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Jetzt war es also passiert. Nach einer monatelangen Durststrecke ohne Ermittlungsaufträge sah es ganz so aus, als ob er nun drei gleichzeitig an der Backe hatte. Das Leben war wie eine Flasche Ketchup: Erst kommt lange gar nichts – und dann alles auf einmal. Emilio steuerte seinen Land Rover an Meran vorbei Richtung Naturns, fand zu seiner eigenen Überraschung die richtigen Abzweigungen und gelangte schließlich auf den Forstweg, wo er in Begleitung des Bergführers Steff geparkt hatte, um von hier in geliehenen Stiefeln loszumarschieren. Er hatte nicht die Absicht, dieses Programm zu wiederholen, weder hatte er Stiefel an, noch wollte er zum Gipfel wandern, von dem Niki in den Tod gestürzt war. Emilio ignorierte ein «Gesperrt»-Schild und fuhr einfach weiter. Schließlich gelangte er an eine geschlossene Schranke. Das Vorhängeschloss war relativ neu und sehr solide. Jetzt zahlte sich aus, dass er sich mal von einem professionellen Einbrecher hatte ausbilden lassen. Ein Lederetui mit den erforderlichen Instrumenten hatte er dabei. Keine zwei Minuten später setzte er seine Fahrt fort. Sollte ihn jemand aufhalten, würde er sagen, dass er sich selber über die geöffnete Schranke gewundert habe. Der Forstweg führte immer steiler bergan, wurde zunehmend holpriger, ging schließlich in einen besseren Feldweg über. Dieser verfügte allerdings über eine ausreichende Breite für seinen Landy, davon hatte er sich schon bei seiner Wanderung mit Steff überzeugt. Er schaltete das Reduziergetriebe ein, mal drehte ein Rad durch, dann krachte es in der Hinterachse – aber es ging stetig voran. Er durchquerte ein Schlammloch. Er musste den Scheibenwischer einschalten, um zu sehen, wo es weiterging. Jetzt wurde es wieder ebener, vorne war schon die Almwiese zu sehen, wo sie den Senner getroffen hatten, der ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging. Er erreichte den Steig, den er von der Wanderung kannte. Am Gebirgsbach war auch für den Landy Schluss. Emilio stoppte. Er wendete den Geländewagen, wobei er kurz den Atem anhalten musste, denn für einen Augenblick hatte er das Gefühl, umzukippen. Dabei schoss ihm Phinas Vater und sein Traktor durch den Kopf. Schließlich stand der Landy abfahrbereit mit den Vorderrädern talwärts. Emilio nahm seinen Gehstock, stieg aus, ging vorsichtig über den glitschigen Steig, wanderte mit unzureichendem Schuhwerk, aber dennoch festen Trittes über die Almwiese. Die dort weidenden Kühe stufte er als gefahrlos ein. Er hatte keine Ahnung, wo sich die Almhütte befinden könnte. Er hörte einen Pfiff. Die mampfenden Kühe drehten ihre Köpfe träge bergwärts. Tatsächlich, da kam er daher, der wortkarge Senner, den Steff «Kas-Rudl» genannt hatte. Er blieb vor Emilio stehen, sah ihn mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen an, um ihn schließlich mit einem «Griasti» zu begrüßen.
Emilio lächelte. Das hatte er schon mal gehört. «Servus» sagte er.
Dann schwiegen sie, alle beide. Nach einer Weile fragte Rudl: «Willsch a Jausn?»
Emilio nickte. «Gerne.»
«Dann kimsch mit.» Rudl dreht sich um und ging voraus.
Später saßen sie vor seiner Almhütte. Emilio hatte vor sich ein Holzbrett mit frischer Butter, Bergkäse, einigen dicken Scheiben Speck und knusprigen Fladen aus Roggenmehl und Sauerteig. Auch hatte Rudl aus einem Glasballon Rotwein eingeschenkt. Das alles ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Er sah Emilio beim Essen zu, trank reichlich vom Wein – und schwieg.
Es dauerte lange, bis Emilio die Initiative ergriff.
«Du kannst dich genau an den Tag erinnern, oder?», fragte er. «An den Tag vor zehn Jahren, als der Mann vom Berg gefallen ist.»
Rudl kniff die Augen zusammen. «Hmmm.»
«Zu Steff hast du gesagt, dass das Wetter gut gewesen sei.»
Der Senner zeigte ein angedeutetes Nicken.
Emilio ließ sich Zeit, bevor er weitermachte. «Du hast sicher recht», sagte er.
«Sowieso.»
Wieder gab es eine lange Pause. Rudl nahm ein Stück vom Speck.
«Woher weißt du das?», fragte Emilio schließlich. «Nach so langer Zeit?»
Der Senner nannte als Antwort Tag und Monat, ohne weiteren Kommentar.
Emilio stellte fest, dass die Angabe stimmen konnte. Was noch nicht erklärte, warum Rudl sich daran erinnerte. Der nahm noch einen Schluck vom Rotwein. Dann sagte er lapidar: «Der Sterbetag meiner Muatr.»
«Ach so», sagte Emilio, «tut mir leid.»
Rudl zuckte mit den Schultern. «I hob Enzian pflückt, für ihr Marterl.»
«Hast du den Wanderer gesehen, der später ums Leben gekommen ist?»
Rudl nickte: «Freilich.»
Emilio wusste nicht, ob er den Bogen überspannte, aber er hakte nach: «Wie hat er ausgesehen?»
Rudl pulte mit einem Finger im Ohr. «Rote Hosn, rote Jackn», sagte er schließlich.
«Das war Niki», bestätigte Emilio.
«Sowieso», sagte Rudl.
Emilio dachte, es sei besser, mit der nächsten Frage etwas zu warten. Der Senner räumte das Holzbrett und die Weingläser weg.
«Hast du außer Niki damals noch jemanden gesehen», fragte Emilio, «oder irgendwas beobachtet?»
Rudl massierte sich sein Ohrläppchen. «Hmmm.»
Dann stand er auf und gab Emilio seine schwielige Hand. «Pfiati», sagte er, drehte sich um und verschwand in seiner Hütte.
Emilio blieb noch eine Weile sitzen. Er kam zur Erkenntnis, dass jeder weitere Versuch zum Scheitern verurteilt wäre. Er überlegte, ob er Rudl für die Brotzeit etwas Geld dalassen sollte. Aus dem Bauch heraus entschied er sich dagegen. Er sagte laut «Servus» und machte sich auf den Rückweg über die Almwiese, an den Kühen vorbei zu seinem Landy.