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Während Puttmenger dem Cayenne hinterherwinkte, atmete er tief durch. Das war gerade noch mal gutgegangen. Der Umschlag lag ungeöffnet auf dem Wohnzimmertisch, die Dose mit dem Katzenfutter stand in der Küche. Er hatte sich in der vergangenen Stunde einiges ausdenken müssen, um die Krisensituation zu bewältigen.
Der anonyme Umschlag mit der Aufschrift «Herzliches Beileid»? Ach, nichts Besonderes, wahrscheinlich wegen der Patientin, die letzte Woche verstorben ist, das wäre ihm ans Herz gegangen. Aber er wolle sich in seiner Freizeit nicht damit belasten. Der Brief könne warten.
Das Katzenfutter? Ja, der Umschlag sei bestimmt von seiner OP-Schwester, die mochte doch ihre Katze so sehr, da habe sie eben eine Dose mitgebracht, das sei doch nett.
Wo denn die kleine Mieze sei, hatte seine Tochter gefragt. Keine Ahnung, hatte er geantwortet, heute früh war sie noch da, sie sei eben eine kleine Rumtreiberin, wahrscheinlich suche sie einen Kater.
Seine Frau und die Kinder hatten ihm geglaubt, Gott sei Dank. Es war ihnen eigentlich auch ziemlich egal gewesen, nach der langen Fahrt und voller Wiedersehensfreude. Nun, zumindest die Kinder hatten sich gefreut. Bei seiner Frau Anja war er sich da nicht so sicher. Sie machte immer einen gelangweilten Eindruck. Deshalb war sie auch nicht auf die Idee gekommen, zu fragen, wie die OP-Schwester das geschlossene Eingangstor überwunden hatte. Stattdessen hatte sie eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank geholt, die Schuhe in eine Ecke geworfen und sich ein Glas eingegossen. Anja trank Champagner zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ihr Stoffwechsel hatte sich anscheinend darauf eingestellt, weitgehend ohne Wasser auszukommen. Puttmenger hielt seine Frau für ein medizinisches Wunder.
Der Cayenne war außer Sicht. Er drückte auf die Fernsteuerung und schloss das Tor. Die nächsten Minuten wollte und musste er alleine sein. Es hatte ihm einige Mühe bereitet, seine Frau zu motivieren, nach Meran zu fahren, um Lebensmittel zu kaufen, frisches Obst, Vinschgauer, Bergkäse, Fleisch für den Grill und so weiter. Er habe es leider nicht geschafft, wegen der vielen Arbeit. Das war gelogen, er hatte es schlicht vergessen – aber das hatte sich jetzt als Vorteil erwiesen. Die beiden Quälgeister von Kindern hatten nicht mitgewollt. Aber sie waren bestechlich: Je ein Hunderter, um sich irgendeinen Mist zu kaufen und im Bistro 7 unter den Lauben oder bei Rossini was zu trinken, schon waren sie dabei. Leider könne er nicht mitkommen, er müsse noch einen Bericht diktieren, hatte er gesagt.
Puttmenger schloss die Haustür, ging zum Wohnzimmertisch und nahm den Umschlag in die Hand. «Mein herzliches Beileid!» So ein Bastard. Erst die Katze umbringen und dann dieser Zynismus. Die Dose war der Gipfel der Dreistigkeit. Wenn er nur wüsste, wie er diesen Drecksack finden könnte.
Er schlitzte den Umschlag auf und entnahm ihm eine vorgedruckte Kondolenzkarte mit einem schwarzen Kreuz. Die wenigen handschriftlichen Zeilen, in krakeligen Großbuchstaben, hatte er schnell gelesen. Der Erpresser schien die Geduld zu verlieren. Die zu zahlende Summe hatte er kurzerhand um zehn Prozent erhöht. Ort und Zeitpunkt der Übergabe waren angegeben. Keine Polizei. Und auch sonst kein Sterbenswort zu irgendjemandem. Kein Privatdetektiv. Kleine Scheine. Letzte Chance. Und wieder ein Bild, diesmal mit durchstochenen Augen. Puttmenger schluckte. Das war heftig. Er würde wohl zahlen müssen, um diesen Idioten ruhigzustellen. Aber er musste sich was einfallen lassen, um ihm bei dieser Gelegenheit auf die Spur zu kommen. Er brauchte die Fotos, und zwar alle, auch den Speicherchip oder die Negative, was auch immer.
Da gab es noch ein kleines Problem. Wie sollte er seiner Frau erklären, dass er spät nachts aus dem Haus musste? Ein Notfall in der Klinik, okay, das war einfach. Ach so, und das Geld. Das war keine Kleinigkeit, aber er hatte Schwarzgeld im Tresor, und den Rest würde er ranschaffen, irgendwie. Blieb die Frage, welche Falle er dem Erpresser stellen könnte. Was stand im Brief? Kein Privatdetektiv? Eigentlich keine schlechte Idee. Vielleicht dieser Baron aus München? Aber konnte man so jemandem vertrauen? Außerdem hatte der Mann eine Gehbehinderung, beim kleinsten Windstoß würde er umfallen. Er brauchte einen Kämpfer – aber er kannte keinen. Es war ohnehin besser, das Ding alleine durchzuziehen. Er brauchte keinen weiteren Mitwisser, aber einen Plan. Hoffentlich ließ sich seine Familie Zeit. Er musste nachdenken. Er holte die angebrochene Flasche Champagner und hoffte auf die stimulierende Wirkung der Kohlensäureperlchen und der Polyphenole.