
Es war, als laste die Nacht in der Schlafkammer unter dem Schindeldach dunkler und bedrückender auf den Menschen als unten im Wohnraum. Die Schatten lagerten massiger und undurchdringlicher außerhalb des kleinen gelben Lichtkreises, den das Unschlittlicht warf, und das Atmen wurde einem schwer.
Der alte Mann lag auf dem Rücken, das Gesicht gegen die Dachsparren gerichtet, und schien vor sich hin zu dämmern. Seine Brust hob und senkte sich in unregelmäßigen Bewegungen – nach einem nicht mehr erkennbaren Rhythmus. Die Haut seines Gesichts war fahl und pergamenten; seine Augen lagen tief in den Höhlen, beinahe so, als sei er schon gestorben.
Doch er atmete noch. Und jetzt wandte er sich an seine Tochter, die neben seinem Lager die Nacht durchwachte. »Annelies ...«, kam es leise aus seinem dünnlippigen Mund.
»Ja, Vater?« Anna Elisabeth hob den Kopf und sah ihn an. Sie hatte offenbar ein wenig gedöst und war jetzt wieder hellwach.
»Ich ... will, dass du mir ... genau zuhörst ...«, flüsterte der alte Mann. »Ich muss dir noch viel ... sagen ... bevor ich ...«
»Still, Vater.« Anna Elisabeth legte ihm zärtlich den Finger auf den Mund. »Wenn du wieder gesund bist, kannst du mir das alles doch viel besser erzählen. Jetzt solltest du lieber ausruhen. Das Reden strengt dich viel zu sehr an!«
»Nein, nein!« Er richtete den Blick auf Anna Elisabeth; seine Augen sprühten plötzlich kleine zornige Blitze – beinahe so wie früher, wenn er wütend geworden war. »Lass mich ... Anne- lies ...«, fuhr er fort, »mir bleibt ... nicht viel Zeit ...«
»Ach was.« Anna Elisabeth versuchte die lähmende Angst zu ignorieren, die in ihr aufstieg. »Zeit hast du noch mehr als genug. Aber wenn es denn unbedingt sein muss, so rede halt. Ich hör dir zu.«
Der Alte sog die Luft tief in die Lungen. »Ich war nicht allein ... im Loch«, flüsterte er. »Bei mir waren noch drei andere ... junge Männer, die alle Weib und Kinder hatten ...«
»Das überrascht mich nicht«, unterbrach ihn Anna Elisabeth nüchtern. »Der Abt hat nie ein langes Federlesen gemacht, wenn’s um die Abgaben ging.«
»Sie ... sind verhungert ...«, wisperte der Alte, ohne auf den Einwurf seiner Tochter zu achten, »obwohl ich ihnen ... einen Teil von meinem Brot überlassen hatte ...«
»Sie waren jung, wie du schon sagtest«, mischte sich Anna Elisabeth noch einmal ein. »Sie brauchten eben mehr Nahrung als du, Vater.«
»Sie forderten Rache, bevor sie starben ...«, hauchte der Alte atemlos. »Sie wollten Genugtuung ... für ihre Frauen und unmündigen Kinder ...«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Anna Elisabeth. »Aber wir wissen doch auch alle, dass wir machtlos sind, Vater. Niemand kann ihnen zu einem anderen Recht verhelfen als dem, was der Abt ihnen zubilligt.«
»Die Klosterknechte werden den Witwen und Waisen den Todfall abnehmen«, stieß der Alte wild hervor. »Die Kinder und ihre Mütter werden obdachlos sein ... sind es jetzt sicher schon! Aber ihre Männer, ihre Väter schreien ... nach Rache!«
»Du sagtest doch, sie seien gestorben ...«
»Ihre Seelen ... sind es nicht«, keuchte der Alte. »Sie irren umher und finden ... keine Ruhe ... und sie fordern ... Vergeltung...«
»Aber Vater!« Anna Elisabeth versuchte noch einmal, den alten Mann zu beruhigen. »Was redest du denn da? Erst neulich hat der Pfarrer gesagt, dass alle Rache bei Gott liegt.«
»Dummes ... Zeug!« Der Alte versuchte sich aufzurichten, aber es gelang ihm nicht, und er ließ sich wieder in die Kissen zurücksinken. »Gott will vielmehr, dass wir ... handeln ...«, fügte er keuchend hinzu. »Es ist an der Zeit, dass nach seiner ... reinen Lehre ... verfahren wird ...«
Anna Elisabeth schaute ihm besorgt ins Gesicht. »Vater«, bat sie ängstlich, »du musst wirklich versuchen, jetzt ein wenig zu ruhen. Wie willst du dich denn sonst erholen?«
Doch der Alte ließ sich nicht beirren. »Weck den Michel und lass ihn ... nach dem Hannes laufen«, forderte er, und diesmal klang in seiner Stimme der altgewohnte Befehlston mit. »Jetzt ... sofort!«
»Aber der Hannes wird schlafen«, wandte Anna Elisabeth ein.
»Nicht ... wenn ich ihn rufen lass ...«, keuchte der Alte und maß seine Tochter mit einem sehr lebendigen, funkelnden Blick. »Folge, Kind ... !«
Anna Elisabeth zitterte jetzt vor Angst. So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. Sie erhob sich von dem Schemel an der Bettkante, ging zur Tür und rief nach dem Jungen: »Michel ... hier herauf!«
Es dauerte keine drei Herzschläge, bis der Junge die Stiege heraufgerannt kam. »Ja, Annelies?«, fragte er erschrocken.
»Hol mir den Hannes«, trug sie ihm auf, »er soll sofort kommen – der Vater verlangt nach ihm!«
Michel rannte die Stiege wieder hinab. Anna Elisabeth konnte hören, wie unten die Haustür ins Schloss geworfen wurde. Die kleine Gertrud, die im Wohnraum neben dem Herd geschlafen hatte, kam schlaftrunken an den Fuß der Stiege getappt. »Brauchst du mich, Annelies ...?«
»Nein, Kleines – leg dich nur wieder hin.« Es hatte ja keinen Sinn, das Kind zu beunruhigen und um seinen Schlaf zu bringen.
Gertrud verschwand wieder. Anna Elisabeth wandte sich ihrem Vater zu. »Warum soll der Hannes kommen, Vater – um diese nachtschlafende Zeit? Kann das, was du ihm sagen willst, denn nicht doch bis morgen warten?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Nein ...«, murmelte er kaum hörbar, »wenn die Sonn aufgeht ... werd ich ... nit mehr da sein ...«
Anna Elisabeth erschrak von neuem – und diesmal bis ins Herz. »Aber jetzt hörst du auf, mich zu ängstigen, Vater«, sagte sie mühsam beherrscht. »Es ist nicht freundlich von dir, mir solche Furcht einzuflößen!«
»Fass dich«, widersprach der alte Mann und widmete Anna Elisabeth einen halb strengen, halb wehmütigen Blick. »Du bist alt genug, um ohne mich zurechtzukommen. Wirst es leicht schaffen ... weil du aus ... gutem Holz geschnitzt bist ...«
»Schon, Vater – aber noch bist du ja bei mir. Also, was soll der Hannes hier?« Anna Elisabeth hatte immer größere Mühe, ruhig zu bleiben.
»Er muss hören, was ... ich zu sagen hab«, flüsterte der Alte. »Er soll sich sputen ... es eilt ...«
Unten ging die Haustür. Anna Elisabeth erkannte Hannes Rebmann an seinem schweren, ungelenken Tritt. Der kleine Michel war daneben kaum zu hören.
»Komm herauf«, rief Anna Elisabeth die Stiege hinab.
»Da bin ich, Vater«, sagte Hannes, als er ans Bett des Alten getreten war, »was soll ich für Euch tun?«
»Rache ...«, wisperte Anna Elisabeths Vater mit heiserer, kaum noch vernehmbarer Stimme. »Ich will ... dass du Rache nimmst ... für alle, die der Abt von Kaltental ... aufm Gewissen hat...«
Hannes brauchte einen Augenblick, bis er den Sinn dieser Worte verstanden hatte. Dann nickte er. »Wir alle haben uns das schon geschworen«, sagte er bedächtig, »alle jungen Männer aus den Dörfern, die zum Kloster gehören. Braucht uns darum nicht zu mahnen, Vater ...«
»Sie haben uns ... seit Menschengedenken ausgeplündert ...«, wisperte der alte Mann und heftete seinen plötzlich wild funkelnden Blick auf Hannes Rebmann. »Nun ist’s Zeit ... dass alles anders wird ...« Er streckte seinem zukünftigen Schwiegersohn die abgezehrte Hand entgegen. »Der Bauer steht auf... im Land ...«, stieß er hervor, »hab’s gehört von den andern ... die mit mir im Loch saßen ...«
»Recht, Vater«, sagte Hannes, »macht Euch keine Sorgen. Der Bauer will sich nun nicht mehr ducken lassen. Werdet nur Ihr recht bald gesund – dann sollt Ihr’s erleben!«
»Gesund?«, der alte Mann verzog das Gesicht zu einem hohlwangigen Grinsen, so dass sein hageres Antlitz beinahe einem Totenkopf ähnelte. »Meine Zeit ... ist um ... Hannes. Knie nieder ... du auch, Annelies ... !«
Er winkte mit der Rechten, brachte fast noch so etwas wie eine herrische Geste zustande. Ohne nachzudenken kam Hannes Rebmann der Aufforderung nach, während Anna Elisabeth zögerte.
»Auch du ... Tochter«, wiederholte der Alte mit Nachdruck.
Anna Elisabeth ließ sich neben Hannes Rebmann auf die Knie nieder. Ihr Vater senkte seine knochige Rechte auf ihren Scheitel. Die Linke legte er auf Hannes’ schlichten blonden Schopf. »Meinen Segen ... gebe ich euch, Kinder ...«, sagte er mit tonloser, atemlos klingender Stimme. »Ihr sollt eins sein ... wie ich es beschlossen habe ... vor langer Zeit ...«
Er musste Atem schöpfen, brauchte einen Augenblick, bevor er weitersprechen konnte. Anna Elisabeth hob den Kopf, so dass seine Hand von ihrem Haar abglitt. »Vater, was soll das?«, fragte sie entsetzt. »Warum tust du das – mitten in der Nacht?«
»Schweig«, befahl der alte Mann ungerührt. »Ich gebe dir, Hannes Rebmann, meine einzige Tochter ...«, fuhr er fort. »Was mein ist, soll dein sein ... Annelies’ Erbe gehört dir ... sobald ich ... die Augen schließe ...« Er holte tief Atem. »Schwör ... dass du es treulich ... verwalten wirst ...«
»Das schwöre ich, Vater«, sagte Hannes ernst. »Sorge dich nicht. Aber du sollst noch lange leben ...«
Der Alte schien ihm nicht zugehört zu haben. »Du, Anne- lies«, flüsterte er mit schwindenden Kräften, »du sollst dem Hannes untertan sein ... sollst ihm das Haus treulich führen ... schwör auch du ... mein Kind ...«
»Aber Vater!« Anna Elisabeth sprang vom Boden auf und starrte ihn wild an. »Was tust du mir denn an? Noch lebst du ja, und es gibt nicht den geringsten Grund, warum du jetzt schon deinen Nachlass verteilen solltest –«
»Annelies ...« Der alte Mann versuchte sich aufzurichten. Er streckte ihr seine dürre Hand entgegen. »Ich will, dass du ... dass du ...«
Er rang nach Luft. Sein Mund öffnete sich weit – ein pfeifender Ton kam über seine dünnen Lippen. Sein Blick irrte von ihrem Gesicht ab und wanderte zu Hannes, der noch am Boden kauerte. »Ich will ...«, wiederholte er mühsam, »ich will ...«
Ganz plötzlich brachen seine Augen. Er sackte in sich zusammen, sein Kopf rollte zur Seite, und kein Atemzug hob mehr seine Brust. Es dauerte mehrere Herzschläge, bis Anna Elisabeth begriffen hatte, dass ihr Vater die Welt der Lebenden verlassen hatte.
Er war gestorben – einfach so. Sie ließ sich neben seinem Lager auf die Knie sinken, bettete die Stirn auf die Bettkante und begann lautlos zu weinen. Sie nahm kaum wahr, dass Hannes wieder aus dem Haus ging. Erst nach einer langen Weile war sie in der Lage, sich zu erheben, die Totenkammer zu verlassen und all die Arbeiten in Angriff zu nehmen, die jetzt getan werden mussten.
Gertrud half ihr, den Toten zu waschen und in sein Leichenhemd zu kleiden. Als die Nachbarinnen, von Hannes hergeschickt, in Anna Elisabeths Haus eintrafen, war das bereits geschehen. Gemeinsam legten sie den Hausvater auf das hergeschaffte Totenbrett und schafften ihn in die Wohnstube hinunter, wo er aufgebahrt wurde. Sie warteten schweigend auf den Pfarrer, der, geführt von einem der Nachbarskinder, schon sehr bald erschien und den Toten aussegnete. Doch danach waren Anna Elisabeth, der Michel und die kleine Gertrud wieder allein im Trauerhaus.
Langsam tröpfelte die Zeit dahin. Das Kind unterhielt das Feuer auf dem Herd, für das der Michel immer wieder die nötigen Scheite hereinschaffte. Anna Elisabeth bereitete für sie alle eine dünne Hafersuppe. Kurz vor Mittag kam Hannes Rebmann, und mit ihm erschien eine Schar von etwa dreißig Mann – alle zu einem längeren Fußmarsch angetan und mit selbst gefertigten Waffen ausgerüstet.
»Er wollte Rache«, sagte Hannes, »und es soll nach seinem Willen gehen.« Die Männer, die mit ihm gekommen waren, bekundeten ihr Einverständnis durch finstere Blicke und unverhohlen geballte Fäuste.
»Was habt ihr vor?«, fragte Anna Elisabeth mit zitternden Lippen.
»Noch heute lässt der Klostervogt Federn«, knurrte der Schweineheinz, der gleich hinter Hannes stand und seine Waffe, eine auf einen langen Stecken montierte Sichel, mit knochiger Faust gepackt hielt.
»Er soll genau die Kälte spüren, wie die Männer im Loch sie gespürt haben«, sagte der Schmiedejörg grimmig.
»Aber danach wollen wir ihm zum Tanz aufspielen, dass ihm ordentlich warm werden soll«, ergänzte Hans der Sackpfeifer aus dem Nachbardorf. Die anderen lachten und schwenkten ihre Sensen, Dreschflegel und auf Stangen aufgesetzten Haumesser.
»In ein paar Stunden sind wir wieder hier«, meinte Hannes Rebmann. »So lange musst du ohne einen Mann im Haus zurechtkommen, Annelies. Wirst du’s können?«
Anna Elisabeth nickte. Irgendwie war ihr das, was da gerade besprochen worden war, völlig gleichgültig. Ihr Vater lag auf der Totenbahre – alles andere zählte nicht. Schmerz und Trauer überlagerten jegliches andere Gefühl – nur eines nicht: die Sehnsucht nach Albrecht.
Mit leeren Blicken sah sie der kleinen Truppe nach, die unter Hannes Rebmanns Führung durch den Schnee davonstapfte. Die Männer wollten das Kloster überfallen, wollten Vergeltung für die Übergriffe der letzten Zeit. Sie waren jetzt zornig genug, um zurückzuschlagen. Sonderbarerweise fühlte sich Anna Elisabeth von dem überaus gefährlichen Vorhaben überhaupt nicht berührt ...
Sie setzte sich auf den Schemel an der rechten Seite der Totenbahre. Wie still und steinern ihr Vater dalag – gerade so, als ginge auch ihn der ganze Aufruhr unter den Dorfbewohnern jetzt gar nichts mehr an. Dabei war doch er es gewesen, der in den letzten Augenblicken seines Lebens eben diesen Aufruhr geschürt und zu heller Flamme angefacht hatte!
Anna Elisabeth wischte sich über die Augen. Ihr Vater war immer ein ruhiger, entschlossener Mann gewesen, besonnen und durchaus friedfertig. Aber was er kurz vor seinem Tod gesagt hatte, das hatte nicht milde geklungen.
Andererseits – wer wusste schon, was der Vater während seiner Gefangenschaft beim Klostervogt erlebt hatte? Wer konnte die Gründe nennen, die ihn zu seinen Rachegedanken bewogen hatten? Unwillkürlich kam Anna Elisabeth der sonderbare Fremdling in den Sinn, der vor Weihnachten kurz in ihrem Haus zu Gast gewesen war: Joos Fritz, der von den Zwölf Artikeln gesprochen hatte und davon, dass allen Christenmenschen die gleiche Freiheit zustand. Vielleicht waren es diese Gedanken, die den Vater in seinen letzten Lebensstunden bewegt hatten ...
Joos Fritz hatte damals von Widerstand berichtet, von Bauernheeren, die sich sammelten, von Verhandlungen, die angesetzt waren. Auch hier in ihrem Heimatdorf hatte sich eine Gruppe von Männern zum Widerstand zusammengetan. Und Hannes Rebmann, ihr eigener Verlobter, war Anführer dieses bewaffneten Haufens. Jetzt, in diesem Augenblick, marschierten die Männer gegen den eigenen Grundherrn, um sich zum ersten Mal seit Menschengedenken für ein Unrecht zu rächen, das ihnen angetan worden war.
Anna Elisabeth fröstelte. Sie wandte den Blick von dem starren Antlitz ihres Vaters ab. Nicht nur er hatte ihr in seinen letzten Augenblicken Furcht eingeflößt; es war überhaupt beängstigend, was in letzter Zeit geschah. Für Anna Elisabeth hatte die Angst zwar bis jetzt kein Gesicht. Sie war körperlos, namenlos, wesenlos. Aber sie war da und hing bedrohlich wie ein riesiger schwarzer Schatten über ihrem Leben.
Wie beiläufig wischte sie sich eine Träne von der Wange, die ihr nicht die Trauer, sondern ein schmerzhaftes Gefühl der Verlassenheit abgepresst hatte. Albrecht, dachte sie, wenn du doch jetzt bei mir sein könntest ... dann wäre alles ganz leicht zu ertragen ...
Es klopfte an der Tür. Michel machte auf. Draußen stand ein junger Mann in einem dicken, mit Kaninchenfell gefütterten Wollmantel, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und begehrte Einlass.
»Was wollt Ihr denn?«, fragte der Michel.
»Ich bringe eine Botschaft«, sagte der Fremde. »Ist es gestattet, einzutreten?«
Der Michel warf einen unsicheren Blick auf Anna Elisabeth, die mit gesenktem Kopf neben der Bahre saß und sich nicht geregt hatte. »Ihr seid in einem Trauerhaus«, wies er den Fremden ab. »Geht fort und kommt ein andermal wieder!«
Doch der junge Mann ließ sich nicht so leicht entmutigen. »Frag erst deine Herrin, ob sie nicht doch mit mir sprechen will«, forderte er, diesmal im Befehlston.
Und der Michel konnte nicht anders als gehorchen. »Draußen steht einer, der will eine Botschaft bringen«, sagte er zu Anna Elisabeth. »Soll ich ihn hereinlassen ... oder lieber nicht?«
Anna Elisabeth schien nicht gehört zu haben. Sie gab keine Antwort. Doch der fremde junge Mann war auch ohne Erlaubnis einfach in die Stube eingetreten und hatte die Kapuze vom Kopf gestreift.
»Christoph«, sagte Anna Elisabeth mit zitternden Lippen.
»Dies soll ich übergeben«, erwiderte Albrechts Bruder und zog einen eng zusammengerollten Papierbogen aus seiner Gürteltasche. »Ich hoffe, es kann Euch von Nutzen sein ...«
»O Christoph!« Anna Elisabeth streckte die Hand aus, nahm das Papier entgegen, konnte es kaum halten, so sehr bebten ihre Finger. »Ist es ... von ihm?«
Christoph nickte stumm. Er hatte sich dem Toten zugewandt und betrachtete ihn einen Augenblick. »Wie ist das gekommen?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.
»Er war alt«, antwortete Anna Elisabeth, »und die Kälte setzte ihm sehr zu ...« Sie konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, denn er würde sie an Albrecht weitergeben, und Albrecht sollte sie auf keinen Fall erfahren. Es genügte, dass die Männer der umliegenden Dörfer Krieg gegen das Kloster führten. Der Wolf von Weißenstein musste nicht auch noch beteiligt werden.
Christoph gab sich zufrieden. »Darf ich mich setzen?«, fragte er. »Ich soll auf Antwort warten, wisst Ihr.«
»Ja, natürlich«, gab Anna Elisabeth zurück. »Michel – reiche unserem Gast einen Becher Bier und ein Stück Brot dazu ...«
Der Junge tat beflissen, was ihm aufgetragen war. Christoph nahm Brot und Bier entgegen und ließ sich auf dem Rand des Herdes nieder, während Anna Elisabeth das Papier entrollte und mühsam zu buchstabieren begann:
»Mein geliebtes Leben«, flüsterte sie tonlos vor sich hin, »die Sehnsucht lässt mich nicht ruhen. Gib meinem Bruder Nachricht mit, wann wir uns wiedersehen können, und lass es bald sein, sehr bald. Sonst sterbe ich. Der Deine für immer, Albrecht«
Ihr Herz hämmerte plötzlich so hart, als wolle es ihr die Brust sprengen. Albrecht, dachte sie, Albrecht – mir geht es ja nicht anders, Liebster. Aber wie soll ich es ändern?
Ihr Blick fiel auf das stille Antlitz ihres Vaters. Der hatte noch versucht, ihr Verlöbnis mit Hannes Rebmann zu erneuern. Aber sie hatte ihr Einverständnis nicht mehr geben müssen. Der Tod war ihrem Vater zuvorgekommen ... und jetzt ...
Anna Elisabeth stand auf, ging zum Herd und suchte ein Stückchen Holzkohle aus der Asche. Dann legte sie das Papier auf den Tisch am Fenster, glättete es säuberlich und malte ihre Antwort unter Albrechts klare Schriftzüge:
»Über morgen . ufm kirghoff . zum begrepnis meins faters . O kom . ich wart . di deine uf immer . ana«