LICHTMESS

Die Männer waren den ganzen Weg meist schweigend voran- gestapft; nur die nötigsten Worte waren gewechselt worden. Und jetzt, da das kleine, burgähnliche Gebäude in Sicht gekommen war, in dem der Klostervogt residierte, verstummten auch die letzten spärlichen Gespräche. Schließlich hielt Hannes Rebmann, der den kleinen Zug führte, seine Truppe mit einem Handzeichen an.

»Männer«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »wir wissen alle, wozu wir hier sind. Sollte einer von euch es sich anders überlegt haben und nicht mehr an unserem Unternehmen teilnehmen wollen, so kann er jetzt umkehren. Keiner wird’s ihm übel nehmen, denn die Gefahr, dass wir’s nicht packen, ist hoch.«

Niemand meldete sich. Überall nur entschlossene Gesichter, finstere Mienen und kampfbereit vorgeschobene Kinne. »Gut denn«, sagte Hannes, »also bleiben wir beisammen.« Er sah sich um. »Hat einer noch einen Einwand – oder wollen wir’s so angehen, wie wir’s besprochen haben?«

Auch jetzt keiner, der sich zu Wort meldete. Der Schmiedejörg grinste. »Darauf kannst einen lassen«, knurrte er. »Wir machen’s genauso – vielleicht sogar noch besser.«

Einige der Männer lachten. »Wie viele sind wir eigentlich?« wollte der Schweineheinz wissen. »Durchgezählt haben wir bis jetzt noch nicht...«

»Wir sind ja auch nicht deine Schweine«, gab der Schmiedejörg zurück.

Diesmal lachten die meisten der Männer. Nur Hannes Rebmann zeigte ein grimmiges Gesicht. »Ich hab gezählt«, sagte er. »Wir sind fünfundvierzig – zehn mehr als der Klostervogt in seiner Meute hat.« Er hob den Arm und machte eine herrische Geste. »Los, ihr Kerle – zeigen wir’s den Memmen. Und keine Schonung für die Verlierer – verstanden?«

Beifälliges Gemurmel antwortete ihm. »Keine Schonung«, bestätigte der Schmiedejörg, »das versteht sich von selbst!«

Sie marschierten weiter. Vor dem Portal des Vogtshofes hielt Hannes Rebmann seine Truppe an und ließ sie Aufstellung nehmen. Die Männer maßen ihn mit verwunderten Blicken, denn bis jetzt hatte er diese Art von Ordnung noch nicht von ihnen verlangt. Aber sie folgten ohne Murren und bauten sich in drei Reihen auf.

Hannes Rebmann bediente den mächtigen eisernen Klopfring an der kleinen Schlupftür, die in das Tor eingelassen war. Lange Augenblicke vergingen. Schließlich öffnete sich das Fensterchen in der Schlupftür, und ein grauer Kopf lugte heraus. »Wer da?«, polterte der alte Pförtner.

»Eine Abordnung mit Getreide«, sagte Hannes Rebmann, indem er einen deutlich demütigen Ton in seine Stimme legte. »Wir wollen die Abgabe leisten. Öffnet das Tor.«

»Hmmm ... !« Der Pförtner räusperte sich und spuckte im hohen Bogen aus dem Fensterchen in den Schnee. Dann zog er den Kopf ein und klappte das Fensterchen erst einmal wieder zu. Die Männer hörten ihn rumoren; ein Schlüssel klirrte und drehte sich quietschend im Schloss der Schlupftür. Dann war der Weg in den Hof frei.

Hannes verbeugte sich vor dem Pförtner. Doch in der gleichen Bewegung mähte er den alten Mann mit einem gut gezielten Faustschlag nieder. »Hinein jetzt«, zischte er dem Schmiedejörg zu, »schnell – ehe wir gesehen werden!«

Der Jörg nickte und winkte auch dem Schweineheinz, mit den restlichen Leuten nachzukommen. In einer Reihe schlängelten sich alle hintereinander durch das Pförtchen in den Hof der Vogtei. Erst als alle drinnen waren, wurden sie von den Wachen bemerkt. Zwei Klosterknechte tauchten aus der Wachstube auf und näherten sich langsam.

»Was wollt ihr?«, schnauzte der Ältere der beiden Hannes Rebmann an, »Und wer hat euch überhaupt hier hereingelassen?«

Hannes würdigte ihn keiner Antwort auf diese Frage. »Wir fordern Schadenersatz für die Unbill, die wir in letzter Zeit von Euch zu erdulden hatten«, erwiderte er gleichmütig. »Außerdem werdet Ihr auf der Stelle die Gefangenen freilassen, die jetzt noch hier im Loch sitzen. Wo nicht –«

»So tut ihr was?«, unterbrach ihn der jüngere Klosterknecht mit einem schiefen Grinsen.

»Unverschämtes Bauernpack«, ereiferte sich der ältere Wachposten, »woher nehmt ihr die Frechheit, hier einzudringen und solche Forderungen zu stellen? Sogleich sollt ihr erfahren, was wir mit Tölpeln wie euch –«

Weiter kam er nicht. Der Schmiedejörg hatte ausgeholt und ihn mit einem Schlag seiner selbst gefertigten eisernen Keule niedergestreckt. Ohne einen Laut sank der Vogtsknecht zu Boden. Blut begann von seiner Schläfe in den Schnee zu sickern.

»Ja ... da soll doch ...« Dem jüngeren Knecht versiegten die Worte. Er riss den Mund auf. Mehrere Atemzüge lang stand er wie gelähmt, denn ihm war es offenbar noch niemals vorgekommen, dass ein Bauer gegen einen Klosterknecht gewalttätig geworden war. Doch dann holte er tief Luft. »Zu Hilfe«, schrie er aus Leibeskräften, »Mord ... !«

Doch auch er bekam nicht viel Zeit, seine Kameraden zu den Waffen zu rufen. Der Schweineheinz brachte ihn mit einem wütenden Faustschlag an den Kiefer zum Schweigen. Laut stöhnend stürzte der Klosterknecht in die Knie, fiel aufs Gesicht, wälzte sich blutend im Schnee.

Aus dem zunächst gelegenen Gebäude kamen weitere Knechte gerannt. Es mochten sieben oder acht sein; die meisten von ihnen hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Mantel überzuwerfen. Als sie der Bauern ansichtig wurden, versuchten sie wieder in das Gebäude zurückzulaufen. »Die sind bewaffnet«, schrie einer von ihnen, »zwei von uns haben sie tatsächlich schon erledigt...!«

Hannes Rebmann schnitt den Knechten den Weg ab. Seine Waffe, eine gerade gebogene und zu einem langen, messerscharfen Spieß umgeschmiedete Sense, zischte durch die Luft und fuhr dem an der Spitze rennenden jungen Vogtsknecht ins Bein. Blut spritzte im Bogen durch die Luft, benetzte andere Knechte, hinterließ leuchtende Flecke auf dem Weiß des Schnees.

Ein Geschrei wehte plötzlich in der Luft – schrille, hohe Töne, wie Raubvögel sie ausstoßen. Aus dem Hauptportal der Vogtei quollen mehr Knechte, und diese waren bewaffnet. Ihre Rapiere klirrten, trafen auf grobe, breite Klingen, wurden abgewehrt, flogen zerbrochen beiseite ...

In die schrillen Kampfrufe mischte sich wüstes Gebrüll. Die Bauern mähten erbarmungslos, wüteten unter den Klosterknechten, die auf einen solchen Überfall nicht gefasst gewesen waren. Schon lagen einige von ihnen bewegungslos im Hof. Dunkel glänzende Pfützen bildeten sich um die Gefallenen; andere, die nur verwundet waren, versuchten in aller Hast beiseitezukriechen. Doch es nützte ihnen nichts – der Schweineheinz war derjenige, der sich ihrer annahm und sie stumm machte.

Hannes Rebmanns Klinge triefte von Blut. Er hatte gerade die vier Wachmänner in die Flucht geschlagen, die als Letzte den Bauern das Eindringen in die Vogtei verwehren wollten, und stand nun auf der Schwelle des Haupteingangs. »Her zu mir«, rief er mit heiserer Stimme seinen Leuten zu, »hier müssen wir hinein – das Loch ist im Keller dieses Gebäudes ...«

»Wir kommen«, brüllte der Schweineheinz zurück, »lass mich nur erst diese Schurken erledigen ... !«

»Richtig«, schrie der Schmiedejörg, dessen Gesicht über und über von feinen Blutströpfchen gesprenkelt war, »wir sind nicht ganz fertig ... ein paar von ihnen wehren sich noch ... !«

»Lasst sie nur laufen«, forderte Hannes Rebmann unwirsch, »sie sind ja besiegt.« Er gestikulierte wild. »Wir hatten uns etwas vorgenommen, Männer – das wollen wir nicht vergessen!«

»Allerdings«, röhrte der Schmiedejörg, indem er einem am Boden liegenden Klosterknecht seine Keule auf den Schädel krachen ließ, »wie Recht du hast! Wir machen reinen Tisch, Hannes!«

»Dann kommt, Brüder«, rief Hannes, »der Weg ist frei ... auf zu den Gefangenen, dass sie erlöst werden!«

Das hatte beinahe wie eine Bitte geklungen. Aber weder der Schmiedejörg noch der Schweineheinz scherten sich darum. Sie und auch die anderen Männer der Bauerntruppe verfolgten die letzten Vogtsknechte, die sich jetzt den Rückzug aus der Pforte erkämpften. Nur mit knapper Not gelang ihnen die Flucht ins Freie.

Dann war das kurze Gefecht zu Ende. Die auf dem Hof liegenden stillen Gestalten waren allesamt der Vogtei zugehörige Knechte. Von den Bauern hatte es keinen getroffen. Nur einige wenige von ihnen waren leicht verwundet, und alle hielten sich stolz und aufrecht, als sie sich jetzt endlich um Hannes Rebmann, den Schmiedejörg und den Schweineheinz sammelten. »Das war leichter, als ich es mir hätte träumen lassen«, sagte ein langer, schmalschultriger Kerl mit Pockennarben auf dem käsigen Gesicht. »Wir hätten uns schon viel früher gegen die Leutschinder wehren sollen ...«

Der Schweineheinz wischte sich die blutbesudelten Hände an seiner schmierigen grauen Wollhose ab. »Besser spät als nie«, knurrte er und spuckte in den Schnee.

»Recht«, sagte der lange Schlaks und spuckte auch. »Jetzt drehen wir den Spieß um ... und sie sollen uns kennen lernen.«

»Haben sie ja schon«, grinste der Schmiedejörg mit einem Blick auf die Toten im Schnee.

Beinahe alle Männer lachten.

»Ich hätte Lust, die Entkommenen zu verfolgen«, meinte einer aus dem Freundeskreis des Schweineheinz. »Was meint ihr?«

»Mir recht«, stimmte der Schweineheinz begeistert zu. Aber Hannes Rebmann schüttelte energisch den Kopf. »In der Wachstube muss der Schlüssel zum Loch zu finden sein«, sagte er. »Los, Brüder – sehen wir nach!«

»Ja – sehen wir nach. Vielleicht ist da auch der Schlüssel zu den Zehntscheunen«, vervollständigte der Schmiedejörg. »Der ist mindestens so wichtig wie der andere!«

Lautes Johlen war seine Antwort. Geschlossen drängten die Männer in die Vogtei. In der Wachstube hielt sich ein steinaltes, gebeugtes Männchen auf. Der Alte drückte sich furchtsam in die Ecke, als Hannes Rebmann und seine Leute auftauchten.

»Die Schlüssel«, forderte Hannes.

Der alte Klosterknecht starrte ihn mit runden, wässrigblauen Augen voller Schrecken an. »Es ist mir nicht erlaubt ...«, begann er zittrig und presste sich noch fester mit dem Rücken an die Wand.

»Die Schlüssel«, wiederholte Hannes noch einmal. Er streckte die blutbefleckte Rechte aus. »Her damit!«

Diesmal gehorchte der Alte. Mit bebenden Fingern angelte er einen schweren Schlüsselbund vom Haken neben der Tür zum Nebengemach und reichte ihn Hannes. »Bitte ...«, sagte er angstvoll, »wollet mich verschonen, Ihr Herren ... !«

Der Schweineheinz brach in wildes Gelächter aus. »So schnell wird man zum Herrn«, spottete er und grinste den alten Vogtsknecht an. »Man braucht sich nur wie ein Herr aufzuführen...«

»Dann fehlt’s aber noch gewaltig bei dir«, lästerte der Schmiedejörg. »Sieh mir zu, Bruder – ich zeig dir, wie man’s macht...«

Er wollte mit gezogenem Messser auf den Alten losgehen, aber Hannes hinderte ihn daran. »Genug«, befahl er grob, »dazu ist jetzt nicht die rechte Zeit.« Er wandte sich an den Alten, der inzwischen vor Entsetzen schlotterte. »Du zeigst uns den Weg zum Kerker – und ohne Verzug!«

»Ja ... ja ... !« Der Alte deutete auf die Nebentür. »Da geht’s hinein, und dann die Treppe hinab ... ins Gewölbe ...«

»Voran, Vogelscheuche«, fuhr ihn der Schweineheinz an. »Beweg die Spindelbeine, du elendes Klappergestell!«

Der Alte gehorchte mit fahrigen, hektischen Bewegungen, immer wieder angstvolle Seitenblicke auf die blutbespritzten Bauern werfend. »Wollet mir folgen ... mit Verlaub ... Ihr Herren ...«, stammelte er.

Hannes Rebmann hob die Hand. »Ich gehe selbst hinunter«, sagte er, »und ich nehme nicht mehr als sechs Mann mit. Ihr anderen haltet hier oben Wache. Es könnte ja sein, dass die Geflohenen sich Verstärkung holen, und ich möchte nicht überrascht werden ...«

Der Schmiedejörg machte ein ärgerliches Gesicht, aber er verstand. »Ist gut, Hannes«, knurrte er. »Beeil dich nur – damit wir alle miteinander die Keller besuchen können!«

Beifälliges Gemurmel unterstrich seine Worte. Hannes nickte. »Los dann«, sagte er und heftete sich dem Alten an die Fersen, der inzwischen die enge Kellertreppe hinuntergestiegen war.

An den gekrümmten, rau verputzten und gekälkten Wänden brannten in kurzen Abständen Kienspäne in eisernen Haltern. Ihr flackerndes Licht zeigte ausgetretene Steinstufen, die steil in die Tiefe führten. Die Treppe mündete in ein Gewölbe, dessen massige Kreuzrippen von mehreren plumpen Pfeilern mit Würfelkapitellen getragen wurden. Am hinteren Ende des Kellers waren zu beiden Seiten Verschläge errichtet, aus denen jetzt, da sich die Männer näherten, Stöhnen und Ächzen zu hören waren: »Wasser ... gebt uns Wasser ... !«

Hannes packte den alten Klosterknecht an der Schulter. Der Mann blieb erschrocken stehen und warf den Kopf herum.

»Mach auf«, fuhr Hannes den Alten an. »Lass alle Gefangenen frei. Wir nehmen sie mit uns.«

»Aber ... sie werden frieren«, wandte der Alte ein, »sie haben kaum etwas auf dem Leib ...«

»In eurer Wachstube finden sich schon Mäntel«, grollte Hannes. »Lass sie aus ihren Käfigen!«

Der Alte näherte sich dem ersten Verschlag und fummelte am Schloss herum. Es fiel ihm deutlich schwer, den richtigen Schlüssel herauszufinden. Ein paar Augenblicke sah Hannes Rebmann untätig zu, dann verlor er die Geduld. Wütend entriss er dem Klosterknecht den Bund, stieß den alten Mann beiseite und probierte es selbst.

Doch auch er fand keinen passenden Schlüssel. »Du wolltest uns hinters Licht führen«, brauste er auf und packte den Alten noch einmal im Genick. »Du hast die falschen Schlüssel mitgenommen, betrügerischer Hund!«

»Nein, Herr, nein!« Der Alte war kreidebleich geworden – selbst im flackernden Licht der Kienspäne konnte man das erkennen. »Es ist der Rost, Herr – die Schlüssel werden ja kaum jemals benutzt ... da setzen sie Rost an ... wie auch die Schlösser ...«

Hannes verstärkte seinen Griff. Dem Alten knickten die Beine ein; eine Pfütze bildete sich unter ihm. Der Schmiedejörg stieß ein gehässiges Lachen aus. »Erbärmlicher Feigling«, spottete er lauthals, »was pisst du dir in die Hosen? Noch hast du ja nichts wirklich Schlimmes getan, weswegen wir dich abstechen müssten!«

Er wühlte in seinem Hosensack und förderte einen langen Haken zutage. »Wenn’s mit dem Schlüssel nicht geht, dann hiermit«, fügte er hinzu und nahm sich das sperrige Schloss vor.

Er brauchte nur einen Moment. Dann öffnete sich quietschend die niedrige Tür des Verschlags. Heraus stolperte eine ausgemergelte Hungergestalt in fadenscheinigen Lumpen – ein Mann von etwa dreißig Jahren, der bis auf Haut und Knochen abgemagert war und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Der Himmel ... lohne es euch ...«, stammelte der Befreite, »Gott möge es euch vergelten ...«

Im Nachbarverschlag saßen vier Männer, alle um die dreißig wie der Erste, und alle ebenso abgemagert. Auch sie hatten nichts auf dem Leib als dünne, vor Schmutz starrende Leinenhemden und wollene Hosen, die von Löchern übersät waren. Und auch sie stammelten Dankesworte.

Im dritten Verschlag lag jemand, der sich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen konnte – ein Mann von unbestimmbarem Alter. Haare und Bart waren ihm schon seit langem nicht mehr geschoren worden und überwucherten jetzt derartig seinen Kopf und seine Schultern, dass nicht einmal mehr seine Gesichtszüge erkennbar waren.

»Wer ist das?«, fragte Hannes Rebmann den alten Klosterknecht.

Der zog den Kopf zwischen die Schultern, als wolle er sich in seinem eigenen Körper verkriechen. »Weiß nicht«, stotterte er, »der liegt schon seit ... seit langem hier unten. Vielleicht hat ihn der Abt ... vergessen ...«

Hannes ballte die Fäuste. »Überleg dir, was du mir antwortest«, zürnte er und heftete den Blick wütend auf den Alten. »Und jetzt denk nach! Ich will den Namen dieses Mannes!«

»Aber Herr ...« Der Klosterknecht schlotterte erneut. »Ich ... ich weiß ihn wirklich nicht ... !«

Der Schmiedejörg hatte inzwischen den letzten Verschlag aufgebrochen. Vier Männer wankten daraus hervor, ebenso ausgehungert und elend, aber noch nicht ganz so abgemagert wie die anderen, und fielen ihren Befreiern um den Hals. »Gottlob, liebe Vettern – lange hätten wir’s nicht mehr ausgehalten!«

Der auf dem fauligen Stroh liegende Unbekannte stieß ein lang gezogenes Stöhnen aus. Dann kamen verständliche Worte aus seinem von Barthaaren beinahe völlig bedeckten Mund: »Man hält’s viel länger aus ... als man denkt ... Brüder ...«, sagte er, »ich bin hier ... so lange ... dass ich nicht mehr weiß ... wie viele Jahre ...«

Er stieß ein hässliches, keuchendes, tonloses Lachen aus. Hannes Rebmann erschauerte. »Fürchte nichts«, sagte er, »deine Leiden sind jetzt zu Ende. Du bist frei, Bruder!«

»Bruder ...?« Die Elendsgestalt krümmte sich auf dem Stroh und lachte noch einmal. »Ich ... habe keinen Bruder ... nur einen Freund.«

»Und wer ist das?«, fragte Hannes mit leisen Grauen.

»Der Tod«, wisperte der Mann. »Er ist mit euch gekommen ...« Ein Ruck ging durch seinen skelettdürren Körper. Er richtete sich mühsam auf. »Seht ihr ihn nicht?«, sagte er und deutete mit schmutzverkrustetem Finger in die Schatten unter den Kreuzrippen. »Da steht er. Ich komme ... ich bin bereit ... wie lange schon ... !«

Hannes war der Geste des Gefangenen mit Blicken gefolgt, aber in der Ecke stand niemand. »Du irrst dich«, widersprach er dem Mann, »fasse Mut – wir sind gekommen, um dich zu befreien!«

Der Gefangene hob seinen Oberkörper noch höher aus dem Stroh. Er breitete die dürren Arme aus; ein Glühen brach aus seinen von wirren Haaren beinahe ganz verhüllten Augen. »Komm«, flüsterte er heiser, »o komm! Ich habe mich so nach dir ... gesehnt! Nun nimm mich mit dir ... !«

»Das wollen wir ja«, sprach Hannes Rebmann ihn noch einmal an, doch die Worte des Gefangenen waren nicht an ihn gerichtet gewesen. Mit einem Seufzer streckte der den Kopf hoch und reckte sich noch einmal, so hoch er konnte, von seinem ekelerregenden Lager auf. Dann sank er zurück. Ein letzter, heftiger Atemzug, und er lag still. Das Leben hatte ihn verlassen.

Hannes Rebmann schauderte.

»Armer Kerl«, sagte der Schmiedejörg, »für den sind wir zu spät gekommen.«

Die anderen nickten stumm. »Er soll wenigstens ein christliches Begräbnis haben«, meinte einer von ihnen. »Wir tragen ihn nach oben ...«

Der alte Klosterknecht zitterte inzwischen nicht nur vor Angst, sondern auch vor Kälte. Seine nassen Beinkleider brachten ihn zum Frieren. Mit klappenden Zähnen stand er an die kalte Wand gepresst und brachte keinen Ton mehr heraus.

»Sobald wir oben sind, gibst du den Gefangenen warme Kleidung«, befahl ihm Hannes Rebmann, »und danach führst du uns zu den Vorratskellern. Los jetzt!«

Der Alte arbeitete sich mit zitternden Knien die steile Treppe wieder hinauf, gefolgt von den Gefangenen und ihren Befreiern. In der Wachstube drängten sich die frierenden Jammergestalten erst einmal um das Feuer, das im Kamin loderte, während der Alte aus dem Nebengemach einige Jacken und Mäntel herbeischleppte. Offenbar gehörten die den geflohenen Wachen; sie reichten nicht aus, um alle Gefangenen zu bekleiden.

»Schaff mehr herbei«, befahl Hannes Rebmann.

»Aber ...«, begann der Alte weinerlich.

»Schaff mehr herbei«, wiederholte Hannes unerbittlich. »Oder besser – führe uns zu den Kleidertruhen!«

»Aber das ... das ist mir nicht erlaubt ...«, jammerte der Alte.

»Wir erlauben es dir«, sagte der Schweineheinz grinsend. »Geh voraus – erst zu den Kleidern, dann zu den Vorräten!«

Dem Klosterknecht blieb keine Wahl. Die Kleidertruhen standen in der Waffenkammer, die auch Spieße, Schwerter, Rapiere, Hellebarden und einige Hakenbüchsen beherbergte.

»Nehmt, was wir brauchen können«, befahl Hannes Rebmann.

Der Schmiedejörg und fünf von ihm ausgesuchte junge Männer fingen an, die besten Waffen von ihren Haken abzunehmen und hinaus in den Hof zu schaffen, während der Schweineheinz mit zwei anderen Männern die Deckel der Kleidertruhen sprengte und alles herausnahm, was wärmte und schützte. Mäntel und Jacken, die nicht sofort gebraucht wurden, ließ der Hannes zu Packen zusammenrollen, die leicht transportiert werden konnten. Dann ging es zu den Vorratskellern.

Hier lagerten all die guten Dinge, die den hörigen Bauern von den Vogtsknechten abgenommen worden waren – der Getreidezehnte, das in Tonnen eingesalzene Fleisch, Butter, Käse und in Wachs eingelegte Eier ...

»All das ist unser«, sagte ein junger, flachshaariger Kerl aus Hannes’ Nachbarschaft, »wir haben’s mit unserem sauren Schweiß erarbeitet. Und jetzt führen wir es wieder heim in unsere Speicher und Keller, wo’s hingehört!«

»Ganz recht«, sagte Hannes.

»Und was ist mit dem Wein, den der Vogt hier lagert?«, fragte der Schmiedejörg grinsend. »Sollen wir den etwa hier lassen?« Er deutete mit dem Daumen auf drei große Fässer, die ganz hinten im Gewölbe auf Gestellen aufgebockt waren.

»Sicher nicht«, gab der Schweineheinz zurück. »Hab noch nie Wein getrunken; das muss ich unbedingt nachholen. Und ihr anderen seid sicher auch nicht abgeneigt – oder?«

Ein Johlen antwortete ihm. Besonders die Jüngsten der kleinen Truppe zollten begeistert Beifall. Schon hatte einer von ihnen das Spundloch des ersten Fasses eingeschlagen. »Probieren wir doch gleich«, schrie er, während er sich vor dem sprudelnd auslaufenden Fass auf die Knie sinken ließ, »der Trunk kann so schlecht nicht sein, wenn Klosterknechte ihn horten!«

Er hielt den Mund in den roten Strahl, der sich aus dem Spundloch ergoss. Die anderen drängten sich um ihn, knieten ebenfalls und suchten mit dem Mund etwas von dem plätschernden Nass zu erhaschen. Hannes sah dem Spiel kopfschüttelnd zu. »Verschwendung«, brummelte er, »pure Verschwendung ...« Aber er hinderte seine Leute nicht daran, auch das zweite Fass anzustechen.

In kurzer Zeit waren sie deutlich betrunken. Unter lautem Johlen wollten sie auch dem dritten Fass das Spundloch einschlagen, als von der Treppe her laute Geräusche in den Keller drangen. Hannes Rebmann, der bis jetzt keinen Tropfen getrunken hatte, versuchte zu ergründen, was da vor sich ging. Er hatte gerade die Treppe erreicht, als ihm vier Mönche entgegenkamen.

»Was treibt ihr hier?« Der Erste, ein breitschultriger, dickbäuchiger kleiner Mann, dessen Tonsur beinahe den ganzen Schädel einnahm, reckte sich zu voller Größe auf und starrte Hannes Rebmann strafend an. »Wie könnt ihr es wagen, in unser stilles Haus einzudringen und den Frieden des Klosters zu stören?« Seine Hand fuhr vorwärts; er tippte Hannes mit dem Zeigefinger mitten auf die Brust. »Sofort verlasst ihr diesen Keller und folgt mir und den Brüdern nach oben. Dort wird unser ehrwürdiger Herr Abt euch sagen, welche Strafe er für euch in Betracht zieht. Nun, wird’s bald?«

Er tippte Hannes noch einmal an, aber diesmal wurde seine Hand festgehalten. »Nimm dich zusammen, Pfaffe«, sagte Hannes trocken, »und merke dir eins: Ab sofort wird niemand mehr auf deine Befehle achten – geschweige denn auf die deines Abtes. Geh nur voraus und sag ihm das: Wir Bauern haben es satt, uns ausplündern zu lassen. Wir wollen nicht mehr für euch arbeiten ohne Lohn. Wir wollen euch unser Eigentum nicht mehr ausliefern ohne Bezahlung. Und wir nehmen uns zurück, was ihr uns gestohlen habt.«

Der Mönch schnappte deutlich nach Luft. Ihm und seinen Mitbrüdern fehlten für den Augenblick die Worte. Hannes ließ die Mönche einfach stehen und wandte sich an seine Leute. »Lasst es genug sein«, sagte er, »und schafft das letzte Fass nach oben. Dann seht in den Ställen nach – der Vogt hat sicher ein paar kräftige Gäule hier stehen, auf deren Rücken wir unser Eigentum heimschaffen können. Macht zu ... damit wir noch vor der Dunkelheit wieder zu Hause sind!«

Die berauschten Kerle brauchten eine Weile, bis sie sich genügend gesammelt hatten und begriffen, was Hannes von ihnen wollte. »G...gut«, nuschelte der Schweineheinz schließlich, »sorgen wir dafür ... d-dass alles fein säuberlich n-nach oben geschafft wird ...« Er starrte die Mönche an, die immer noch mit ungläubigen Blicken dastanden und zu verstehen suchten, was sich vor ihren Augen abspielte. »Ihr da«, sprach er sie an, »ihr seht mir kräftig genug aus. P-packt doch mal m...mit an!« Und er deutete auf die Getreidesäcke, von denen zwei junge Männer sich gerade je einen auf die Schultern wuchteten.

»O nein!« Einer der Klosterbrüder war so weit zur Besinnung gekommen, dass er seiner Worte wieder mächtig war. »Nein – das werdet ihr nicht tun! Dieses Getreide ist Eigentum des Klosters, und es wird hier im Keller bleiben!«

Er sprang auf die beiden jungen Bauern zu und wollte den einen am Ärmel festhalten. Doch plötzlich war der Schweineheinz da, einen Knüppel in der blutverkrusteten Rechten. Ohne den Mönch vorzuwarnen, schlug er ihn einfach damit über den fast kahlen Schädel. Auf der riesigen Tonsur des Klosterbruders zeigte sich ein breiter, brandroter Striemen. Der kleine dickliche Mann sackte in sich zusammen, ohne einen Ton von sich zu geben. Umso lauter gellte das Angstgeschrei seiner Mitbrüder. Wie von Dämonen gehetzt, rannten sie die Treppe wieder hinauf, verfolgt vom wilden Spottgelächter der Bauern.

Hannes ging gelassen hinter ihnen her. Als er auf dem Hof ankam, sah er nur noch flatternde schwarze Kutten. Auch einige weitere Mönche, die offenbar oben gewartet hatten, rannten jetzt in wilder Flucht durch den stiebenden Schnee zu der offen stehenden Pforte ihres Klosters zurück. Drei Vogtsknechte, wohl diejenigen, die sie auf den Überfall durch die Bauern aufmerksam gemacht hatten, taten es ihnen an Geschwindigkeit gleich, vollführten in ihrer Angst möglicherweise sogar noch schnellere, höhere und weitere Sprünge.

Hannes Rebmann verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Was für feige Hunde«, dachte er mit Abscheu. »Wie konnten wir uns so lange von ihnen unterdrücken lassen?«

 

Die Beute war sehr groß gewesen. Noch zwei Tage nach der Rückkehr der Männer von ihrem Zug zum Kloster waren alle, die arbeiten konnten, mit der Aufteilung des wiederbeschafften Gutes beschäftigt gewesen. Erst jetzt, da die Sonne sank, hatten sie es fertig gebracht, jedem das seine auszuteilen und allen gerecht zu werden.

Schwer beladen mit Packen aus Getreidesäcken, Pökelfleisch, Hülsenfrüchten, Kohl und Rüben zogen die Letzten von Anna Elisabeths Hof nach Hause. Hannes, der die Verteilung überwacht und dafür gesorgt hatte, dass niemand zu kurz kam, reckte zufrieden die Schultern und rieb sich die Hände. »Weißt du, Schätzle«, sagte er zu Anna Elisabeth gewandt, »dafür hat sich die ganze Schinderei doch gelohnt. Und’s soll noch besser werden – wart nur ab!«

»Was meinst du damit, Hannes?«, fragte Anna Elisabeth und sah den Mann, dem sie immer noch versprochen war, kühl an. »Ihr habt doch alles geholt, was der Vogt in seinen Speichern und Kellern hatte ... was gibt’s jetzt noch zu tun?«

Hannes wich ihrem Blick aus, aber um seine Lippen zuckte es. »Wir haben Nachricht vom Wirt zu Ballenberg«, sagte er leise, wie zu sich selbst. »Der Metzler Georg sammelt Leut um sich – wie auch der Jäckel Rohrbach aus Böckingen. Es geht jetzt dran ... verhandelt ist lange genug, und der Bauer hat es satt, zu warten und mit süßen Worten abgespeist zu werden ...«

»Ich verstehe kein einziges Wort von dem, was du da sagst, Hannes«, erwiderte Anna Elisabeth. »Was haben wir mit einem Wirt aus Böckingen zu tun – ich hab noch nie was von einem Metzler Georg oder einem Jäckel Rohrbach gehört.« Sie suchte Hannes’ Blick. »Wer hat was mit wem verhandelt?«, bohrte sie weiter, »und wo soll’s drangehen?«

Hannes Rebmann lachte leise. Dann erwiderte er Anna Elisabeths Blick und errötete gleichzeitig. »Schätzle, verzeih«, sagte er, während er in plötzlicher Verlegenheit die Hände verschränkte, »aber euch Frauen geht doch das, was wir Männer planen, überhaupt nichts an! Ihr müsst nit wissen, wo’s drangehen soll ... weil ihr uns dann nur mit eurem Lamentieren in den Ohren liegen würdet. Und was verhandelt werden sollte, das ist für euch auch nit wichtig ...«

Anna Elisabeth spürte, wie sie die Geduld verlor. »Sofort gibst du mir Antwort auf meine Fragen, Hannes«, sagte sie gepresst, »oder ich red kein Wort mehr mit dir!«

Hannes errötete noch tiefer. Er senkte den Kopf. »Nun ja«, murmelte er, »du bist ja nit wie die anderen Frauen, Annelies ... aber versprich mir, dass du mich mit Jammern verschonen wirst und auch kein Geschrei machst.«

Er sah sie an. Seine hellblauen Augen blickten wie die eines kleinen Jungen, der von seiner Mutter ein Stück Zuckerbrot haben will und genau weiß, dass er keines verdient hat. Anna Elisabeths Ärger schmolz dahin. »Du kennst mich doch, Hannes«, sagte sie begütigend, »wann hätte ich je ein Geschrei gemacht?«

»Gut – dann sag ich’s dir«, murmelte Hannes. »Der Wendel Hipler hat verhandelt, wollte die Zwölf Artikel durchbringen bei der Obrigkeit. Aber er wird hingehalten bis heut – und die Bauern werden weiter geplagt. Immer wieder schieben sie ihre Entscheidungen hinaus, die Herren ... jetzt ist es genug, hat der Georg Metzler gesagt.«

»Der Wirt von Ballenberg ... ?«, vergewisserte sich Anna Elisabeth.

»Ebender.« Hannes ballte die Fäuste. »Vorige Woche kam sein Bote hier an und brachte den Aufruf – auch vom Rohrbach Jäcklein. Ein Heer soll sich sammeln, so groß, dass den Herren davor grausen soll. Und was wir können«, er streckte seine Finger aus und krampfte sie dann wieder zusammen, »das haben wir uns selbst bewiesen ... beim Zug gegen die Vogtei ...«

Anna Elisabeth versuchte die Fassung zu wahren, obwohl sie sich sonderbar zornig fühlte. »Wer ist Wendel Hipler?«, fragte sie.

»Der Kanzler von Hohenlohe«, erklärte Hannes stockend. »Hab selbst nicht gewusst, wer der ist – aber der Bote hat’s uns genau beschrieben. Der Hipler ist zwar ein kluger Kopf und weiß bei den Herren die rechten Worte zu finden. Aber es hat ihm nichts genützt. Und jetzt –«

»Der Jäcklein Rohrbach – das ist auch ein Wirt?«, forschte Anna Elisabeth.

Hannes nickte. »Hat schon viel Leut um sich geschart«, bestätigte er. »Der fürchtet weder Tod noch Teufel.«

»Aber er ist ein Wirt und kein Kriegsmann.«

»Sind wir Kriegsmänner?«, konterte Hannes. »Wir haben die Vogtsknechte doch auch in die Flucht geschlagen – so gründlich, dass sie bis jetzt noch keinen Vergeltungsschlag gewagt haben.«

Anna Elisabeth blieb unbeeindruckt. »Aber die großen Herren, gegen die Krieg geführt werden soll – die kannst du doch nicht mit ein paar Klosterknechten vergleichen. Die werden über ein Heer aus lauter Bauern nur lachen ...«

Hannes hob ruckartig den Kopf. Er war zornrot geworden. »Und wir werden dafür sorgen, dass ihnen das Lachen vergeht«, brauste er auf. »Wir werden sie das Fürchten lehren, die Zwingherren und Raubpfaffen!«

»Glaubst du wirklich, dass ein paar wütende Bauern das schaffen können?«, fragte Anna Elisabeth weiter.

»Ein paar?« Hannes lachte. »Tausende sind wir – Tausende und Abertausende, die jetzt endlich unseren Peinigern die Stirn bieten wollen! Annelies –«, er stand auf und trat auf Anna Elisabeth zu, »an Zahlen sind wir ihnen bei weitem überlegen! Es kann uns nicht misslingen ... und Gott ist auf unserer Seite. Die reine Lehre, die von dem Herrn Martinus ausgeht, sagt es uns!«

»Was für eine reine Lehre soll denn das sein?« Den Namen des Doktors aus Wittenberg hatte Anna Elisabeth zwar schon ein paarmal gehört, doch welche Meinung er vertrat, wusste sie immer noch nicht genau. »Ist es die Freiheit eines Christenmenschen, von der Joos Fritz damals gesprochen hat?«

»Richtig«, sagte Hannes. »Auf der bestehen wir. Und wir geben erst Frieden, wenn uns diese Freiheit eingeräumt wird.«

»Wir – das sind der Wirt von Ballenberg, der Wirt von Böckingen und der Müller Hannes Rebmann.« Anna Elisabeth legte den Kopf schief und bedachte Hannes mit einem durchdringenden Blick. »Hab ich dich da recht verstanden?«

»Wahrhaftig, das hast du!«, erwiderte Hannes trotzig.

»Hannes Rebmann, Georg Metzler und Jäcklein Rohrbach gegen alle Herren im Odenwald – meinst du es so?«

»Die Bruderschaft der Bauern aus dem Odenwald und Neckartal gegen ihre Zwingherren«, entgegnete Hannes. »Und wir sind bei weitem in der Überzahl!«

Anna Elisabeth kam ein Frösteln an – sie wusste nicht recht, warum. »Ich hab trotzdem Bedenken«, erwiderte sie eindringlich. »Überlege dir gut, Hannes, auf was du dich einlässt. Dem Klostervogt den Keller auszuräumen, das war das eine ... aber gegen alle Herren im ganzen Odenwald anzukämpfen, das ist etwas ganz anderes.«

Hannes verzog geringschätzig das Gesicht. »Schau, Schätzle, das ist es, was mir an den Frauen so wenig gefällt«, sagte er, »sie haben immer Bedenken. Sie sind feige und wagen nichts. Aber diesmal muss es gewagt sein, Annelies. Und ihr Weiber – ihr werdet nicht gefragt.«

»Wann hättet ihr Männer das je getan?«, erwiderte Anna Elisabeth nüchtern. »Oft genug wäre es klüger gewesen, wenn ihr auf uns gehört hättet.«

»Aber nicht diesmal«, sagte Hannes und schloss mit einer endgültig wirkenden Handbewegung die Unterredung ab. »Jetzt geh an deine Arbeit, Annelies, und richte ’s Essen. Heut nachmittag, wenn dein Vater auf dem Gottesacker liegt, wirst viele Leut zu bewirten haben!«

 

Beinahe alles, was im Dorf laufen konnte, war zum Begräbnis erschienen. Dicht an dicht umstanden Männer, Frauen und sogar Kinder die offene Grube, die sich dunkelbraun im Schnee abhob. Auch aus den Nachbardörfern waren Menschen erschienen – Leute, die Anna Elisabeths Vater geschätzt und geachtet hatten und an seinem unzeitgemäßen Ende großen Anteil nahmen.

Anna Elisabeth selbst stand, fest eingehüllt in ihren dicken blauen Wollmantel, am Rand der Trauergemeinde. Um sie herum drängten sich die Kinder des armen Matthias, und das kleine Mariechen hielt ihre Hand umklammert. Aber sie nahm die Kleinen kaum wahr; seit dem Todestag ihres Vaters fühlte sie sich innerlich wie versteinert und hatte Mühe, auf die Menschen ihrer Umgebung einzugehen. Ihre Augen aber hatten schon lange keine Tränen mehr.

Der Dorfpfarrer war nirgends zu sehen. Statt seiner hielt ein junger Pastor die Leichenrede – einer, den im Kirchdorf bisher noch niemand zu Gesicht bekommen hatte. Der Mann hatte wild zerzauste dunkle Locken, in denen keine Tonsur zu sehen war, und trug statt des Ornats nur eine schlichte schwarze Kutte. Auch seine Grabrede unterschied sich von der, die der alte Dorfpfarrer wahrscheinlich gehalten hätte.

»Ihr Lieben«, begann er mit tönender Stimme, »wir sind hier versammelt, um einem ehrenwerten Mann das letzte Geleit zu geben – einem, der sein Leben in der Furcht Gottes verbracht hat. Nun wurde es ihm genommen, zu früh und von einem, der vor allen anderen seine Nächsten wie sich selber hätte lieben müssen – dem Abt von Kaltenbrunn. Er wurde eingekerkert ohne Grund, wurde an Leib und Leben geschädigt und zu Tode gebracht von einem Mann der Heiligen Mutter Kirche.«

Lautes Gemurmel erhob sich unter den Anwesenden. Der junge Pastor sah sich triumphierend um. »Und darum«, fuhr er fort, »darum dürfen die Lämmer nicht länger schweigen, wenn es ihre Hirten versäumen, sie zu weiden. Die Lämmer müssen ihre Stimme erheben und dem obersten aller Hirten ihr Leid klagen, und dieser oberste aller Hirten wird ihnen nicht zürnen, wenn sie sich der pflichtvergessenen Hirten entledigen.«

Das Gemurmel schwoll an, Beifallsrufe klangen auf. »Ihr Lieben«, endete der junge Pastor seine Predigt, »wenn wir den Leib dieses guten Mannes nun zur Erde betten, so wollen wir uns selbst und den Unsrigen geloben, Rache zu üben für diesen hier und all die vielen, die sein Schicksal teilen oder geteilt haben. Wir wollen seiner gedenken und die Schmach, die er erdulden musste, nicht ungesühnt lassen. Lasset uns nun beten ...«

Er intonierte das Gebet des Herrn in deutscher Sprache: »Vater unser, der du bist in dem Himmel – geheiliget werde dein Name ...«

Anna Elisabeth hatte es so noch nie vernommen und hörte staunend zu. Zum ersten Mal verstand sie, was die lateinischen Worte bedeuteten. In großer Verwunderung lauschte sie, als der junge Priester danach auch noch das Credo auf Deutsch sprach: »Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden ...«

Die anderen Mitglieder der Trauergemeinde schienen ebenso fasziniert. Sie alle hingen an den Lippen des jungen Pastors, und noch geraume Zeit, nachdem er Gebet und Glaubensbekenntnis zu Ende gesprochen hatte, schwiegen sie ehrfurchtsvoll. Auch nachdem der Gottesmann den Segen gesprochen hatte, verharrten sie noch ein Weilchen in feierlichem Schweigen und verließen erst dann, einer nach dem anderen, den kleinen Friedhof.

Zuletzt standen nur noch Anna Elisabeth, Hannes Rebmann und Matthias’ Kinder am Grab. Hannes reckte die Schultern. »Ich schaufele die Grube zu«, sagte er, »der Totengräber liegt krank danieder – du weißt ja. Er gehörte zu denen, die bei unserem Zug in die Vogtei ein bisschen verwundet wurden.«

Anna Elisabeth wusste es. »Komm heim, sobald alles fertig ist«, sagte sie nüchtern. Dann wandte sie sich mit den Kindern zum Gehen. Doch sobald sie mit ihrer Schar den Wald erreicht hatte, schickte sie die kleine Gertrud und ihre Geschwister voraus. »Du kannst daheim schon die Suppe ans Feuer stellen«, trug sie dem Mädchen auf. »Ich muss noch mal zurück – zu einer Nachbarin im Kirchdorf. Es eilt und kann nicht warten. Ich komme nach, so schnell ich kann. Aber wenn der Hannes vor mir da sein sollte und es ihm zu lange dauert, dann trag du mit dem Michel das Essen auf.«

»Mach ich«, sagte Gertrud. Anna Elisabeth drückte dem Kind die Hand. Auf die Kleine war Verlass, das wusste sie. Gertrud würde schon alles richtig machen.

Sie wartete, bis die Kinder um die Wegbiegung verschwunden waren. Dann schlug sie den Pfad zur Köhlerhütte ein, der hier abzweigte. Halb stolpernd, halb rennend legte sie die kurze Strecke durch den tiefen, unberührten Schnee zurück und schlüpfte keuchend vor Anstrengung in die dunkle kleine Stube.

Ein Feuerchen brannte auf der Herdstelle. Es war warm in der Hütte. Er war gekommen, hatte hier auf sie gewartet. Er sprang vom Herdrand auf, wo er gesessen hatte, stürzte auf sie zu, nahm sie in die Arme. »Liebste«, flüsterte er, »Liebste ... wie ich mich nach dir gesehnt habe!«

»Ich mich auch nach dir«, flüsterte Anna Elisabeth. Das Eis, in dem ihre Gefühle eingeschmolzen gewesen waren, taute sekundenschnell. Sie vergrub den Kopf an Albrechts Schulter, spürte, wie ihr Herz zu rasen begann und ihre Augen von heißen Tränen überliefen. Wie aus eigenem Antrieb krallten sich ihre Finger in den groben Stoff seines Wamses, klammerten sich voller Verzweiflung an ihn an. Dann suchte sie in wilder Sehnsucht seine Lippen. »Küss mich ... ich will spüren, dass ich noch lebe ... !«

Seine Antwort war ein leises Stöhnen. In glühender Leidenschaft umschlang er sie und zog sie fester an sich. Sein Kuss verriet einmal mehr, wie verzehrend das Feuer des Verlangens in ihm loderte. Nach wenigen Augenblicken riss er sich gewaltsam von ihr los. »Führe mich nicht noch mehr in Versuchung, Anna«, wisperte er mit heiserer Stimme, »denn ich habe dir beinahe nichts mehr entgegenzusetzen ...«

Sie zitterte am ganzen Leibe. »Das musst du ja auch nicht«, erwiderte sie erregt. »Folge einfach deinem Gefühl ... so, wie ich dem meinen folge!«

»Wenn ich das täte«, sagte er mit mühsam unterdrückter Erregung, »dann wärest du längst keine unberührte Jungfrau mehr.« Er drückte einen glühenden kleinen Kuss auf ihre Wange. »Anna«, fuhr er fort, »hast du denn ganz vergessen, was wir jüngst ausgemacht haben?«

»Nein, Liebster«, wisperte sie, »aber du weißt ebenso gut wie ich, dass es nur ein schöner Traum ist. Könnten wir nicht aufhören, daran zu glauben, und uns einfach mit der Wirklichkeit zufrieden geben?«

Einen Augenblick lang stand Albrecht stocksteif da und gab keine Antwort. Dann atmete er tief ein. »Und was ist die Wirklichkeit?«, stellte er flüsternd die Gegenfrage.

»Wir können nicht in Ehren zusammenkommen«, erwiderte Anna Elisabeth, »aber ich liebe dich. Ich möchte dennoch dir gehören...«

»Anna!« Albrechts Stimme spiegelte all seine wilde Sehnsucht wider. »Warum sagst du mir das?« Er spähte ihr ins Gesicht. »Wie kannst du mich so herausfordern?«

»Jetzt verstehe ich.« Sie schluchzte auf. »Du willst mich überhaupt nicht. Du hast mir die ganze Zeit nur etwas vorgespielt.« »Anna!«

»Wenn es anders wäre, Albrecht – dann könntest du nicht so lange zögern«, hauchte sie mit gesenktem Kopf, »dann würdest du dich nicht so dagegen wehren, der erste Mann in meinem Leben zu sein.« Sie wischte sich über die Augen. »Aber warum dann diese Gaukelei, dieses Hin und Her, diese leeren Worte, die alles versprechen und nichts halten ... das will mir nicht in den Kopf...«

Er packte zu, packte sie so hart an den Oberarmen, dass ihr der Druck seiner Finger einen kleinen Schmerzensschrei abpresste. »Jetzt hör mir zu, Anna«, sagte er rau, »und merke dir endlich: Meine Liebe zu dir ist kein Spiel und keine Gaukelei. Sie ist echt und ehrlich und sehr tief – so tief, dass ich dich nicht zu meiner Buhle machen mag. Aber es kostet mich all meine Kraft, deinem Zauber zu widerstehen und mein Verlangen zu zügeln, bis wir vor Gott und den Menschen zusammengehören.« Er ließ ihre Arme los und umfasste mit beiden Händen zärtlich ihr Gesicht. »Nicht mehr viel ist nötig, Liebste«, fügte er beschwörend hinzu, »dann ergebe ich mich. Denn ich möchte dir auch gehören – von ganzem Herzen und ganzer Seele und mit meinem ganzen Körper, der sich unendlich nach dir sehnt.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Wie kannst du immer noch fragen?«

»Verzeih ...«

»Das fällt mir schwer!« Er versuchte zu scherzen, schenkte ihr ein etwas zittriges Lächeln. »Eine Buße fordere ich schon von dir.«

Anna Elisabeth öffnete die Augen weit. »Nenne mir, Liebster, was du verlangst«, flüsterte sie, »ich gebe dir alles, was ich habe ...«

Es war ihm unmöglich, zu antworten. Wortlos neigte er sich über ihr Gesicht; sein Kuss war wild, und Anna Elisabeth gab sich seinen Zärtlichkeiten ebenso hemmungslos hin. Voller Begierde erwiderte sie sein Zungenspiel, suchte die Nähe und Wärme seines Körpers, schlang die Arme um seinen Nacken.

Albrechts Leidenschaft loderte hoch auf. Er schob sein linkes Bein vorwärts gegen den dicken Stoff ihres Rockes, drängte sich zwischen ihre Schenkel, presste Anna Elisabeth hart an sich. Mit fliegenden Fingern löste er die Schnüre an ihrem Mieder, streifte es ihr samt dem Leinenhemd bis zur Taille nieder, ließ die Lippen über ihre nacken Brüste wandern. Dann, plötzlich und unvermittelt, brach er die intime Berührung ab, gab Anna Elisabeth frei und trat einen Schritt von ihr zurück. »Nein, Anna, nein ...«, wisperte er in abgerissenen, heißen Atemzügen, »nicht so ... in dieser elenden Hütte ... und gänzlich ohne Würde ...«

»Wie dann ... ?«, hauchte sie. »Ich will deine Frau sein – und mir ist es ganz gleich, unter welchen Umständen!«

Er lächelte, kam langsam wieder zu Atem. »Bald, Liebste«, sagte er mit einem verlegenen Blick auf ihre Blöße, »lange werden wir unsere Ungeduld nicht mehr beherrschen müssen. Doch zuerst habe ich Wichtiges zu erledigen – Dinge, die notwendig getan sein müssen, bevor wir in Ehren zusammenkommen können.«

»Was sollten das für Dinge sein?«

Er blieb ihr die Antwort schuldig. Sein Lächeln war geheimnisvoll und ein bisschen verwegen. »Vertrau mir«, sagte er ausweichend, »meinen Ring habe ich dir schon gegeben – nun muss ich nur noch die Grundlage dafür schaffen, dass du zusammen mit ihm auch meinen Namen tragen kannst ...«