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Übelkeit und Erbrechen nach vorangegangener Bewusstlosigkeit, Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Erinnerungslücken … Emilios Interesse an der Medizin, das über eingebildete Krankheiten weit hinausging, reichte aus, um vom Tathergang und den Symptomen auf ein mögliches Schädel-Hirn-Trauma zu schließen. Schwer atmend lehnte er an seinem Landy. Er langte sich an die schmerzende Schläfe, tastete seinen Kopf ab. Wo kam das Blut an seinen Händen her? War das sein eigenes, oder stammte es von Marco, den er erfolgreich in die Flucht geschlagen hatte? Fast musste er grinsen. Zwar hatte er einige Blessuren davongetragen, aber nach Lage der Dinge hatte er gewonnen – gegen einen verurteilten Totschläger. Für einen Mann seines Alters und unter Berücksichtigung seiner mangelnden körperlichen Fitness war das ein respektables Ergebnis. Er sollte sich freuen.

Emilio versuchte, sich trotz der schlechten Lichtverhältnisse im intakten Außenspiegel zu betrachten. Wie es schien, hatte er am Kopf keine Platzwunde davongetragen, was aber nicht eindeutig auszuschließen war. Was gab es noch? Wahrscheinlich bestand die Gefahr einer Gehirnblutung. Und eine Schädelfraktur würde man erst nach einer Röntgenaufnahme oder mit einem Computertomogramm ausschließen können. Das war alles wenig beruhigend. Allerdings lebte er noch, das sollte positive Energien freisetzen und die spontanen Selbstheilungskräfte aktivieren. Blutete er aus der Nase oder den Ohren? Sah nicht so aus, also hoffentlich keine Schädelfraktur. Und die Schulter? Sie tat zwar höllisch weh, aber er konnte den Arm gut bewegen, da war wohl nichts gebrochen. Den gemeinen Tritt zwischen die Beine hatte er schon fast überwunden, es war schön, wenn der Schmerz nachließ. Auch Marcos Magenschwinger hatte er weitgehend verdaut, da hatte offenbar die letzte Kraft gefehlt. Jedenfalls bekam er immer besser Luft, und es pfiff auch nicht mehr beim Atmen. Dass ihm das Knie weh tat, war fast ein Normalzustand, auch wenn es aus unerfindlichen Gründen mal das eine, dann wieder das andere war. Diesmal hatte ihm diese Beeinträchtigung womöglich das Leben gerettet. Er erinnerte sich an das vorangegangene Ereignis zwischen den Apfelbäumen, wie er losgerannt war und plötzlich ein Knie unter ihm nachgegeben hatte, wie er zu Sturz gekommen war und ihm schwarz vor den Augen wurde. Rekonstruierte er den Vorgang richtig, und unter Kenntnis des hässlichen Totschlägers, der auf dem Beifahrersitz lag, dann hatte ihn Marco justament niedergeschlagen, als er ohnedies zu Boden ging – und ihn deshalb nicht richtig getroffen. Es hatte gereicht, um ihm das Bewusstsein zu rauben, aber nicht, um ihn länger ins Reich der Träume zu schicken.

Stellte sich die Frage, was er jetzt tun sollte. Per Handy die Rettung verständigen? Viel zu dramatisch! Sich ans Steuer setzen und in die Notaufnahme des ihm bekannten Krankenhauses von Bozen fahren? Im Prinzip richtig, aber er hatte keine Lust, dort seinem Widersacher zu begegnen, der nach seiner Einschätzung nicht nur eine tiefe Stichwunde im Oberarm davongetragen hatte, sondern zudem eine klaffende Verletzung am Oberschenkel. Da musste einiges zusammengeflickt werden. Also keine Notaufnahme! Zu Phina und sich von ihr verarzten lassen? War er von allen guten Geistern verlassen! Valerie? Um Gottes willen, er konnte in seiner Situation keine weitere Aufregung gebrauchen!

Was machten verletzte Tiere? Sie zogen sich in ihre Höhle zurück, um sich die Wunden zu lecken und auszuruhen. Genau das würde er jetzt tun. Emilio ging hinkend nach hinten, dabei stützte er sich an der Karosserie ab, und schloss die Hecktür, dann setzte er sich ans Steuer und startete den Landy. Das Lenken war mit der angeschlagenen Schulter eine schmerzhafte Angelegenheit, die harten Stöße der Blattfederung schlugen direkt auf seinen Kopf durch, beim Kuppeln flog ihm fast die Kniescheibe weg – aber es ging voran. Er hatte gesiegt, er hatte sich nicht umbringen lassen, schon gleich nicht von so einem dahergelaufenen Typen wie Marco. Autsch, die Bodenwelle hatte er übersehen. In welche Richtung fuhr er eigentlich? Wo führte die Straße hin? Den Berg rauf machte jedenfalls keinen Sinn. Er drehte um und fuhr wieder talwärts. Wenig später stieß er auf ein Straßenschild, das ihm den Weg nach Bozen wies. Irgendwann würde eine Abzweigung nach Terlan kommen – und dann war es nicht mehr weit zu seiner Höhle, sprich zur Villa von Ernst Steixner.

«Cazzo!» Emilio glaubte, Marcos Stimme zu hören. Der Fluch war eine erste Reaktion auf seine Frage nach der Drag Queen aus Verona gewesen. Er hatte von Marco wissen wollen, was die Person mit den Erpressungen zu tun hatte. Die Antwort hatte ihn sprichwörtlich aus den Schuhen gehauen, hatte ihn so verblüfft, dass er für einen kurzen Augenblick nicht mehr aufgepasst hatte. Das wäre ihm fast zum Verhängnis geworden. Aber nur fast. War das wirklich möglich? Für Marco hatte es keinen Grund gegeben, ihn anzulügen, nicht in dieser Situation. Und so viel Phantasie hatte Marco nicht, dass ihm das spontan eingefallen wäre. Einerseits konnte er es nicht glauben, andererseits spürte er, dass es die Wahrheit war. Und wenn es stimmte, was hatte das für Konsequenzen? Ergaben sich daraus neue Perspektiven? Musste er noch einmal alles ganz neu bedenken? Schon wieder eine Bodenwelle. Denken? Ganz bestimmt nicht mit diesem Kopf und in seinem jetzigen Zustand. Vielleicht morgen, oder auch nicht. Was ging es ihn an? Veränderte das irgendetwas? Morgen, morgen. Hoffentlich war er bald in seiner Höhle. Seine Kräfte schwanden, die Schmerzen wurden stärker, das kurze Hochgefühl des Sieges verflog. Steixner hatte im Badezimmer einen guten Apothekenkasten, das wusste er, den würde er plündern und alles einwerfen, was Linderung versprach. Eine Dusche, ein oder zwei Schlaftabletten, mit einem Grappa runtergespült, dann ab ins Bett. An nichts mehr denken. Schlafen. Und wenn ihn in der Nacht eine Gehirnblutung ereilen sollte oder ein Herzstillstand, dann bitte auf eine Weise, dass er nichts davon mitbekam.

Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol
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