Finale
Eine gute Woche war vergangen, in der Emilio erstaunliche Dinge getan hatte. So hatte er sich noch einmal untersuchen lassen, und zwar im Bozner Zentralkrankenhaus. Dort bestätigten sich seine davongetragenen Verletzungen, aber nachhaltige Schäden wurden ausgeschlossen und eine völlige Genesung in Aussicht gestellt.
Emilio hatte den Kommissar im Ruhestand Luis Gamper auf dem Ritten besucht, die Qualität seines Honigs gerühmt – und darüber hinaus einiges mit ihm besprochen.
Er hatte Valerie Trafoier in ihrer Vinothek getroffen, ohne ein einziges Mal in ihren Ausschnitt zu blicken.
Er war so oft wie möglich mit Phina zusammen. Ihre Beziehung verlief platonisch, aus schwer nachvollziehbaren Gründen, die er gleichwohl mit buddhistischer Gelassenheit akzeptierte.
Emilio hatte Steixner in seinem Terlaner Haus besucht, mit ihm geplaudert und einen merkwürdigen Wein von einer autochthonen Sorte getrunken, der ihm nicht schmeckte, was er aber nicht sagte.
Er hatte mit Theresa einen noch viel schlechteren Wein getrunken – und sich auch nicht beklagt. Wie gesagt, er tat erstaunliche Dinge.
Er hatte Marcos Kampfmesser in die Etsch geworfen, weil er das Teil einfach widerwärtig fand, auch wenn es ihm das Leben gerettet hatte.
Er hatte sich in Bozen beim Südtiroler Archäologiemuseum mit vielen anderen Leuten angestellt, um sich den Ötzi anzuschauen. Was schon deshalb erstaunlich war, weil er sich überhaupt nicht für Gletschermumien interessierte, außerdem die körperliche Nähe fremder, transpirierender Menschen unerträglich fand. Aber ihn faszinierte der Gedanke, dass der Mann aus dem Eis einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, ein Pfeil hatte seine linke Schulter durchbohrt, und dass man den Mord nach über 5000 Jahren nachweisen konnte. Was waren da schon die zehn Jahre seit Nikis Tod? Eine geradezu lächerlich kurze Zeitspanne!
In der Bozner Quästur hatte er seine vollschlanke Cappuccino-Freundin besucht und bei dieser Gelegenheit ihren Chef kennengelernt, der ausnahmsweise weder krank war noch eine Fortbildungsveranstaltung besuchte. Er hatte sich gut mit ihm verstanden. Sie hatten sich intensiv unterhalten.
Er hatte seinen Landy durch eine Autowaschstraße gefahren, was er seit langem nicht mehr gemacht hatte, normalerweise wartete er auf den nächsten Regen.
Wenn Emilio seine vielfältigen Aktivitäten Revue passieren ließ, erschien ihm vieles logisch, manches sogar zwingend notwendig, aber einiges doch ziemlich irrational – was er damit entschuldigte, dass er einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er langsam aufbrechen musste. In einer halben Stunde hatte er einen Termin. Diesmal wollte er pünktlich sein. Er führte noch ein Telefonat, dann fuhr er los.
***
Als Baron Emilio von Ritzfeld-Hechenstein beim Ansitz von Professor Puttmenger vorfuhr, stellte er zunächst fest, dass das schmiedeeiserne Tor zum Anwesen offen stand, sich nach seiner Durchfahrt aber automatisch hinter ihm schloss. Dann wunderte er sich über den Fiat Cinquecento, der anstelle des roten Ferrari auf dem gewohnten Parkplatz stand. Emilio stieg aus, setzte seine antiquierte Sonnenbrille auf, nahm seinen Gehstock und ging zur Eingangstür. Dabei humpelte er so stark wie schon lange nicht mehr. Es taten ihm heute wieder mal gleich beide Knie weh und zudem der linke Knöchel. Die Schulter schmerzte sowieso und auch das Handgelenk.
Puttmenger öffnete die Tür und begrüßte ihn mit einem angedeuteten Lächeln. Er freue sich über den Besuch, sagte er, schließlich habe er dem Baron einiges zu verdanken.
Ob der Ferrari in der Werkstatt sei, fragte Emilio, auf den kleinen Fiat deutend.
Nein, antwortete Puttmenger, der Ferrari sei ihm gestohlen worden. Der Dieb habe seine Visitenkarte dagelassen. Der Professor führte seinen Gast ins Wohnzimmer, wo auf dem Tisch eine Dose Katzenfutter stand. Diese habe er anstelle des Ferrari auf dem Parkplatz vorgefunden, berichtete Puttmenger. Damit wäre wohl alles klar, oder?
Emilio musste grinsen, stimmte ihm zu und sagte, dass Marco einen seltsamen Humor habe. Vermutlich habe er nach einem geeigneten Fluchtfahrzeug gesucht. Wenn es der Professor wünsche, könne er der Polizei den Namen des Mannes geben und ihn zur Fahndung ausschreiben lassen. Aber das sei ganz alleine seine Entscheidung.
Nein, nein, wiegelte Puttmenger ab. Der Ferrari sei gut versichert, der Diebstahl zur Anzeige gebracht, und in wenigen Wochen käme ein neues Modell auf den Markt, das habe er bereits bestellt. Er hoffe nur, dass er diesen Kleinkriminellen damit endgültig vergessen könne, er habe die Schnauze gestrichen voll.
Er glaube, dass sie von dem Mann nie mehr was hören würden, sagte Emilio. Vielleicht würde man mal in der Zeitung lesen, dass ein gestohlener Ferrari irgendwo in Italien mit überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen und der Fahrer ums Leben gekommen sei, spekulierte er. Darüber würde er sich nicht wundern, denn Marco sei ein unbeherrschter Hitzkopf, das habe er erst vor kurzem am eigenen Leibe erfahren.
Puttmenger bot seinem Gast einen Sessel an. «Sie sind ihm noch einmal begegnet?», fragte er.
«Ja, leider. Er hat versucht, mich umzubringen.»
«Was ihm offenbar nicht gelungen ist», stellte Puttmenger fest, der sich in einen antiken Lehnstuhl setzte und ein Zigarillo anzündete. «Gott sei Dank haben Sie überlebt», fuhr er fort, «sonst hätte ich mir noch Vorwürfe gemacht, dass ich Sie mit meinem Auftrag in Gefahr gebracht habe.»
«Sie hätten sich Vorwürfe gemacht?», wiederholte Emilio seine Worte. «Das glaube ich nicht!»
Puttmenger sah ihn erstaunt an. «Wie bitte? Sie glauben mir nicht? Wie darf ich das verstehen?»
Emilio lächelte. «So, wie ich es gesagt habe. Ich glaube nicht, dass Sie sich so leicht Vorwürfe machen und von Gewissensbissen geplagt werden. Jedenfalls schätze ich Sie so ein.»
«Da haben Sie insofern recht, als es dafür selten Anlässe gibt. Meine Patienten und Patientinnen sind unisono mit meiner Leistung ausgesprochen zufrieden. Warum sollte ich mir also Vorwürfe machen?»
«Ich dachte dabei weniger an Ihre Arbeit. Aber egal, ich bin hier, weil ich Sie noch einmal zu einem Foto befragen möchte.» Emilio entnahm der Jackentasche ein Bild mit der Drag Queen aus Verona. «Ich habe Sie schon mal nach dieser Königin der Nacht gefragt, bestimmt erinnern Sie sich. Ihre Antwort war, dass Sie diese Dame nicht kennen, korrekt?»
Für einen kurzen Moment registrierte Emilio bei seinem Gegenüber ein nervöses Zucken der Augen, dann wirkte Puttmenger wieder völlig kontrolliert. «Da haben Sie recht, ich kenne die Person nicht. Was wenig überraschend ist, denn ich bewege mich nun mal nicht in dem entsprechenden Milieu.»
Emilio spielte mit seinem Gehstock. «Nicht im entsprechenden Milieu? Sind Sie sich da sicher? Immerhin hat Sie der Erpresser mit einer scharfen Nutte fotografiert.»
Puttmenger hüstelte verlegen. «Nun ja, aber ein Bordell ist was anderes als die Transenszene.»
«Das ist wirklich schade», sagte Emilio, «ich war zuversichtlich, dass Sie mir weiterhelfen können.»
«Warum sind Sie an dieser bizarren Schönheit so interessiert?», fragte der Professor.
Emilio zögerte die Antwort hinaus. «Weil ich glaube, dass die Person Niki umgebracht hat», ließ er schließlich die Bombe platzen.
Diesmal fiel das Zucken heftiger aus. Aber dann hatte Puttmenger sich wieder im Griff. «Tatsächlich? Das kann ich nicht glauben. Warum sollte diese Drag Queen unseren Niki umbringen? Nein, das macht keinen Sinn.»
«Doch, doch, das macht es schon», sagte Emilio, «abgesehen davon, dass ein Mord nie wirklich Sinn macht. Nur schade, dass Sie mir keinen Hinweis auf die Identität geben können.»
«Das ist mit Sicherheit niemand, der in meiner Klinik operiert wurde», schloss Puttmenger diese Möglichkeit aus, «davon wüsste ich.»
«Nein, das ganz bestimmt nicht. Trotzdem glaube ich, dass die Drag Queen in Ihrer Klinik ein- und ausgeht.»
«So ein Blödsinn», widersprach Puttmenger erregt. «Ich sagte doch bereits: Ich habe sie nie gesehen!»
Emilio beugte sich nach vorne, sah ihn scharf an und fragte mit gefährlich leiser Stimme: «Noch nie gesehen? Auch nicht im Spiegel?»
Aus Puttmengers Gesicht wich die Farbe, er drückte den Zigarillo im Aschenbecher aus, die mühsam aufrechterhaltene Fassade der Gelassenheit brach zusammen. «Im Spiegel?», brauste er auf. «Was wollen Sie damit andeuten? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?»
«Es macht doch sicher viel Arbeit, sich so zu schminken. Die künstlichen Wimpern, diese unglaublichen Lidschatten. Ein kleines Kunstwerk. Dazu die blonde Perücke. Um so auszusehen, müssen Sie lange vor dem Spiegel stehen.»
«Sie sind verrückt. Dieser Transvestit auf dem Foto, das bin doch nicht ich!» Puttmenger sprang auf, fuchtelte aufgeregt mit den Armen herum. «Wie können Sie so etwas behaupten?»
Emilio blieb ruhig sitzen. «Weil mir das unser Freund Marco ins Ohr geflüstert hat. Er hat gesagt, dass er Sie mit diesen Fotos erpresst hat.»
«Blödsinn. Sie haben doch selbst die Fotos mit der Nutte gesehen, damit hat er mich erpresst.»
«Nein, hat er nicht. Auf diesen Fotos, das sind nicht Sie, sondern das Gemeinderatsmitglied Armin Rottenthaler, das habe ich mittlerweile in Erfahrung gebracht. Ziemlich unscharf und nur schwer zu erkennen. Marco hat mir gesagt, dass Sie die Drag Queen auf dem Foto sind. Damit hat er Sie erpresst. Wie übrigens schon Niki, vor über zehn Jahren, aber dazu kommen wir später.»
Puttmenger baute sich vor Emilio auf, die Fäuste aggressiv in die Hüften gestützt. «Und Sie glauben diesem Kerl den Schwachsinn? Ich hätte Sie für intelligenter gehalten.»
Emilio blieb unbeeindruckt und spielte mit seinem Gehstock. «Erstens hatte Marco ein Messer an der Gurgel, da spricht man normalerweise die Wahrheit. Zweitens habe ich mir die Fotos daraufhin genauer angeschaut. Auf der Website Ihrer Klinik ist ein großes Porträtfoto von Ihnen, sehr schön, mit umgehängtem Stethoskop. Wenn man die Bilder vergleicht, fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Marco hatte recht, die Drag Queen, das sind Sie.»
Puttmenger ging einige Schritte durchs Zimmer, lehnte sich an eine Kommode. Er schien seine Erregung in den Griff zu bekommen. «Angenommen, das wäre so», sagte er mit kontrollierter Stimme, «sich zu verkleiden und seinen Spaß zu haben, ist nicht strafbar.»
«Da stimme ich Ihnen zu. Aber was würde wohl Ihre konservative Klientel zu der von Ihnen bevorzugten Freizeitgestaltung sagen? All die Damen aus Bozens besserer Gesellschaft? Wären Sie immer noch der Arzt ihres Vertrauens? Und Ihre Frau? Weiß sie Bescheid? Eine Scheidung kann eine sehr hässliche, teure Angelegenheit sein.»
«All das ist schon lange her», sagte Puttmenger leise.
«So lange nun auch wieder nicht. In Verona kann man sich noch gut an Sie erinnern.»
«In Verona? Sie waren dort?»
Emilio nickte. «Ja, das war ich. Sie haben dort noch immer Ihre Fans.»
«Warum schnüffeln Sie in meinen Angelegenheiten herum?», schrie Puttmenger. «Ich habe Sie für Ihre Hilfe bezahlt. Warum hauen Sie nicht einfach ab?»
«Würde ich gerne. Aber ich suche noch immer Nikis Mörder.»
«Na und?»
Emilio deutete mit seinem Gehstock auf den Professor. «Jetzt habe ich ihn gefunden. Deshalb bin ich hier.»
Puttmenger kniff die Augen zusammen. «Das glauben Sie wirklich?»
«Definitiv. Sie sind Niki mit der blonden Perücke als Frau verkleidet auf den Berg nachgestiegen und haben ihn vom Gipfelkreuz in den Abgrund gestoßen.»
«Sie sind ja geistig umnachtet!»
«Es gibt einen Zeugen, der hat Sie am Berg gesehen, auch wie Sie mit Nikis gelbem Rucksack wieder zurück ins Tal marschiert sind.»
«Einen Zeugen? Das glaube ich nicht. Da war keine Menschenseele …»
«Sprechen Sie nur weiter. Sie meinen, da war keine Menschenseele zu sehen. Sie haben sich unbeobachtet gefühlt. Irrtum. Es war jemand da. Aber er hat bis heute geschwiegen und nur mir davon erzählt.»
«Was hat er Ihnen erzählt? Dass Niki von einer blonden Frau umgebracht wurde?» Puttmenger lachte schrill.
«Aber Sie und ich wissen, wer sich hinter dieser blonden Frau verbirgt.»
«Nur wir beide? Das ist doch wunderbar.» Mit einer schnellen Bewegung riss Puttmenger die oberste Schublade der Kommode auf – schon hielt er eine Pistole in der Hand und richtete diese auf Emilio. «Keine Bewegung. Bleiben Sie ganz ruhig sitzen.» Wieder lachte er. «Ich geb’s zu. Sie haben richtig kombiniert, Kompliment. Aber Sie haben die Folgen nicht bedacht. Ich werde Sie nämlich erschießen.»
Emilio war nicht anzusehen, ob ihn die Pistole einschüchterte. Er wirkte äußerlich völlig gelassen.
«Bevor Sie das tun, könnten Sie mir noch erzählen, warum Sie Niki umgebracht haben. Weil er von Ihrem Doppelleben wusste und Sie damit erpresst hat, stimmt’s?»
«Das hätte der Wichser mal besser seinlassen», sagte Puttmenger, der mit der Pistole unablässig auf Emilios Kopf zielte. «Ich war mir zunächst gar nicht sicher, ob er es war. Denn ursprünglich hat mich ein anderer kontaktiert. Wahrscheinlich diese Kanalratte. Wie sagten Sie, war sein Name?»
«Marco.»
«Richtig, aber dann hat Niki die Nummer selber übernommen und wollte mir die Bedingungen diktieren.»
«Marco wurde aus dem Verkehr gezogen, er musste ins Gefängnis, wegen einer anderen Sache.»
«Ins Gefängnis? Ich erinnere mich, Sie haben es schon mal erwähnt. Sein Glück, sonst hätte ich diesem Marco die Birne weggeblasen. Jedenfalls habe ich dem Erpresser damals die Botschaft zukommen lassen, dass er sich das Geld am Gipfelkreuz abholen kann, alternativ könne er sich die Fotos in den Arsch schieben.»
«Der Erpresser, von dem Sie vermuteten, dass es Niki war.»
«Genau. Aber warum erzähle ich Ihnen das? Das alles geht Sie einen Scheißdreck an.»
«Sie können es auch seinlassen. Aber es ist schon egal, Sie töten mich doch sowieso.»
«Wieso nehmen Sie das so stoisch hin? Glauben Sie mir nicht?»
«Doch, natürlich glaube ich Ihnen», antwortete Emilio, «immerhin hatten Sie auch bei Niki keine Skrupel. Aber ich wollte mich schon einige Male selber umbringen. So toll finde ich das Leben nicht. Dann ist es halt heute vorbei. Sie leisten sozusagen aktive Sterbehilfe. Ich hoffe nur, dass Sie ein guter Schütze sind, ich möchte nämlich nicht leiden. Mir wäre wohler, wenn Sie etwas näher kämen, damit Sie mich mitten im Kopf treffen.»
«Sie sind ja völlig wahnsinnig», sagte Puttmenger.
«Das haben wir gemeinsam», stellte Emilio fest. «Sie sind Niki also hinterhergestiegen», fuhr er fort, «verkleidet als Frau und mit der blonden Perücke, zur Tarnung, falls Sie gesehen werden. Und wie ging’s dann weiter?»
«Wie konnte Niki so blöd sein und glauben, dass das Geld wirklich am Gipfelkreuz hängt? Ich habe ihn dort eingeholt und zur Rede gestellt. Das Weichei hat sich doch tatsächlich entschuldigt, aber gesagt, dass er das Geld dringend brauche. Wahrscheinlich, um seine fixe Idee zu realisieren und ein Weingut zu kaufen. Plötzlich hat er diese Pistole aus seiner Jacke gezogen und mich bedroht.»
«Tod oder Reben», flüsterte Emilio.
«Wie bitte? Jedenfalls ist er da an den Falschen geraten. Ich habe ihm die Waffe aus der Hand geschlagen, den Rucksack entrissen und ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern gegeben. Dann hat er seinen Abflug gemacht. Das hatte ich sowieso vor.»
«Dann war es kein Unfall, sondern vorsätzlicher Mord.»
«Na klar, was dachten Sie?»
«Armes Schwein.»
«Niki hätte sich vorher überlegen sollen …»
«Nein, mit dem armen Schwein meinte ich Sie», unterbrach ihn Emilio. «Dann sind Sie mit seinem Rucksack zurück ins Tal. Zum Glück hatte er seine Autoschlüssel nicht in der Hosentasche. Also haben Sie sich seinen Porsche geschnappt und ihn zurück nach Bozen gebracht. Später haben Sie auch noch Ihr eigenes Auto abgeholt. War es so?»
«Sie haben hellseherische Fähigkeiten. Ja, so war es. Der Schwachkopf hatte tatsächlich die belastenden Fotos im Rucksack, und einen Speicherchip.»
«Von dem es natürlich eine Kopie gab, wie sich jetzt herausgestellt hat.»
«Das ist ja die Scheiße mit den Digitalkameras. Früher konnte man die Negative zerstören, basta.»
«Marco ist vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden. Nikis alter Komplize hat sich das Belastungsmaterial beschafft und einfach dort weitergemacht, wo Niki vor zehn Jahren aufgehört hat.»
«Ja, so wird es gewesen sein. Jetzt würde ich doch gerne den Nachnamen von diesem Arschloch wissen.»
«Warum?»
«Weil Sie gleich tot sind, dann kann ich Sie nicht mehr fragen.»
«Marco Postifachione», sagte Emilio.
«So, genug geplaudert», sagte Professor Puttmenger, «jetzt muss ich Sie leider von Ihrem irdischen Dasein erlösen.»
«Tun Sie sich keinen Zwang an, aber kommen Sie bitte etwas näher. Ich möchte vermeiden, dass Sie nicht richtig treffen. Wie gesagt, ich leide nicht gerne.»
«Keine Sorge. Ich war mal im Sportschützenverein.» Puttmenger gab ihm mit der linken Hand ein Zeichen. «Stehen Sie auf, ganz langsam! Keine unbeherrschte Bewegung!»
«Warum erschießen Sie mich nicht im Sitzen? Ich fand das bequem.» Emilio stützte sich auf seinen Stock und richtete sich ächzend auf.
«Sie müssten dringend zum Psychiater», stellte Puttmenger fest, «Sie sind massiv geistesgestört. Aber das hat sich in Kürze erledigt. Sie gehen jetzt vor mir her, nach links, zur Treppe in den Weinkeller. Das ist ein guter Platz zum Sterben, da hört keiner den Schuss, und er lässt sich gut reinigen.»
«Ihr Weinkeller? Ich erinnere mich, sehr beeindruckend. Der Blauburgunder, den Sie bei meinem ersten Besuch aufgemacht haben, hatte übrigens einen unangenehmen Beigeschmack. Haben Sie das nicht bemerkt?»
«Die Flasche von Niki, for friends only?»
«Ganz richtig. Aber vielleicht lag es daran, dass Sie als sein Mörder nicht wirklich zu seinen Freunden zählten.»
«Guter Scherz. Aber der Wein war tadellos. So, jetzt gehen Sie ganz langsam die Stufen herunter. Ich bin direkt hinter Ihnen und ziele genau auf Ihren Hinterkopf. Denken Sie noch an ein paar schöne Dinge. Gleich wird es vorbei sein.»
Emilio blieb auf der Treppe stehen und hielt sich am Geländer fest. «Habe ich einen letzten Wunsch?», fragte er, ohne sich umzudrehen.
«Kommt darauf an.»
«Darf ich mir unten einen Wein aussuchen, an dem ich noch einmal riechen und von dem ich einen letzten Schluck nehmen kann?»
Puttmenger lachte schrill. «Nein, das dürfen Sie nicht. Das wäre rausgeschmissenes Geld. Außerdem dauert mir das jetzt alles viel zu lang.»
«Sie schlagen mir meinen letzten Wunsch aus? Das nehme ich Ihnen persönlich übel.»
«Weitergehen!», herrschte ihn Puttmenger an.
Emilio ließ das Geländer los und stieg die weiteren Stufen hinab. Er konstatierte, dass man sich im Leben nie auf andere verlassen sollte. Und er hatte das ungute Gefühl, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er dachte an seinen unfreiwilligen Sturz in der Apfelplantage, der ihm bei Marcos Angriff das Leben gerettet hatte. Emilio täuschte ein Straucheln vor, dabei drehte er sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit um die eigene Achse, von schräg unten schlug er mit dem Gehstock nach Puttmengers Hand und der Waffe. Ein Schuss löste sich, die Pistole flog durch die Luft. Emilio konnte sich nicht halten und stürzte auf den harten Boden des Weinkellers, wo er versuchte, sich abzurollen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Puttmenger mit einem wütenden Schrei über ihn hinwegsprang. Oben im Haus war Lärm zu hören. Scheiben wurden eingeschlagen. Emilio versuchte, sich aufzurichten. Da sah er, wie Puttmenger plötzlich wieder die Pistole in der Hand hielt und auf ihn zielte. Aber Emilio hatte bereits seinen Degen aus dem Gehstock gezogen. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, stieß er zu. Puttmenger drückte ab, die Kugel verfehlte Emilio und schlug im ersten Weinregal ein, dort, wo er seinen besten Lagrein gelagert hatte. Der Professor sah erstaunt auf seinen Brustkorb, der von einer langen Klinge durchbohrt war. Er spuckte Blut, ein weiterer Schuss löste sich. Emilio brachte sich robbend hinter einer Mauer in Sicherheit. Puttmenger zitterte, seine Beine wurden schwach, die Pistole entglitt ihm. Erneut blickte er ungläubig auf den Degen in seiner Brust. Sein Atem rasselte. Dunkle Gestalten in der Kampfmontur eines Sondereinsatzkommandos stürmten die Treppe herunter. Bevor Professor Falko Puttmenger stürzen konnte, wurde er überwältigt. Dann war alles vorbei.
***
«Sie sind verdammt spät gekommen», stellte Emilio fest, der in der Mitte des Wohnzimmers stand und gerade durch einen Spezialisten vom versteckten Mikrophon und der kleinen Sendeeinheit befreit wurde.
«Tut mir leid», sagte Kriminalrat a.D. Luis Gamper. «Aber wir hatten technische Probleme, und bei der Sondereinheit der Carabinieri gab es ein Missverständnis mit dem Zeitplan. Aber ist ja gerade noch mal gutgegangen.»
«Für mich schon, hätte aber auch schiefgehen können, da hat nicht viel gefehlt. Wie geht es dem Professor?»
«Nicht gut. Wenigstens war der Notarzt pünktlich.»
«Wäre besser gewesen, wir hätten ihn nicht gebraucht.»
Neben Gamper stand als offizieller Leiter der Aktion der Chef von Emilios Cappuccino-Bekanntschaft aus der Quästur. «Wir sind froh, dass Ihnen nichts passiert ist. Wir haben jedes Wort verstanden und alles aufgezeichnet, auch Professor Puttmengers Geständnis, dass er Niki vorsätzlich umgebracht hat.»
«Mord verjährt nicht», sagte ein Mann im Anzug, der sich zuvor als Staatsanwalt vorgestellt hatte.
«Mein Kompliment», sagte Gamper zu Emilio, «Sie haben Nerven wie Drahtseile.»
«Das täuscht», erwiderte Emilio, «ich hatte sogar beschissene Angst, aber ich kann meine wahren Gefühle gut verbergen, das hilft. Leider ist Puttmenger meiner Aufforderung nicht gefolgt, näher zu treten, damit wäre er in die Reichweite meines Stocks gekommen.»
«Die Fahndung nach Marco Postifachione läuft bereits», sagte der Kommissar aus Bozen.
Emilio versuchte zu lächeln. «Einen Marco Postifachione werden Sie nicht finden.» Dann nannte er den richtigen Namen und auch die Adresse von Marcos Schwester in Lana. «Aber ich denke, er ist längst über alle Berge.»
«Wenn er den Ferrari behält, kriegen wir ihn.»
«Kann sein. Diese Dummheit traue ich ihm zu.»
«Selbstredend wird Ihre Selbstverteidigung kein juristisches Nachspiel haben», sagte der Staatsanwalt. «Schließlich haben wir Sie erst in diese missliche Situation gebracht.»
«Ja, das hätte böse ins Auge gehen können. Übrigens hätte ich gerne meinen Gehstock wieder, mit allem, was dazugehört.»
«Natürlich, obwohl solche Stöcke verboten sind. Das wissen Sie?»
«Nein, das wusste ich nicht», spielte Emilio den Überraschten. «Es bleibt bei unserer Vereinbarung?»
«Dass Ihr Name im Protokoll unerwähnt bleibt, ja natürlich, dabei bleibt es.»
Emilio setzte sich auf einen Stuhl und massierte sich sein Handgelenk. Am Ellbogen hatte er einen Verband. Kopf und Schulter taten weh. Zog er die weiteren Verletzungen der letzten Zeit in Betracht, kam er zur Einschätzung, dass er kurz vor der Verschrottung stand. Er sah hinüber zum Esstisch, wo die Flasche Lagrein Riserva stand, die er aus Puttmengers Weinkeller mitgenommen hatte. «Verstößt es gegen die Dienstbestimmungen, wenn wir die Flasche öffnen und ein Glas trinken?», fragte er.
«Ich bin im Ruhestand», sagte Gamper, «mich kann man nicht belangen. Wo sind hier Gläser und ein Korkenzieher?»
Der Staatsanwalt lachte. «Die Flasche haben Sie gewiss persönlich mitgebracht», sagte er zu Emilio.
«Selbstverständlich. Wenn mich jemand erschießen möchte, bringe ich als Präsent immer eine Flasche mit. Das ist eine alte Familientradition.»
***
Stunden später wurde Baron Emilio von Ritzfeld-Hechenstein, der im Schatten einer Pergola auf einer Liege lag, von zwei Damen betreut. Die eine war an Jahren deutlich älter und roch nach einem Parfum, das längst aus der Mode war. Die andere sah Emilio aus hellblauen Augen an und wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte.
Theresa dankte Emilio, dass er den Mörder ihres Sohnes zur Strecke gebracht hatte. Sie habe all die Jahre gespürt, dass Niki keinen Unfall gehabt habe. Und sie habe fest daran geglaubt, dass Emilio die Wahrheit herausfinden würde. Niki würde dadurch nicht wieder lebendig, aber jetzt könne sie ihren Seelenfrieden finden.
Emilio verzog das Gesicht. Er grummelte, dass so wenigstens Theresa dem versauten Tag etwas Gutes abgewinnen könne. Er selbst sei dagegen ziemlich frustriert. Die bescheuerte Aktion mit dem versteckten Mikrophon wäre nicht nötig gewesen. Es ärgere ihn, dass ihn erst eine Knalltüte wie Marco auf die richtige Spur gebracht habe. Da hätte er wirklich von alleine und vor allem viel früher draufkommen müssen. Dann hätte es dieses Affentheaters von heute nicht bedurft. Mit etwas mehr Intelligenz hätte er einen diskreteren Weg gefunden und den Professor nicht aufspießen müssen wie ein Schaschlik.
Phina sagte, dass sie Puttmenger noch nie gemocht habe, aber sie wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass der smarte Professor ein Doppelleben führte und zudem Niki umgebracht haben könnte.
Deshalb sei sie ja Winzerin, stellte Emilio fest, und keine Detektivin. Von ihr würde das niemand erwarten, von ihm aber schon – jedenfalls stelle er selbst an sich diesen Anspruch. Statt sich auf Puttmenger zu konzentrieren, habe er lange Zeit Phina in Verdacht gehabt, so blöd müsse man erst mal sein.
In diesem Punkt stimmte ihm Phina zu. Dann fiel ihr ein, dass vorhin ein Kriminalrat namens Gamper angerufen habe, sie solle Emilio ausrichten, dass Puttmenger nach Einschätzung der Ärzte überleben würde.
Das zumindest sei eine gute Nachricht, sagte Emilio. Er habe noch nie jemanden umgebracht, und er wolle nicht im schönen Südtirol damit beginnen.
Theresa schüttelte entgeistert den Kopf. Man stelle sich vor, ein ehrenwerter Professor, der in Frauenkleidern anderen Männern hinterhersteige, das hätte es früher nie gegeben. Das alles könne sie nicht verstehen, das sei nicht ihre Welt.
Emilio sagte, dass sie sich da mächtig täuschen würde, das habe es schon immer gegeben und in allen Kulturen. Mörder übrigens auch. Bei Puttmenger jedenfalls sei nach außen alles viel zu perfekt und glatt gewesen, solche Menschen hätten meist ein Geheimnis. Und hätte er sich das Foto der Drag Queen genauer angeschaut, hätte der Groschen fallen müssen. Aber nein, er habe Tomaten auf den Augen gehabt und den Intellekt einer Küchenschabe. Deshalb sei er ja so sauer.
Theresa und Phina widersprachen ihm heftig und meinten, dass er jetzt wohl endgültig spinne.
Er habe keine Lust, darüber zu diskutieren, sagte Emilio. Es sei sein gutes Recht, sich für einen Idioten zu halten. Er zeigte ein angedeutetes Lächeln. Natürlich stehe diese Einschätzung nur ihm selbst zu, er erwarte von anderen keine Zustimmung – das wäre ja noch schöner. Emilio schloss die Augen und gähnte. Nach Stresssituationen überfalle ihn oft eine bleierne Müdigkeit, erklärte er mit leiser Stimme. Die vergangenen Stunden hätten ihn über die Maßen angestrengt, auch habe ihn die Möglichkeit seines vorzeitigen Ablebens stärker beunruhigt als erwartet. Er würde jetzt gerne alleine sein und etwas schlafen. Zum Abendessen könne man ihn wecken. Er hätte Lust auf Phinas sensationelle Spinatknödel mit frisch darübergehobeltem Parmesan. Dazu ein Glas von ihrem besten Wein. Er murmelte noch etwas, das kaum zu verstehen war. Für Phina hörte es sich an wie: «Blauburgunder!»