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Irgendwann waren Emilio im tiefen schwarzen Loch der Bewusstlosigkeit einige Lichtblitze durch den Kopf gezuckt, plötzlich hatte es hinter der Schläfe heftig zu pochen begonnen, hatte sich die Schulter mit einem qualvollen Schmerz bemerkbar gemacht und waren merkwürdige Brumm- und Poltergeräusche zu ihm vorgedrungen. Zunächst war er völlig orientierungslos, was ihn nicht weiter störte, am liebsten hätte er sich wieder umgehend in das schwarze Loch zurückgezogen, um seine Ruhe zu haben. Aber die Schmerzen ließen das nicht zu, außerdem war er gerade in einer Kurve zur Seite gerollt, auch war ihm übel. In einer Kurve? Über die starre Hinterachse verpasste ihm das Blech, auf dem er lag, einen Schlag gegen die Hüfte. Die Geräusche kamen ihm zunehmend vertraut vor. Hatte er zu viel getrunken? War das ein hyperrealistischer Albtraum? Oder lag er aus unerfindlichen Gründen in seinem eigenen Auto, das ohne sein Mitwirken munter durch die Gegend kurvte? Er öffnete vorsichtig die Augen. Die Perspektive war ungewöhnlich, aber seine Vermutung bestätigte sich: Doch, das war sein alter Landy, ganz sicher sogar, und zwar befand er sich auf dem Boden liegend im Heck des Fahrzeugs. Nun gut, dann war das geklärt. Er konnte sich also wieder verabschieden und die Augen schließen.
Er stellte fest, dass die eine Hand ganz taub war. Das Pochen hinter der Schläfe ging in ein penetrantes Trommelfeuer über, und auch seine schmerzende Schulter hatte etwas dagegen, dass er sich mental aus dieser Welt verabschiedete.
Rumms. Wieder ein Schlag von der Hinterachse – und das Gefühl, als ob ihm jemand einen Stromstoß durch den Körper jagte. Warum ließ man ihn nicht einfach schlafen? Oder gleich sterben, war ja schon egal.
War das gerade das Getriebe? Die Zahnräder in seinem Kopf hörten sich anders an. Wer immer am Steuer saß, konnte nicht richtig schalten, so viel stand fest. Ob er auf dem Weg ins Krankenhaus war? Vielleicht hatte ihn jemand gefunden, und dieser Menschenfreund brachte ihn gerade in die Notaufnahme, um sein erbärmliches Leben zu retten. Sein Unterbewusstsein meldete Protest an. Womöglich hatte ihn dieser Samariter vorher überfahren? Das würde seinen Zustand erklären. Nicht nur einmal überfahren, sondern vor und zurück. Erst über die Schulter, dann über den Kopf.
Noch eine Kurve, dann blieb der Landy stehen, der Motor ging aus, und jemand zog mehrfach an der Handbremse. Fast musste Emilio lächeln. Die Handbremse war schon seit einem halben Jahr kaputt. Na super, er erkannte nicht nur sein eigenes Auto wieder, sondern konnte sich sogar an etwas erinnern. Wieder öffnete er die Augen, nur ein wenig, das war anstrengend genug. Was war das für ein komisches Blechteil vor seiner Nase? Sah aus wie ein überdimensionierter Büchsenöffner. Nein, nicht wirklich. Eher wie ein Samuraischwert für Zwerge. Wo hatte er so was schon mal gesehen? Richtig, jetzt erinnerte er sich, bei Sylvester Stallone als Rambo im Dschungel von Vietnam. Aber er war gerade nicht im Kino, so viel stand fest. Er hörte eine Tür schlagen. Wo noch? Er hatte dieses hässliche Messer schon mal gesehen. Noch gar nicht lange her. Eine innere Stimme sprach zu ihm, aber er konnte sie nicht verstehen. Mit seiner gesunden Hand tastete er nach dem Messer, er konnte seine eigenen Finger sehen, dann spürte er den Griff. Fühlte sich irgendwie gut an. Er zog das Messer langsam zu sich. Jetzt öffnete sich die Tür im Heck des Autos. Seine innere Stimme, warum konnte sie nicht deutlicher sprechen? Jemand packte ihn grob an den Füßen. Nein, das war kein Mensch, der ihm freundlich gesinnt war, er würde ihn nicht in die Notaufnahme bringen, um ihm zu helfen.
Ein Auto näherte sich von hinten. Der Griff an seinen Beinen lockerte sich. Plötzlich spukten Bilder durch seinen Kopf, komischerweise sah er sich selbst dabei. Warum rannte er davon? Hinter ihm ein Schatten. Er sah, wie er versuchte, sich im Laufen umzudrehen, dabei kam er aus dem Tritt, ein Knie gab nach. Der Schatten hatte etwas in der Hand, holte weit aus, um zuzuschlagen. Für einen Sekundenbruchteil bekam der Schatten ein Gesicht. Emilio hatte das Gefühl, als ob in seinem Kopf ein heller Lichtblitz explodierte. Und dann war alles wieder da, ganz plötzlich, ohne Vorwarnung.
Das Auto war vorbei, draußen war es wieder ruhig. Der Griff an seinen Beinen wurde fester, jemand versuchte, ihn nach hinten aus dem Landy zu ziehen. Jemand? Emilio wusste jetzt ganz genau, um wen es sich handelte. Er lag auf dem Bauch, schrammte mit dem Gesicht über den Blechboden – und presste die Hand mit dem Messer von unten gegen die Brust. Ihm war klar, dass Marco die Sache zu Ende bringen wollte. Wenn er nicht aufpasste, war er in wenigen Augenblicken tot. Zwar hatte er den Tod schon häufiger als mögliche Alternative in Erwägung gezogen, aber erstens wollte er den Zeitpunkt selbst bestimmen – und zweitens war der Gedanke völlig inakzeptabel, dass ihn ein unkultivierter Zeitgenosse wie Marco umbringen sollte.
Emilio stellte fest, dass es gar nicht so leicht war, den Ohnmächtigen zu spielen, wenn man vor Schmerzen hätte schreien können. Außerdem war Marco ein unbeholfener Grobian. Warum schleppte er ihn wie einen Sack Kartoffeln ums Auto herum? Emilio beschloss, nicht auf die Antwort zu warten. Das Kampfmesser hielt er immer noch fest umklammert, jetzt stieß er zu. Nicht fest, und er wusste auch nicht, in welches Körperteil. Er spürte kaum einen Widerstand, als stieße er in weiche Butter, das Messer musste unglaublich scharf sein. Er sah, dass die Klinge blutig war. Nein, definitiv keine Butter! Jetzt führte er das Messer von schräg unten gegen Marcos Kehle. «Setz mich ganz langsam ab!», sagte er leise. «Keine schnelle Bewegung, sonst bist du tot!»
Emilio wusste nicht, wie stark der Druck sein durfte, den er ausübte. Er traute dem Messer zu, dass es plötzlich bis zum Griff in Marcos Hals oder in seinem Kopf verschwand. Das lag zwar nicht in seiner Absicht, wäre aber in seiner jetzigen Situation hinnehmbar. Auch der mögliche Einstichwinkel war ihm unklar, schließlich hing er mit dem Kopf nach unten über Marcos Schulter. Dieser atmete stoßweise, zeigte keine Gegenwehr und setzte ihn vorsichtig auf die Beine. Emilio richtete sich schwankend auf, dabei konzentrierte er sich unablässig auf das Messer. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Wahrscheinlich sollte er einfach zustoßen, das wäre am sichersten. Er hoffte, dass er später noch am Leben sein würde, um über seine Skrupel nachdenken zu können.
Mittlerweile stand Marco mit dem Rücken gegen den Land Rover, den Kopf nach hinten überstreckt, mit dem Messer von unten gegen die Kehle und mit ängstlich aufgerissenen Augen.
«Allora, du Scheißkerl», sagte Emilio auf Italienisch. «Ist das der Dank dafür, dass ich dich im Weinberg am Leben gelassen und dich nicht der Polizei ausgeliefert habe?»
Als Antwort bekam er einen Gurgellaut zu hören.
«Ich kann dich schlecht verstehen», sagte Emilio und drehte leicht am Messer. Blut lief über Marcos Hals.
«Wer hat Niki umgebracht?», fragte Emilio.
«Keine Ahnung», röchelte Marco.
«Das soll ich dir glauben?»
«Ich war im Gefängnis.»
«Wer hatte die Idee, Nikis Freunde zu erpressen?»
«Fick dich!»
«Falsche Antwort.» Emilio verstärkte den Druck. Die Spitze vom Messer war schon nicht mehr zu sehen, der Blutstrom am Hals vergrößerte sich, begann leicht zu pulsieren. «Ihr habt gemeinsame Sache gemacht, richtig?»
«Ja, das haben wir.»
«Na siehst du, es geht doch. Hatte er das Belastungsmaterial in seinem Zimmer bei seiner Mutter versteckt, wo du es dir geholt hast?»
«Warum fragst du so blöd? Du weißt ja eh schon alles.»
«Nein, weiß ich nicht. Zum Beispiel interessiert mich, was die Drag Queen auf den Fotos mit den Erpressungen zu tun hat.»
Marco versuchte zu grinsen, was ihm nicht wirklich gelang. «Warum sollte ich dir das sagen?»
«Weil ich dich dann vielleicht am Leben lasse.»
«Arschloch.»
Ein Auto kam vorbei, Emilio stand so dicht vor Marco, dass sie im Scheinwerferlicht aussahen wie ein Liebespaar.
«Antworte!»
Sie hatten das ganze Gespräch auf Italienisch geführt. Marco flüsterte noch ein «Cazzo!», dann antwortete er auf Emilios Frage. Er fasste sich kurz, es reichte ein Satz.
Emilio sah ihn ungläubig an, dabei war er für einen kurzen Augenblick unkonzentriert. Entweder hatte Marco gespürt, dass der Druck an seiner Kehle etwas nachließ, oder er hatte einfach den Instinkt eines Straßenkämpfers für den richtigen Moment, jedenfalls stieß er Emilio mit dem Knie zwischen die Beine, gleichzeitig mit dem Unterarm in die Ellenbeuge. Emilio krümmte sich zusammen, sein Arm mit dem Messer wurde nach unten gerissen. Marco verpasste ihm aus kurzer Distanz einen Magenschwinger. Doch Emilio steckte den Schlag gut weg und hielt das Messer noch immer fest in der Hand. Jetzt fuhr die Klinge an Marcos Oberschenkel entlang, was nicht nur seine Hose aufschlitzte, dann zischte sie äußerst knapp an seinem Gesicht vorbei. Marco stieß Emilio in Panik von sich weg – und rannte los.