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Emilio beobachtete die Gewitterwolken, die sich über den Bergen zusammenbrauten. Er hatte keine Lust, durch Pfützen zu pflügen. Obwohl sein alter, verbeulter Land Rover dafür bestens geeignet war. Mit ihm konnte man auch durch Bachläufe fahren. Die Pfützen waren nicht das Problem, schon eher die Scheibenwischer, die bei allzu heftigem Regen gelegentlich den Dienst quittierten. Was natürlich widersinnig war, geradezu grotesk, denn der Regen war ja die einzige Daseinsberechtigung für Scheibenwischer! Aber sein geliebter, rechtsgesteuerter Landy war sowieso nicht mit den Maßstäben modernen Automobilbaus zu messen. Die Frontscheibe war zweigeteilt. Polternde Starrachsen sorgten dafür, dass man bei der Fahrt nicht einschlief. Der Schalthebel verdiente seinen Namen nicht, mit ihm konnte man im Getriebe allenfalls rühren. Das flachstehende Lenkrad erforderte permanentes Steuern – weshalb er schon im nüchternen Zustand Schlangenlinien fuhr.
Er war auf der Landstraße unterwegs, er hasste Autobahnen – vor allem gebührenpflichtige! Den Brenner hatte er längst hinter sich gebracht, auch Sterzing, wo er eine Pause eingelegt hatte. Frank hatte ihm den Pretzhof empfohlen, der würde ihm gefallen. Er hatte recht gehabt, die kulinarische Einstimmung auf Südtirol hätte nicht besser sein können, auch nicht der Spanferkelbraten. Nur fühlte er sich jetzt etwas schläfrig.
Nach Bozen waren es nur noch wenige Kilometer. Emilio war sauer – und zwar auf sich selbst. Warum hatte er sich von Theresa breitschlagen lassen? Das musste was mit seinem limbischen System zu tun haben, mit jenen Hirnarealen, die für Emotionen zuständig waren. Sein limbisches System hatte dem Teil seines Gehirns, das für Vernunft und Logik verantwortlich zeichnete, einen Streich gespielt. Emilio schlug mit der Faust gegen das Armaturenbrett. War er jetzt total verblödet? Limbisches System? Bullshit! Natürlich gab es handfeste Gründe, warum er Theresas Einladung gefolgt war. Diese passten als kleines Bündel in einen Briefumschlag und halfen bei seinem aktuellen Liquiditätsengpass. So einfach war das. Es lag an ihm, das Beste daraus zu machen. Immerhin war er nicht gleich am nächsten Tag losgefahren, so viel Stolz musste sein. Die alte Dame konnte doch nicht über seinen Terminkalender verfügen – auch wenn er keine anderen Verpflichtungen hatte.
Wie auch immer, die Nachforschungen im Fall des Niki Steirowitz würde er auf ein Minimum beschränken, das hatte er sich fest vorgenommen. Stattdessen würde er sich mit der gebotenen Ernsthaftigkeit der systematischen Verkostung Südtiroler Weine widmen, außerdem freute er sich auf Speckknödel, Schlutzkrapfen und Kaminwurzen. Er entschuldigte sich schon mal bei Theresa für diese Berufsauffassung. Aber hatte sie nicht leichtfertigerweise selbst von einem «Erholungsurlaub» gesprochen? Außerdem, was sollte schon dabei herauskommen? Zwar konnte er nachvollziehen, dass Theresa Zweifel an der Unfallversion hegte. Aber der Fund der anonymen Warnung hätte etwas eher erfolgen müssen, nicht erst nach zehn Jahren.
Welche Szenarien waren außer einem einsamen Bergunfall vorstellbar? Nun dachte er doch über den Fall nach! Gut, er hatte ja gerade nichts Besseres zu tun. Natürlich könnte es sein, dass Niki damals nicht alleine auf dem Gipfel gewesen war und ein Kamerad den Absturz miterlebt hatte. Aus Angst vor Ermittlungen und möglichen Schuldzuweisungen hatte er sich feige davongemacht. Aber was änderte das?
Nächste Möglichkeit: Niki hatte Selbstmord verübt. Aber in den Unterlagen, die ihm Theresa gegeben hatte, fand sich kein Motiv. Dennoch, die statistische Häufigkeit von Selbsttötungen wurde meist unterschätzt. Er hatte mal gelesen, dass sich in Südtirol deutlich mehr Menschen das Leben nahmen als irgendwo sonst in Italien. Außerdem brachten sich Männer ganz generell sehr viel häufiger um als Frauen. Suizid? Gut möglich!
Das letzte Szenario, dass nämlich Niki Opfer einer Gewalttat geworden war, schien ihm am unwahrscheinlichsten – trotz dieser ominösen Warnung. Nun gut, ausschließen konnte man es nicht. Wer hatte keine Feinde? Aber diese Variante wollte er schon deshalb nicht glauben, weil er sich dann auf die Suche nach einem Täter begeben müsste. Dazu hatte er nun wirklich keine Lust. Lieber saß er auf einer Holzveranda, mit Blick auf Weinlauben, und trank einen Vernatsch, Lagrein, Gewürztraminer, egal.
Mittlerweile kurvte Emilio durch ein ausgesprochen hässliches Industriegebiet am Stadtrand von Bozen – wo waren die verdammten Weinberge? Er hatte kein Navi, aus Prinzip. Emilio war davon überzeugt, dass die Menschen durch Navigationsgeräte jeglichen Orientierungssinn verloren. Die nächste Generation würde ohne Navi nicht mehr auf die Toilette finden. Trotzdem hatte er irgendeine Abzweigung verpasst …
***
Zwanzig Minuten und einen kurzen Regenschauer später entdeckte er ein Schild, das ihn seinem Ziel unaufhaltsam näher brachte. Mit Sorge dachte er an die bevorstehende Unterbringung. Theresa hatte ihn bei einer «alten Freundin» einquartiert. Die Vorstellung konnte einem Angst machen. Er sah schon die Spitzendeckchen vor sich, die geblümten Vorhänge und Filzpantoffeln. Ob sie das gleiche süßliche Parfum wie Theresa verwendete? Wahrscheinlich war sie gehbehindert, und er musste sie im Rollstuhl herumschieben. Emilio hatte Talent darin, sich etwas besonders drastisch auszumalen. Wie war doch gleich ihr Name? Gertrude Josephina! Bei diesen prähistorischen Vornamen musste man mit dem Schlimmsten rechnen!
Emilio fuhr an einer pittoresken Kirche mit Zwiebelturm vorbei. Er hatte die Wegbeschreibung im Kopf. Über eine schmale Holzbrücke, Weinstöcke, ein Marterl, danach scharf rechts abbiegen, nach etwa zweihundert Metern ein kleiner Hof mit grünen Fensterläden. Ziel erreicht! Er drehte den Zündschlüssel ab. Der Landy verstummte mit einer Fehlzündung.
Emilio stieg aus und streckte sich. Schön war es hier, das musste er zugeben. Vor dem Haus plätscherte ein Brunnen. Im ersten Stock ausladende Blumenkästen mit weißen und roten Geranien. Auf der Terrasse neben einer Weinrebe eine schlichte Holzbank mit weißen Kissen. Er war hundemüde. Ob er sich gleich auf die Bank legen sollte? Die Haustür war verschlossen. Sein Läuten und Rufen blieben unbeantwortet. Hoffentlich lag die alte Dame nicht tot vor dem Kamin.
Auf einem Weg aus dem angrenzenden Weinberg näherte sich ein roter Traktor. Hätte sich Emilio mit Traktoren ausgekannt, hätte er einen Lamborghini-Traktor aus dem Jahr 1951 identifiziert, mit 22 Pferdestärken – ein unter Sammlern gesuchter Oldtimer. Aber erstens interessierte sich Emilio nicht für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge, und zweitens wurde seine Aufmerksamkeit von der Lenkerin des Traktors in Anspruch genommen. Eine junge Frau, die mit jedem Meter, den sie unter Getöse näher kam, immer besser aussah. Die blonden Haare waren wild zusammengeknotet, die nackten Beine steckten in verdreckten Gummistiefeln, ein rotkariertes Männerhemd war zur Hälfte in eine kurze Lederhose gestopft. Als der Traktor neben ihm zum Stehen kam, merkte Emilio, dass die Frau nicht mehr ganz so jung war, wie er erst gedacht hatte, aber im allerbesten Alter – jedenfalls nach seinem Geschmack.
Sie sah ihn skeptisch an, begrüßte ihn schließlich mit einem zurückhaltenden: «Grüß Gott. Suchen Sie jemanden?»
Er deutete auf das Haus und fragte, ob sie die Besitzerin kenne, eine alte Dame namens Gertrude Josephina, den Nachnamen habe er vergessen.
Jetzt musste sie doch lächeln, aber nur ganz kurz: «Eine alte Dame?» Sie stieg vom Traktor und gab ihm die Hand. «Sie sind der Baron aus Deutschland, ich habe Sie schon letzte Woche erwartet.» Ihr Händedruck war so fest, dass Emilio fast aufgeschrien hätte. «Die alte Dame», erklärte sie, «das bin ich. Nur Theresa nennt mich bei meinem Taufnamen, bei allen anderen heiße ich Phina, von Josephina.»
Emilio wiederholte etwas einfältig: «Phina, von Josephina, verstehe.» Dabei dachte er, dass diese Frau eine bemerkenswerte Ausstrahlung hatte, mit einem Händedruck wie ein Gladiator, mit hellblauen Augen, die im sonnengebräunten Gesicht wie kalte Gletscherseen anmuteten und ihn misstrauisch musterten. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass er nicht wirklich willkommen war. Aber vielleicht täuschte er sich.