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Man sollte meinen, es wäre schön, viel Zeit in einer «Opera» in Mailand verbringen zu dürfen. Man denkt an die ehrwürdige Scala, assoziiert Opern von Verdi, träumt von Rigoletto oder Aida. Aber weit gefehlt. Allenfalls hätte Nabucco noch einen gewissen Bezug, dies aber allein aufgrund des Gefangenenchors. Denn in der «Opera» im Süden der lombardischen Metropole hat es keinen Mangel an Gefangenen. «Va, pensiero, sull’ali dorate … Flieg, Gedanke, getragen von Sehnsucht …» Hinter den hohen grauen Mauern der Justizvollzugsanstalt, die ironischerweise «Opera» genannt wird, verbüßen die Häftlinge meist längere Haftstrafen – und es sind nur die Gedanken, denen es gestattet ist, davonzufliegen.
Die Casa di Reclusione, die zudem im Ruf stand, der größte Mafia-Knast der Welt zu sein, war ein Hochsicherheitsgefängnis, in dem Marco Giardino die letzten zehn Jahre verbracht hatte. Aber heute war es so weit, er machte seine ersten Schritte zurück in die Freiheit.
Hinter ihm schlossen sich die schweren Eisentore der Justizanstalt. Er blieb stehen, stellte seinen Koffer ab und atmete tief durch. So also roch die Luft außerhalb der Gefängnismauern – er hatte es fast vergessen. Marco war sportlich angezogen, mit einer beigen Leinenhose, weißem Poloshirt und einem Pulli locker über die Schultern gehängt. Es war ein strahlend schöner Tag in Mailand. Er setzte sich eine Sonnenbrille auf. Wäre nicht seine blasse Gesichtsfarbe gewesen, hätte man ihn für einen Urlauber halten können, der gerade vom Comer See kam oder von Capri.
Marco sah sich um. Es war niemand da, ihn abzuholen. Er durfte sich nicht beklagen, er hatte es so gewollt. Niemand seiner Bekannten oder von der Familie wusste, dass er heute entlassen wurde, vorzeitig, wegen guter Führung. Außerdem war es weit von Bozen hierher. Er nahm seinen Koffer, der nicht schwer war, und machte sich auf den Weg. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr er in die Innenstadt. Marco saß am Fenster und genoss den Blick auf die vorbeiziehenden Häuser, auf die Autos, Vespas und Passanten. Das Schönste an der Fahrt war die schlichte Tatsache, dass er sich fortbewegte, und zwar im ursprünglichen Wortsinn, er bewegte sich fort – nicht im engen Kreis wie im Gefängnishof.
Eine knappe Stunde später hatte er seinen Koffer bei einer Gepäckaufbewahrung deponiert. Er schlenderte über die Via Spadari, ergötzte sich an den Delikatessen in den Auslagen, die ihm wie von einer anderen Welt erschienen, er genoss die unendliche Freiheit auf der weiten Piazza del Duomo, verzichtete aber auf einen Besuch des Domes, schließlich wusste er nicht, wofür er dem himmlischen Herrn danken sollte. Er dachte an das letzte Gespräch mit der Gefängnispsychologin, erst gestern war das gewesen. Sie hatte seine Fortschritte in den letzten Jahren gelobt, er sei viel ausgeglichener geworden, habe seine Aggressionen offenbar unter Kontrolle. Sie sei stolz auf ihn. «Porca puttana», murmelte Marco – was sich wohlwollend mit «Schweineschlampe» übersetzen ließ.
Er betrat die Galleria Vittorio Emanuele II., setzte sich vor das legendäre Jugendstilrestaurant Zucca und bestellte ein Glas vino bianco. Gott sei Dank war die Psychologin hässlich wie die Nacht, sonst hätte er ihr schon vor Jahren gezeigt, dass seine Aggressionen alles andere als unter Kontrolle waren. Aber dann wäre er jetzt nicht hier. So war es besser, entschieden besser.
Marco stammte aus einer armen Familie, er war in einem Milieu aufgewachsen, wo Aggressionen fürs Überleben notwendig waren. Wenn ihn ein cretino blöd anmachte, bekam der Volltrottel eine verpasst, ohne Vorwarnung, so einfach war das. Wenn einer im Weg stand, wurde er weggestoßen. Und wenn einer seine Freundin anbaggerte, dann konnte er für nichts garantieren. Wie in jener Nacht vor der Disco in Bozen. So ein stronzo mit geföhnten Haaren hatte versucht, ihm seine Gina auszuspannen. Er hatte dem Hurensohn einen kräftigen Stoß versetzt und ihm den Rat gegeben, sich zu verpissen: «Vaffanculo!» Aber das Stück Scheiße war betrunken gewesen und hatte ihn nicht verstanden. «Pezzo di merda!» Der Idiot hatte sich aufgerappelt und war auf Marco losgegangen …
Die folgende Verurteilung wegen Totschlags hatte ein höheres Strafmaß zur Folge, weil Marco wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft war. Und nach all diesen Jahren meinte die Gefängnispsychologin, er habe eine «gute soziale Prognose» und seine Aggressionen unter Kontrolle. Marco musste lachen, fast verschluckte er sich am Wein. Er bestellte noch ein bicchiere. Ja, er hoffte schon, dass er sich in Zukunft besser beherrschen konnte, aber wenn die flachbrüstige puttana meinte, er würde jetzt ein angepasstes Leben führen, dann hatte sie sich gehörig getäuscht. Welche Ziele er für die Zukunft habe, hatte sie von ihm wissen wollen. Er wolle wieder in seinem alten Beruf arbeiten, hatte er geantwortet, Konflikten aus dem Weg gehen, eine gute Frau finden, vielleicht eine Familie gründen. Dabei hatte er sie treuherzig angeschaut. Marco kicherte. Die dumme Nuss hatte ihm geglaubt!