Die Flocken des ersten Schnees sanken langsam und feuchtigkeitsschwer wie nasse Federn vom wolkenverhangenen Himmel. Albrecht, der auf der steinernen Sitzbank in der Fensternische der Kemenate saß, hüllte sich fröstelnd in seinen dicken, mit Wolfsfell gefütterten Mantel und starrte durch das Fensterglas hinaus in die graue Beinahedämmerung. Ein Schwarm Krähen zog vorüber; die rauen Schreie der Vögel klangen ihm wie Kampfrufe, und ihre schwarzen Silhouetten wirkten bedrohlich über den kahlen Wipfeln der Bäume unterhalb des Bergfrieds.

Noch eine Stunde, dann würde er zu Gericht sitzen müssen unten im Dorf. Es hatte Streitereien gegeben zwischen zwei Familien, die schon seit Generationen verfeindet waren – niemand wusste mehr, warum. Diesmal ging es um ein Kalb, das sich wohl verlaufen hatte und im falschen Stall gelandet war. Der Bauer aber, bei dem es sein Besitzer gefunden hatte, wurde nun des Diebstahls bezichtigt.

Albrecht seufzte. Immer das alte Lied. Und der Grundherr war wieder einmal der Prellbock, an dem sich der Zorn der beiden Kampfhähne brechen würde. Eberhart Weißenstein hätte kurzen Prozess gemacht, dachte Albrecht, beiden eine empfindliche Buße auferlegt, das Kalb für sich selbst beschlagnahmt und gegen alles Lamentieren und Toben taube Ohren gezeigt. Wie würde er, Albrecht Weißenstein, es halten?

Er versuchte, zu einer Lösung zu kommen. Aber seine Gedanken wanderten, waren einfach nicht bei der Stange zu halten. Was Anna wohl jetzt tat? Er sah sie noch genau vor sich, wie sie ihm Lebewohl gesagt hatte, neulich, am Martinitag. Sie hatte ihm das Versprechen abgenommen, nie wieder ihren Weg zu kreuzen, und er hatte es gegeben – in der Gewissheit, dass dies nicht wirklich ihr Wunsch war. Der Schimmer von Tränen in ihren Augen hatte es ihm verraten.

Eins war sicher: Er würde sich nicht an sein Versprechen halten. Noch zwei Wochen bis zum Christfest. Wer sollte ihn daran hindern, in ihrem Kirchdorf die Mette zu besuchen? Er würde sie wiedersehen, weil das Leben ohne diese Hoffnung überhaupt nicht zu ertragen war. Die Sehnsucht war allzu groß. Über kurz oder lang würde auch Anna ihren Widerstand aufgeben und einsehen, dass ...

Es klopfte heftig. Albrecht fuhr zusammen und drehte sich um. Christoph streckte den Kopf herein. »Euer Pferd ist bereits gesattelt«, rief der Junge munter, »wenn’s recht ist, begleite ich Euch ins Dorf.«

Albrecht lächelte. Richtig, die kleine Hedwig hielt sich gerade bei ihrer kranken Mutter auf. Christoph hatte sie schon seit drei Tagen nicht mehr gesehen und verspürte die Sehnsucht ebenfalls. »Ich nehme an, du wirst dich während der Verhandlung im Dorf herumtreiben«, stichelte er, »oder willst du bei den Pferden bleiben?«

Christoph lief rot an. »Ich könnte ja nachfragen, wann das Küchenmädchen wieder zurückkommt«, murmelte er.

»Daraus wird nichts werden«, sagte Albrecht und verkniff sich ein Schmunzeln. »Ich reite nämlich heute gar nicht mehr aus.«

Christophs Gesicht verriet riesengroße Enttäuschung. »Und warum nicht, Herr?«

»Du wirst allein hinmüssen«, rettete ihn Albrecht. »Erstens befiehlst du die streitenden Bauern herauf auf die Burg – denn ich werde im Saal Gericht halten –, und zweitens ... Hedwig kannst du gleich mitbringen. Wie ich die alte Magdalene kenne, wird sie sich schon bitter darüber beklagen, dass zu viel Arbeit liegen bleibt.«

Seine Worte bewirkten, dass Christophs Gesicht regelrecht aufleuchtete. »O ja, Herr ... und ich mach mich auch gleich auf den Weg!« Freudestrahlend rannte er davon. Albrecht sah ihm nach und empfand plötzlich ein starkes Gefühl des Neides. Glücklicher kleiner Bastard, dachte er, dir kann niemand verwehren, dich deinem Mädchen zu nähern. Für dich gibt es die Schranken nicht, die ich zu überwinden habe ... nur, weil deine Mutter eine Magd war und keine Edelfrau ...

 

Auch in dem großen Saal im Erdgeschoss des Pallas war es eisig kalt, obwohl in dem mannshohen steinernen Kamin ein gewaltiges Feuer loderte. Albrecht hatte den steillehnigen Sessel seines Vaters zwar so dicht wie möglich davor aufstellen lassen, aber das machte ihn auch nicht viel wärmer. Seinen dicken Mantel jedenfalls konnte er nicht ablegen.

Die beiden Bauern, die gerade in wütenden Worten ihren Streitfall vorgetragen hatten, standen nun auf Albrechts scharfe Aufforderung in finsterem Schweigen vor ihm. Der eine – Simon Korbmacher – hatte seine schwarzen Augen auf ihn gerichtet und musterte ihn mit stechendem Blick, während der andere – Kunz vor der Brücke – die Augen niedergeschlagen hatte und so tat, als ginge ihn die ganze Sache nichts mehr an.

Albrecht betrachtete die beiden einen Augenblick. Wie sie so dastanden, die Filzmützen in den schwieligen Händen, die Koller aus graubraunem, hausgewebtem Wollzeug noch mit Wasserperlchen aus getauten Schneeflocken besetzt, ähnelten sie zwei klobigen steinernen Figuren – solchen, die auf dem Rundbogen über dem Portal der Dorfkirche und auf den Kapitellen im Schiff des kleinen Gotteshauses dargestellt waren – Bauern, wie schon die Bildhauer vor mehr als vierhundert Jahren sie gesehen hatten. Aber den zwei Männern, die hier ihren Richterspruch erwarteten, fehlte die heiter naive Demut der Gestalten am Kirchenportal. Kunz und Simon zeigten etwas, das den Bauern in den alten Zeiten noch nicht eigen gewesen war: mangelnde Ehrerbietung.

Albrecht empfand plötzlich Zorn. »Und ihr wagt es, mir mit dieser unsinnigen Geschichte die Zeit zu stehlen?«, fuhr er die Bauern an. »Glaubt ihr denn, ich hätte nichts Sinnvolleres zu tun, als mir stundenlang eure haltlosen Beschuldigungen anzuhören?« Er reckte sich, richtete den Rücken an der unbequemen Lehne des Sessels auf. »Seht mich an, wenn ich mit euch rede!«

Kunz folgte widerwillig dem Befehl und hob den Kopf.

Albrecht fixierte ihn scharf. »Außer der Tatsache, dass das Kalb in Simons Stall aufgefunden wurde, hast du also keine andere Begründung dafür, dass du Simon des Diebstahls bezichtigst?«

Kunz brummte etwas in den Bart.

»Sprich deutlich, zum Teufel!«

»Er hat’s gestohlen«, sagte Kunz. »Seine ganze Sippschaft besteht aus Diebsgesindel seit Menschengedenken.«

»Dreckiger Bankert«, schrie Simon, von neuem aufs Äußerste gereizt. »Ich wollte, ich hätte dein Kalb abgestochen – sobald sich das blöde Vieh zu mir verlaufen hatte ... !«

Albrecht hatte es satt, sich noch länger mit den beiden Streithähnen auseinander zu setzen. Er warf einen müden Blick auf die Zuhörer, eine kleine Gruppe von Leuten aus dem Dorf, die an der Tür standen und der Verhandlung bis jetzt stumm gefolgt waren. »Nichts, was ihr vorgebracht habt, überzeugt mich«, sagte er dann, »weder, dass es dir zugelaufen ist, Simon, noch dass es dir gestohlen wurde, Kunz. Und darum sollst du, Kunz, das Kalb auch nicht zurückbekommen. Ich bestimme, dass es dem Findelhaus übergeben wird – für die elternlosen Kinder zum Braten am Weihnachtsfest.«

»Was?«, schrie Kunz. »Das soll Eure Gerechtigkeit sein, Herr? Ihr nehmt mir mein Eigentum?«

Simon lachte. »Merke auf, elender Lügner«, giftete er seinen Gegner an, »jetzt kriegst du, was du verdienst!«

»Ich bin noch nicht fertig mit meinem Spruch«, sagte Albrecht ruhig. »Simon zahlt eine Strafe von zwei Sack Gerste oder anderem Getreide – ebenfalls zu entrichten an das Findelhaus.« Er musterte die Männer mit kaltem Blick. »Jetzt macht euch hinaus, bevor ich es mir anders überlege und euch eine härtere Strafe angedeihen lasse. Denn allein für eure üblen Nachreden hättet ihr eine solche durchaus verdient.«

Kunz vor der Brücke und Simon Korbmacher schienen zu Salzsäulen erstarrt. Keiner von beiden brachte einen Ton heraus. Die Dörfler hatten schon beinahe alle den Saal verlassen, als Kunz den Mund auftat. »Dies neue Unrecht sollt Ihr uns büßen«, knurrte er Albrecht an, »noch sitzt Ihr sicher auf Eurer Burg – aber es kommen andere Zeiten. Schon bald!«

Simon, plötzlich im Bunde mit seinem eben noch so wütend angefeindeten Gegner, ließ sich ebenfalls vernehmen. »Auch wir haben Rechte«, stimmte er ein. »Lasst Euch sagen – der Bauer wird sich nicht mehr lange gängeln lassen. Dann werden wir in Schlössern wohnen, und Ihr sollt das arme Leben kennen lernen – das schwöre ich Euch, Wolf von Weißenstein!«

Die beiden wollten sich einfach mit den restlichen Zuschauern hinausdrücken, doch Albrecht gab dem Mann, der an der Saaltür stand, einen Wink. Herbrand, einer der altgedienten Burgmannen, hielt sie mit gesenkter Hellebarde auf. »Halt – keinen Schritt weiter!«

Kunz und Simon blieben erschrocken stehen. Auf ihren Gesichtern zeigte sich jetzt doch so etwas wie Furcht. Widerstandslos ließen sie sich noch einmal vor ihren Grundherrn führen.

»Was wolltet ihr mir mit euren bösen Worten sagen?«, fragte Albrecht, während die letzten Zuschauer zögernd den Saal verließen. »Mit welchem Recht unterstellt ihr mir, ich wolle euch gängeln?«

Die beiden antworteten nicht. Kunz, der die deutlichste Drohung ausgesprochen hatte, drehte jetzt ängstlich seine Mütze in den Händen, während Simon die Lippen zusammenkniff und zu Boden blickte.

»Wenn ihr nichts dazu erwidern wollt«, sagte Albrecht, »dann könnt ihr euch im Turm eine Antwort überlegen.« Er sah seinen Getreuen an und gab ihm noch einmal einen Wink. »Führt sie ab, Herbrand.«

Jetzt kam Leben in die zwei Bauern. »Gnade, Herr ...«, murmelte Kunz vor der Brücke. »Wir bitten demütig um Vergebung«, setzte Simon Korbmacher dazu.

Albrecht bekämpfte seinen Unmut. Er wollte die unerfreuliche Verhandlung nicht noch verlängern. »Bereut ihr eure üblen Bemerkungen?«, wollte er von ihnen wissen.

Die beiden nickten stumm. Doch in Kunz’ Augen glimmte es, während Simon den Blick seines Grundherrn nicht erwiderte.

»Dann soll euch vergeben sein«, sagte Albrecht tief durchatmend, »obwohl ihr es nicht verdient habt. Haltet Kalb und Getreide für morgen früh bereit – ich lasse alles abholen.«

Simon und Kunz waren schlagartig wieder die Alten, das konnte Albrecht daran erkennen, dass sich ihre Körperhaltung veränderte. Die Schultern der beiden Kerle strafften sich, und Kunz schob kämpferisch das Kinn vor.

»Wohl, Herr«, sagte Simon, »und wir danken für Eure Milde ...«

Das letzte Wort hatte er abfällig ausgesprochen – es klang wie ausgespuckt. Kunz nickte. »Wir werden es Euch zu vergelten wissen«, fügte er grimmig hinzu.

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Albrecht. Auch er legte einen spöttischen Ton in seine Bemerkung, doch er fühlte sich nicht wohl dabei. »Nun geht mir aus den Augen«, fügte er hinzu, »ich hoffe, euch nicht so bald wiederzusehen!«

Herbrand trat beiseite und ließ die Bauern passieren. Als sie fort waren, wandte er sich seinem Herrn zu. »Es braut sich was zusammen da unten im Dorf«, sagte er zu Albrecht. »Abend für Abend hocken die Leute im Wirtshaus und reden sich die Köpfe heiß – besonders die jungen Kerle. Und wenn einer von uns Burgleuten dazukommt, verstummen sie alle. Das war früher nicht so, Herr ...«

»Dass sie im Wirtshaus saßen?« Albrecht schüttelte den Kopf. »Daran ist doch nichts Ungewöhnliches!«

»Nein, Herr.« Herbrand kratzte sich den grauen Stoppelbart und fuhr mit dem Finger einmal um den Halsausschnitt seines ledernen Kollers, als sei ihm der Kragen zu eng. »Aber früher haben sie gelacht und ihre Zoten gerissen. Und heute ...«

»Was ist heute?«

»Sie tuscheln und tauschen irgendwelche geheimen Botschaften aus«, gab Herbrand zurück. »Mir scheint, sie empfangen sogar Nachrichten von weit her. Denn erst gestern sah ich auf dem Fensterbrett im Wirtshaus ein Flugblatt liegen.«

Albrecht wunderte sich nicht darüber. »Mag schon sein. Aber keiner aus dem Dorf kann lesen«, antwortete er. »Irgendein Gast wird es liegen gelassen haben.«

»Es ist nicht das erste Flugblatt«, widersprach Herbrand. »Seit kurzem wohnt im Krug ein Scholar, der ihnen die Zeitungen vorliest.«

»Und was sind das für Blätter?«, fragte Albrecht müde. »Doch sicher die üblichen Berichte von Kälbern mit zwei Köpfen oder ähnlichen Wunderdingen.«

»Nein, Herr«, sagte Herbrand. »Im Schwarzwald haben sich Bauern gegen ihre Herren erhoben – davon berichten die Blätter.«

Albrecht wischte sich über die Augen. Er zuckte die Achseln. »Der Florian Geyer sprach mir schon davon«, sagte er nachdenklich. »Wie dem auch sei – hier in der Herrschaft Weißen- stein liegen die Dinge anders. Ich unterdrücke meine Bauern ja nicht – im Gegenteil. Ich bin auf ihrer Seite ...«

»Aber Ihr nennt sie auch ›Eure Bauern‹«, erwiderte Herbrand.

»Aus alter Gewohnheit.« Albrecht zog noch einmal die Schultern hoch. »Und sie sind ja tatsächlich meine Schutzbefohlenen. Ist es nicht so?«

»Sicher.« Herbrand nickte. »Doch die Bauern mögen das anders sehen. Sie fühlen sich abhängig – und sind es auch, wenn man’s genau betrachtet. Was ihr Leben und ihre Arbeit betrifft, so trefft doch Ihr alle wichtigen Entscheidungen.«

»Und welche sollten das sein?« Albrecht verstand nicht recht. »Sie entscheiden immer selbst, wann sie pflügen und säen und ihre anderen Arbeiten verrichten.«

»Das ist es nicht, was ich meinte«, gab Herbrand zurück. »Ihr bestimmt die Höhe der Abgaben. Ihr müsst erst zustimmen, wenn Holz geschlagen werden soll. Ihr habt das Jagd- und Fischrecht allein. Ihr gebt Erlaubnis zur Eheschließung, und Ihr habt das letzte Wort bei allem, was wirklich Gewicht hat.«

»Ja. Ich bin für meine Bauern die Obrigkeit«, erwiderte Albrecht nachdenklich, »aber ich entscheide doch stets zugunsten meiner Untergebenen.«

Herbrand sagte nichts dazu. Aber seine Miene war sorgenvoll, als er auf Geheiß seines Herrn den Saal verließ. Er musste an den verstorbenen Burgherrn Eberhart denken, der mit seinen Hintersassen weitaus grober umgesprungen war, als sein Sohn es jetzt tat, und sich keinen Deut um Gerechtigkeit geschert hatte. Das konnten die Bauern von Weißenstein weder vergessen noch vergeben haben. Vielleicht setzten sie darum weit weniger Vertrauen in den jungen Burgherrn als er, Herbrand, ihm entgegenbrachte. Man würde auf der Hut sein und die Augen offen halten müssen – so viel war gewiss …