weiß, Vettern – Ihr habt Verständnis dafür, dass mir heute Abend nicht der Sinn nach einem lauten Trinkgelage steht. Aber freut Euch schon einmal auf das Fest, das ich auf Weißenstein geben werde – für Euch und alle, die mir wohlgesonnen sind. Doch bevor wir tanzen können, müssen wir zuerst ...«
Er vollendete seinen Satz nicht. Herr Ulrich und Herr Markwart nickten betroffen. »Ich wünsche Euch und Eurer Braut alles Glück der Erde«, sagte Herr Ulrich, indem er Albrecht die Hand drückte.
»Dem schließe ich mich an«, war der Abschiedsgruß Herrn Markwarts.
Florian Geyer schloss Albrecht kurz und herzlich in die Arme. »Mein lieber Freund«, meinte er im Weggehen, »was soll ich lange Reden halten? Wir kennen einander gut genug, um zu wissen, was wir einander wünschen und was wir uns für die Zukunft erhoffen. Seid morgen bei Sonnenaufgang zur Stelle. Es wird ein harter Tag werden ...«
Es war sehr still in der kleinen Kammer im Gasthof des Wirtshauses. Albrecht und Anna Elisabeth hatten ihre Kleider abgelegt und die Lagerstatt bestiegen, die sie jetzt schon seit der Mondnacht am Fuß des Frauenbergs teilten. Sie sprachen nicht; beide waren zu sehr in ihre eigenen Gedanken verstrickt, als dass sie jetzt unbefangen miteinander hätten reden können.
Nach einer langen Weile richtete Albrecht sich auf und beugte sich über Anna. »Was denkst du, Liebste?«, fragte er sacht.
»Ich denke daran, dass ich dich nicht verlieren will«, hauchte sie. »Ich bete darum, dass du verschont bleibst bei dem unsinnigen Gefecht, zu dem du dich verpflichtet hast...«
»Aber es ist nicht unsinnig«, widersprach er ihr. »Es gibt so viel zu gewinnen, mein Herz ...«
»Was denn noch?«, fragte sie störrisch. »Ich meine, wir haben schon alles, was wir zum Leben brauchen. Wir haben uns ... was wollen wir noch mehr?«
Er lachte in der Dunkelheit. »Ihr Frauen«, sagte er, indem er ihre Wange streichelte, »einerseits seid ihr nie zufrieden, und andererseits verlangt ihr gar nichts. Das verstehe, wer kann.«
Sie hob den Blick zu ihm und betrachtete sein Gesicht, das sie nur undeutlich über sich erkennen konnte. »Albrecht«, erwiderte sie ernst, »du weißt sehr wohl, was ich meinte. Mach dich nicht lustig über meine Furchtsamkeit.«
Er senkte sich über sie und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Verzeih, Anna«, erwiderte er sanft. »Ich scherze nur, damit ich mir nicht eingestehen muss, dass auch ich Angst habe. Mir ist durchaus bewusst, dass wir nicht nur gewinnen, sondern auch verlieren können ...«
Sie umarmten sich. Doch sie tauschten nur Küsse und lagen Haut an Haut in der Dunkelheit. Erst tief in der Nacht schliefen sie ein. Albrecht erwachte bereits lange, bevor die Dämmerung angebrochen war.
Er betrachtete Anna Elisabeth, die schlafend neben ihm lag, den Arm über seine Hüfte gelegt und den Kopf an seiner Schulter. Was für einen Zauber sie ausstrahlte, seine wilde Rose ... die runde Stirn von kleinen dunklen Löckchen umspielt, die Wimpern wie schwarzseidene Halbmonde auf ihren Wangen ...
Ihr Mund war leicht geöffnet, als wolle sie träumend Liebesworte flüstern, und er konnte ihre weißen Zähne schimmern sehen. Albrecht prägte sich ihr Bild noch einmal fest ein, so dass er es nie aus seinem Herzen verlieren konnte. Dann, sachte, sachte, um sie noch nicht zu wecken, erhob er sich und kleidete sich an.
Als er fertig gewandet und gewappnet war, trat er noch einmal an ihr Bett. Plötzlich wusste er – sie würde es unverzeihlich finden, wenn er jetzt ging, ohne von ihr Abschied zu nehmen. Heute war es grausam, ihren Schlaf nicht zu stören – auch wenn der Abschied an diesem Morgen wehtun würde.
Er neigte sich über sie. »Wach auf, Schöne meines Herzens«, flüsterte er in ihr Ohr, »die ersten Vögel singen ... der Morgen kommt ...«
Sie gab einen kleinen, trägen Laut von sich – ein sanftes Seufzen, das er kannte und liebte. »Albrecht ...«, kam es von ihren halb geöffneten Lippen, »musst du schon gehen ...?«
Dann war sie plötzlich hellwach, richtete sich ruckartig auf, sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Nicht, Liebster«, sagte sie heftig, »bleib ... ich hab dir noch so viel zu sagen ... !«
»Ich dir auch«, erwiderte er mit erzwungener Ruhe. »Dafür haben wir so viel Zeit wie wir wollen – heute Nacht, wenn ich zurück bin. Aber jetzt muss ich gehen. Meine Leute warten auf mich.«
Anna Elisabeth streckte die Arme nach ihm aus. »Verlass mich nicht«, bettelte sie verzweifelt. »Du hast mir versprochen, mich nie im Stich zu lassen, Albrecht!«
»Und ich werde es auch nicht tun«, gab er zurück, seine eigene Herzensangst zügelnd. »Zur Nacht bin ich wieder bei dir, Abendstern. Dann reden wir. Jetzt ist nicht mehr die Zeit dazu.«
Er zog sie an sich und gab ihr einen tiefen, liebevollen Kuss. Als er sich von ihr abwandte und zur Tür ging, schluchzte sie laut auf. »Lebwohl, Liebster – und gebe Gott, dass wir uns wiedersehen ...«
Seine Schritte verhallten auf der Stiege. Anna Elisabeth sprang aus dem Bett, ging zum Fenster und sah ihm nach, wie er zu Pferd die Gasse hinunterritt. Er drehte sich einmal nach dem Wirtshaus um und blickte zu dem Fenster hinauf, hinter dem sie stand, aber es schien, als habe er sie nicht gesehen, denn er winkte ihr nicht zu. Dann war er fort, und Anna Elisabeth war es, als müsse ihr das Herz zerspringen.
Sie ließ sich wieder auf das Bett fallen, vergrub das Gesicht in den Kissen und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Dann, als die Sonne bereits hoch stand, kleidete sie sich an und ging hinunter in die Gaststube.
Hier war niemand. Erst nach geraumer Zeit erschien der Wirt und brachte ihr eine Schüssel Hirsebrei. »Das wird ein heißer Tag«, sagte er händereibend. »Ich hoffe und wünsche, dass dem feigen Hund von einem Bischof endlich einmal Feuer gemacht wird. Die Bauern sollen ihm ordentlich einheizen auf seiner Burg ...«
Er heftete seine hellblauen, etwas wässrigen Augen auf Anna Elisabeth. Als er ihren Blick sah, wurde er verlegen. »Euer Gemahl ist doch einer aus des Geyers Haufen«, stammelte er verwirrt. »Wollt Ihr nicht auch, dass die Bauern gewinnen?«
»Doch«, sagte Anna Elisabeth mit tränenrauer Stimme. »Aber noch mehr wünsche ich mir, dass mein Gemahl unversehrt zurückkommt.«
»O – das wird er, das wird er«, sagte der Wirt zuversichtlich. »Endlich muss sich das Glück doch wenden – auch wenn es bisher nicht gerade den Hellen Haufen begünstigt hat.«
»Ihr meint – wegen der Niederlage vor Böblingen?«, versuchte Anna Elisabeth das Gespräch weiterzuführen.
»Ja, leider sind die Böblinger von der Sache der Bauern abgefallen«, erwiderte der Wirt. »Aber wir in Würzburg – wir sind anders.« Er zwinkerte Anna Elisabeth vertraulich zu. »Wir halten’s mit dem, der am Ende gewinnen wird. Und das sind die Bauern. Denkt nur –«, er senkte geheimnisvoll die Stimme, »die schwarze Hofmännin ist noch beim Hellen Haufen, hab ich mir sagen lassen – und der, der’s mir sagte, ist absolut ehrlich. Sie wird mit ihrer Magie und ihren Zaubersprüchen das Glück schon wieder auf die rechte Seite locken. Außerdem –«, er wurde wieder laut, »außerdem hat der Schwäbische Bund nur einen zusammengewürfelten Haufen von lauter meuterischen Lanzknechten aufzuweisen. Ganze zehntausend Mann sind’s, und ein paar kleine Fürsten mit ihren Leuten. Auf der Seite der Bauernschaft dagegen kämpfen zwanzigtausend. Wer wird da wohl gewinnen – na?«
Anna Elisabeth hatte seine letzten Worte nicht wahrgenommen, denn ein dumpfes Donnern, ein Krachen und Pfeifen lag plötzlich in der Luft. »Was ist das?«, fragte sie angstvoll den Wirt.
»Sie beschießen den Frauenberg«, sagte der. »Sehr klug, zuerst die Mauern zu brechen. Dann können die Geyer’schen um- so leichter hinein ...«
Anna hielt es nicht lange in der dumpfen Gaststube. Sie warf sich den Mantel über und wollte hinaus. »Das solltet Ihr nicht tun«, meinte der Wirt wohlwollend. »Kann sein, dass allerhand Kriegsleute sich in der Stadt umhertreiben. Die könnten eine unbegleitete Frau von Eurem ... Eurem schönen Aussehen für Freiwild halten ...«
»Ich fürchte mich nicht«, erwiderte Anna Elisabeth und reckte die Schultern. »Ich muss erfahren, wie es steht ...«
Damit verließ sie das Haus. Im Gegensatz zu dem, was der Wirt vermutet hatte, war es ungewohnt still auf den Gassen. Kaum einer war unterwegs; nur einige wenige Menschen gingen ihren Geschäften nach. Nicht einmal auf dem Markt waren heute Stände aufgeschlagen. Anna Elisabeth hatte den unheimlichen Eindruck, als sei Würzburg ausgestorben. Nur die dumpfen Donnerschläge der Kanonen waren aus der Ferne zu hören. Und gelegentlich trug der Wind Kampfgeschrei heran.
Langsam ging sie weiter. Mit einem Mal kam es ihr vor, als folge ihr jemand, und sie sah sich unruhig um. Doch niemand war da – die Gasse, die sie entlangschritt, war menschenleer. Vor ihr klappte ein Bäcker seinen Verkaufsladen hoch; der Mann schaute ebenfalls nach rechts und links, offenbar hielt er nach Kunden Ausschau. Sehr ungewöhnlich, dachte Anna Elisabeth, denn es kam so gut wie niemals vor, dass nach frischem, duftendem Brot keine Nachfrage bestand. Dennoch näherte sich kein Käufer, weder eine Magd noch eine Hausfrau, und die Laibe, die der Mann auslegte, wurden gar nicht beachtet.
Anna Elisabeth blieb bei dem Bäcker stehen. »Was ist das nur?«, sprach sie ihn an. »Die ganze Stadt liegt wie in Totenruhe ... habt Ihr eine Erklärung dafür, Meister?«
Der Bäcker widmete der jungen Frau, die da vor ihm stand, einen verwunderten Blick. »Ja, wisst Ihr denn nicht?«, fragte er erstaunt. »Alle Welt hat sich in die Häuser verzogen – die Leute haben Angst vor dem Ausgang der Schlacht!«
»Der Schlacht um den Frauenberg?«, fragte Anna Elisabeth nach. »Aber es geht doch nur um den Sitz des Bischofs und nicht um die Stadt. Die Bauern wollen –«
»Ihr scheint mir wirklich ahnungslos, Jungfer«, unterbrach sie der Bäcker. »Sollten die Bauern es nicht schaffen, die Burg einzunehmen, dann muss ganz Würzburg leiden. Denn die Bürgerschaft hat sich ja darauf eingelassen, und –«
»Und darum wird sie’s zu spüren kriegen, wenn der Sturm fehlgeht«, klang eine Stimme hinter Anna Elisabeth auf.
Anna Elisabeth fuhr herum. Balthasar stand beitbeinig da und lächelte sie strahlend an. »Es sieht nicht gut aus«, fügte er hinzu. »Nach allem, was ich beobachten konnte, wehren sich die Verteidiger der Burg wie die Löwen – dazu haben sie die besseren Stückmeister und Gewehrschützen.«
»Du ...?«, stammelte Anna Elisabeth. »Was treibst du dich hier herum? Ich dachte, du seist zu deinem Herrn zurückgekehrt...«
Balzers Lächeln vertiefte sich. »Einen Herrn hab ich nicht«, erwiderte er trocken. »Ich komme und gehe, wie’s mir gefällt – und wohin der Wind mich weht. Im Augenblick gefällt es mir, hier zu sein.«
Anna Elisabeth schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Willst du etwa auch in den Hellen Haufen eintreten und an den Kämpfen teilnehmen?«
»Gott bewahre!« Balzers Lächeln verebbte. »Nein – ich warte.« »Worauf?«
»Darauf, dass die Kämpfe endlich zu Ende gehen und ich meinen Zielen ein wenig näher komme.« Er zeigte sein nichtsnutziges Grinsen.
Anna Elisabeth sah seine schwarzen Augen funkeln. »Was sind denn deine Ziele?«, wollte sie wissen. »Du sagtest doch, du kommst und gehst nach Gutdünken – so, wie der Wind ...«
Er wurde ernst. »Was machst du hier?«, stellte er ausweichend eine Gegenfrage.
»Ich warte auch«, antwortete Anna Elisabeth leise. »Auf deinen Verlobten? Diesen Müller?«
»Nein«, sagte Anna Elisabeth, »auf meinen Gemahl. Und ich bete, dass er unverletzt zu mir heimkehrt.«
»So«, murmelte Balzer. »Dann hast du ihn also schon zum Mann genommen, deinen Müller ...« Sein Blick fiel auf ihre linke Hand. »Und dein Ring stammt wohl aus seiner Beute – der Schatulle irgendeines Edelmannes?«
»Das ja«, gab Anna Elisabeth zurück, »aber ich habe ihn nicht von Hannes Rebmann.«
»Ach? Also hast du doch dem anderen deine Hand gereicht – dem, mit dem du den Kampfplatz verlassen hast ...«
»Ja. Aber es war alles rechtens.«
»Außer, dass du an jenem Abend eine Grenze überschritten hast, die man nicht ungestraft missachtet.«
Sie schoss ihm einen zornigen Blick zu. »Was sagst du denn da?«, erwiderte sie empört. »Ich war ja längst –«
»Gestatte, dass ich dich begleite«, fiel Balzer ihr in die Rede. »Noch ist es sicher in der Stadt, aber das kann ... das wird sich ändern. Spätestens, wenn die Sonne sinkt.« Er warf einen Blick zum Himmel. »In drei, vier Stunden geht der Kampf zu Ende, denke ich...«
»Aber der Mittag ist ja gerade erst überschritten«, sagte Anna Elisabeth. »Und überdies – ich glaube dir kein Wort. Ich brauche deine Begleitung nicht.«
»Erlaube mir trotzdem.« Balzer machte ein so treuherziges Gesicht, dass Anna Elisabeth trotz ihrer Unruhe lachen musste.
»Gut«, sagte sie, »aber ich will, dass du wieder verschwindest, sobald –« »Sobald meine Anwesenheit nicht mehr vonnöten ist«, vervollständigte er ihren Satz. »Das kann ich guten Gewissens versprechen, Mädchen ... verzeih – du bist ja jetzt Frau ...«
Sie gingen gemeinsam weiter. Etwas in Balzers Augen bedrückte Anna Elisabeth plötzlich – sie wusste nicht genau, was es war, aber es erzeugte ein beklemmendes Gefühl in ihr. »Kann es sein, dass du mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hast?«, fragte sie ihn.
»Durchaus«, gab er zurück. Doch weitere Erklärungen bot er ihr nicht.
»Warum?«, forschte sie.
»Weiß nicht«, kam seine ausweichende Antwort. »Es war so eine Laune. Ich richte mich oft nach meinen Launen.«
»Hast du nicht vorhin gesagt, du hättest den Kampf um die Burg beobachtet?«, wechselte sie das Thema. »Was hast du gesehen?«
Er wurde wieder gesprächig, so, wie sie ihn kannte. »Oh«, sagte er, »es war nicht weiter verwunderlich. Die Männer des Hellen Haufens hatten schon gestern Abend die Feldschlangen auf die Mauern des Frauenberges eingerichtet, und heute in aller Frühe begannen sie dann mit der Beschießung. Beinahe alle Schüsse gingen aber fehl, weil die Büchsenmeister der Bauernschaft ihr Handwerk eben nicht verstehen.«
»Was heißt das?« Anna Elisabeth hatte das Donnern der Kanonen ja den ganzen Morgen über gehört und wunderte sich im Nachhinein, dass es seit geraumer Zeit aufgehört hatte. »Ist ihnen das Pulver ausgegangen?«
»Das auch.« Balzer zog ein verächtliches Gesicht. »Schlimmer ist, dass sie die Mauern nicht brechen konnten und darum gezwungen waren, den Angriff nur mit Sturmleitern fortzuführen. Ich schätze ...«, er schloss für einen Moment die Augen, »das wird nicht viel genützt haben.«
»Warum?«, drängte Anna Elisabeth. »Lass mich doch nicht so im Dunkeln tappen!«
Eine Salve von Kanonenschüssen zerriss die Stille. »Jetzt schießen die vom Frauenberg«, kommentierte Balzer. »Das wird die Bauern übel treffen.«
»Woher weißt du, dass es die Kanonen der Verteidiger sind?« Anna Elisabeth spürte, wie sie zu zittern begann. »Die Schüsse klingen doch alle gleich ...«
»Keineswegs.« Balzer heftete den Blick auf Anna Elisabeths Augen. »Das, was wir jetzt hören, sind Vierzehnpfünder, und der Helle Haufen besitzt nur leichte Feldschlangen. Sie werden sich etwas einfallen lassen müssen, die Geyer’schen.«
»Die Geyer’schen?«, flüsterte Anna Elisabeth tonlos. »Warum die? Sind nicht die vom Hellen Haufen weit zahlreicher?«
»Aber die Schwarze Schar ist die einzige wirkliche Truppe«, erklärte Balzer nüchtern. »Die besteht aus Kriegern und wird geführt von Männern, die etwas von der Kriegführung verstehen. Bei den Bauern dagegen gibt es nur ein paar großmäulige Schreihälse, die sich in ihrer Überheblichkeit Gewaltige nennen und dennoch keine Ahnung haben, wie man Söldner führt. Ihre Bauern rennen wie die Hasen, wenn’s an Leib und Leben geht.«
»Du redest, als wüsstest du Bescheid«, mumelte Anna Elisabeth.
»Ich weiß Bescheid«, bestätigte Balzer knapp.
Sie hatten beinahe die Mauern erreicht. »Könnten wir nicht hinaufsteigen und versuchen, einen Blick auf den Frauenberg zu erhaschen?«, wagte Anna Elisabeth zu fragen. »Mein Gemahl ...«
»Ist er dabei?«, fragte Balzer. In seinen Augen funkelte es hoffnungsvoll.
Anna Elisabeth nickte. »Von der Höhe der Mauer könnten wir vielleicht sehen, wie sich die Schlacht wendet«, murmelte sie. »Du könntest die Wachen bitten, uns hinaufzulassen, und dann –«
»Das hätte wenig Sinn«, schlug Balzer ihr die Bitte ab. »Niemand, der nicht zur Mannschaft gehört, darf da hinauf. Das kannst du dir doch denken, Mädchen.«
»Ach, Balzer – was soll ich nur tun?«, sagte Anna Elisabeth mit einem Beben in der Stimme. »Ich ertrage die Ungewissheit nicht!«
»Das Beste wird sein, du kehrst in deine Unterkunft zurück«, riet er. »Warte, bis die Sonne sinkt. Dann müssen die Kämpfe abgebrochen werden, wenn sie bis dahin nicht ohnehin beendet sind.«
Seine Worte klangen gelassen, aber es war eine Note darin, die Anna Elisabeth von neuem betroffen machte. »Gibt es denn keine Möglichkeit, Genaueres in Erfahrung zu bringen?«, fragte sie ihn.
Er schüttelte verneinend den Kopf. »Nicht, wenn man nicht fliegen kann«, erwiderte er mit einer Spur von Spott.
In der Gaststube des Wirts, bei dem Anna Elisabeth wohnte, saßen mittlerweile mehrere Gäste beim Bier. Doch es herrschte eine sonderbare, bedrückte Stimmung. Niemand redete laut oder lachte. Die sechs Männer, die sich hier zusammengefunden hatten, hockten nur da und starrten schweigend in ihre Becher oder aus dem Fenster, das auf die Gasse blickte.
Balzer sorgte dafür, dass Anna Elisabeth einen Platz auf der Bank am Fenster bekam, indem er die dasitzenden Männer zum Zusammenrücken aufforderte. Sie taten es schweigend und machten auch ihm Raum, so dass er sich neben ihr niederlassen konnte.
Unaufgefordert brachte der Wirt einen frisches Bier für sie beide. »Ihr seid wohl ein Knecht des Herrn von Weißenstein«, fragte er Balzer. »Wisst Ihr nicht, wie es steht? Wir alle warten auf Nachricht. Aber bis jetzt ist noch kein Bote eingetroffen, der uns sagen könnte –«
»Ihr werdet es nicht glauben, Herr Wirt«, schnitt Balzer ihm die Rede ab, »aber ich kenne nur die Frau. Der Edelherr, von dem Ihr redet, ist mir unbekannt. Und was den Sturm auf den Frauenberg betrifft, so muss ich Euch enttäuschen. Auch ich kenne den Ausgang noch nicht. Ich warte – genau wie alle anderen.«
Die Miene des Wirts verdüsterte sich. »Vom Hellen Haufen könnt Ihr nicht sein«, brummte er, »sonst wärt Ihr da draußen und würdet Euch nicht hier in der Sicherheit der Mauern herumdrücken. Alle jungen Männer stehen im Kampf... auf welcher Seite seid Ihr?«
Balzer zeigte dem Wirt ein schiefes Lächeln. »Auf meiner«, gab er unbeirrt zurück. »Ich bin weder Bauer noch Edelmann, darum kümmern mich die Streitereien nicht, denen sie sich im Augenblick hingeben.«
Nun machte der Wirt ein grimmiges Gesicht. »Streitereien?«, fuhr er Balzer an. »Was erlaubst du dir, Bube? Ich habe kein Verständnis für deinesgleichen. Sofort verlass mein Haus. Dir biete ich weder Speise noch Trank. Und eine Frau, die so einen kennt –«, er wandte sich an Anna Elisabeth, »die kann ich auch nicht verstehen! Mag sein, dass ich mich in Euch geirrt habe!«
»Das habt Ihr nicht, Herr Wirt«, antwortete Anna Elisabeth mit einem strafenden Blick auf Balzer. »Dieser hier ist mir auf der Reise begegnet und hat mich eine Zeit lang in seinen Schutz genommen, als ich dessen bedurfte. Doch das ist nun vorbei, und ich brauche seine Begleitung nicht mehr.«
»Was zu beweisen wäre«, warf Balzer dazwischen. »Wisst Ihr, Herr Wirt – ein Lanzknecht dient dem Herrn, der am besten zahlt. So hab ich es immer gehalten.«
»Ach so.« Der Wirt machte einen knappen Bückling. »Dann nichts für ungut, Mann. Seid Ihr aus dem Schweizerland?«
Balzer legte den Kopf schief. »Wie’s gefällt.«
Seine Antwort war dem Wirt rätselhaft. Aber Anna Elisabeth hatte verstanden. Sie musste lächeln, trotz ihrer immer mehr anwachsenden Angst. »Magst du nicht verraten, wo deine Heimat ist, Balthasar?«, fragte sie ihn lauter, als es notwendig gewesen wäre.
Balzer grinste. »Wie kann ich verraten, was ich selber nicht weiß«, parierte er. »Man hat mir nie gesagt, wo meine Mutter mich geboren hat.«
Die Männer, die stumm zugehört hatten, mischten sich ein. »Es geht das Gerücht, dass viele aus dem Bauernlager zu den Knechten des Schwäbischen Bundes übergelaufen sind«, sagte der eine, ein alter Graubart in ärmlicher Kleidung. »Seit der großen Niederlage vor Böblingen werden es immer mehr, die sich vom Truchsess anwerben lassen.«
»Wundert’s dich, Melchior?«, fragte sein Banknachbar, ein ebenso alter Kerl mit wettergegerbtem Gesicht und einer mächtigen Adlernase. »Beim Truchsess gibt’s mehr zu gewinnen als nur die Zulassung der Zwölf Artikel.«
»Und was sollte das wohl sein?« Der Dritte auf der Bank reckte sich kämpferisch auf. »Ich würde auch heute noch meine Knochen hinhalten für die Sache – könnte ich sie so rühren wie früher!«
Er war ein steinalter Mann mit trüben Augen und tausend Falten in dem eingefallenen Gesicht. Die anderen warfen ihm einen missbilligenden Blick zu. »Du hast dein Leben lang gebuckelt, Kunz«, sagte der mit der Adlernase. »Sonst wärst du beim Bundschuh gewesen wie dein Bruder.«
»Ja, mein Bruder, mein Bruder...« Der Alte ließ die Schultern wieder hängen. »Aber was hätte ich denn tun sollen damals? Ich konnte doch Mutter und Geschwister in der Not nicht allein lassen ...«
Draußen auf der Gasse näherten sich Hufschläge. Anna Elisabeth sah durchs Fenster, wie ein Reiter vom Pferd glitt und dabei beinahe stürzte. Dann wurde die Tür aufgestoßen. Ein blut- und dreckbesudelter Mann – Albrecht – taumelte in die Gaststube. Er kam geradewegs auf Anna Elisabeth zu. Als er den Tisch erreicht hatte, lehnte er sich erschöpft gegen die Wand. »Unser Angriff ist abgeschlagen«, keuchte er, »wir mussten uns zurückziehen ... und ...«
Die Beine gaben unter ihm nach, er rutschte langsam zu Boden. Eine Blutspur blieb an der Wand zurück. Anna Elisabeth sprang auf und ließ sich neben ihm auf die Knie nieder. »Albrecht«, stieß sie hervor, »du bist ja verwundet ... !«
Sein Blick ruhte zärtlich auf ihr. »Nicht sehr ...«, sagte er atemlos, »es ist ... nur ein Hieb, der schlecht getroffen hat. Ein bisschen Ruhe ... und es wird mir ... wieder gut gehen.«
Anna Elisabeth drehte sich zum Wirt um. »Rasch«, befahl sie, »ruft einen Wundarzt. Mein Gemahl braucht Hilfe!« Dann sprach sie Balzer an. »Sitz nicht einfach da – hilf mir, ihn hinauf in die Kammer zu bringen!«
Balzer folgte gehorsam. Doch er musste sich nicht bemühen, denn Albrecht war schon wieder aufgestanden. Schwankend stieg er, gestützt von Anna Elisabeth, die steile Treppe hinauf. Oben ließ er sich erschöpft auf das Bett sinken und schloss die Augen.
Der Wundarzt, ein Bader aus der Nachbarschaft, war Augenblicke später zur Stelle. Er betrachtete die Wunde und bestätigte dann, was Albrecht gesagt hatte: »Ein Schnitt durch den großen Schenkelmuskel – nicht gefährlich. Ihr habt wahrscheinlich nur viel Blut verloren. Ich hefte die Wunde zusammen und lege Euch einen festen Verband an. In ein paar Wochen seid Ihr wieder wohlauf, Herr.«
»Werde ich reiten können?«, wollte Albrecht wissen.
»Ich würde Euch vorerst nicht dazu raten«, sagte der Bader, »aber –« »Was – aber?« In Albrechts Stimme schwang beinahe schon wieder die alte Energie mit.
»Nun – es wird einige Zeit dauern, bis die Wunde verheilt ist. Sollte sie vorher wieder aufbrechen, weiß ich nicht, was geschieht...«
»Es wird schon gut gehen.« Albrecht nickte. »Macht Euch an die Arbeit.«
Der Bader brummte ein paar unverständliche Worte in den Bart. Dann begann er sein Werk. Anna Elisabeth sah ihm zu und versuchte, ihren ausgestandenen Schrecken zu vergessen. Als der Bader bezahlt war und wieder ging, schickte sie Balzer, der still in der Ecke gestanden hatte, ebenfalls hinaus. Dann ließ sie sich an Albrechts Seite nieder. »Nun wirst du nicht mehr weggehen«, sagte sie mit einem tiefen Atemzug. »Du hast deine Pflicht getan und gehörst jetzt mir allein.«
Er hob den Kopf und lächelte schmerzlich. »Noch nicht, meine Liebste«, widersprach er ihr. »Wenn die Nacht sinkt, ziehen die restlichen Männer der Schwarzen Schar in ein neues Feldlager. Ich bin es den Gefallenen schuldig, bei der Fahne zu bleiben – denn ich lebe ja noch.«
»Ja, du lebst«, sagte Anna Elisabeth. »Und ich will, dass du am Leben bleibst. Auch mir bist du etwas schuldig, Albrecht!«
»Ich hab’s nicht vergessen, Abendstern.« Seine Augen glänzten, als er ihren Blick erwiderte. »Vertrau mir. Nur noch dieses eine Mal. Danach –«
»Vielleicht wird es kein Danach mehr geben, Albrecht!« Ihre Kehle schnürte sich schmerzhaft zusammen, und ein Schluchzen, das tief in ihrer Brust gesessen hatte, brach sich jetzt Bahn. »Wenn du mich liebst, dann gehst du nicht von mir«, sagte sie. »Wenn du mich liebst, dann –«
Er hinderte sie am Weitersprechen. »Oh ja – ich liebe dich«, sagte er, »und viel mehr, als ich dir sagen kann. Aber es gibt noch etwas, ohne das ich nicht leben kann – meine Ehre, Anna.
Die würde ich verlieren, wenn ich Florian Geyer jetzt im Stich ließe.«
Sie schwieg darauf. Sie hatte auch ohne weitere Erklärungen verstanden, dass er seinen Sinn nicht ändern würde. Nach einem langen Augenblick fragte sie tonlos: »Wann also? Wann wirst du gehen, mein Liebster?«
»Noch heute, Anna.«
»Wie viel Zeit bleibt uns, um Abschied zu nehmen?«
»Bis zum Sonnenuntergang. Aber es ist ja kein Abschied – nur ein Lebewohl auf kurze Zeit.« Er streckte die Arme nach ihr aus. »Ich möchte, dass du hier bleibst und auf mich wartest, meine wilde Rose. Hier bist du einigermaßen sicher, und das mildert meine Sorge um dich. Wenn ich wiederkomme –«
»Wenn du wiederkommst ...« Ein zweiter Schluchzer brach aus ihr hervor. »Wenn du wiederkommst, lasse ich dich nie mehr fort«, vollendete sie ihren Satz, »und niemandem werde ich es mehr gestatten, dich von meiner Seite zu reißen – nicht einmal deiner verdammen Ehre!«