13
Obwohl das Wetter schön war, kaum eine Wolke den Himmel über Terlan trübte und eine angenehme Brise durch das Tal strich, hielt sich Ernst Steixner nicht auf der Terrasse seiner Villa auf. Er verschmähte die Sitzbank, von der man einen wunderbaren Blick auf die Etsch hatte und auf die umliegenden Weinberge, die einen so vorzüglichen Weißwein hervorbrachten, dass internationale Kritiker regelmäßig ins Schwärmen gerieten. Steixner liebte die Weine der Kellerei Terlan, er konnte sich am Sauvignon Quarz berauschen, er hatte ein Faible für den Pinot bianco Vorberg, und zu später Stunde mochte er den roten Lagrein Porphyr. Er hätte Vorträge halten können über das einzigartige Terroir von Terlan, über die Bedeutung der Kellerarbeit und über die herausragenden Alterungseigenschaften ausgewählter Tropfen. Aber Steixner hatte Depressionen, in diesen Phasen konnte er den schönen Seiten des Lebens nichts abgewinnen.
Er saß im abgedunkelten Wohnzimmer, den schwermütigen Klavierklängen der Nocturnes von Chopin lauschend, gespielt von Artur Rubinstein. Er starrte vor sich hin, dachte an nichts Spezielles – und doch an alles gleichzeitig. Schon als Kind hatte er als Berufswunsch «Privatier» angegeben, ohne wirklich zu wissen, was das bedeutete. Aber ein Leben ohne Arbeit hatte er toll gefunden. Weil seine Familie sehr vermögend war, hatte er es schließlich auch führen können. Aber hatte es ihn glücklich gemacht? Nein, nicht wirklich, und in den letzten Jahren immer weniger. War das der Preis, den er für das Privileg der finanziellen Unabhängigkeit bezahlen musste? Gab es einen Pakt mit dem Gott der Finsternis, von dem er nichts wusste? Mit einem Mephisto wie in Goethes Faust? Fast schien es so. Aufgewachsen in Salzburg, lebte er schon seit über zwei Jahrzehnten die meiste Zeit des Jahres in Südtirol. Er hatte eine attraktive Frau gefunden, die ihn liebte, er hatte viele Freunde, konnte sich schöne Autos leisten, dieses komfortable Haus am Fuße des Tschögglberges, er konnte Golf spielen, wenn andere ins Büro mussten, er konnte reisen, in den besten Hotels wohnen, in den feinsten Restaurants speisen und seine kulturellen Interessen pflegen. Gewiss gab es Menschen, die ihn beneideten, die gerne mit ihm getauscht hätten, selbst heute noch.
Ihm fiel der Jedermann von Hofmannsthal ein, er glaubte, sich auf einem Bankett zu sehen, an der Seite einer Buhlschaft mit wogendem Busen. Er langte sich an den Kopf. Seit wann läuteten bei Chopin Totenglocken? Rief da jemand seinen Namen? Wer würde mit ihm gehen? Hatte er ein sündhaftes Leben geführt? Nein, hatte er nicht. Aber das Schicksal, das ihn erst so verwöhnt hatte, meinte es nicht mehr gut mit ihm. Steixner schloss die Augen. Seine geliebte Frau war gestorben, nach langer Krankheit. Mit diesem Schicksalsschlag kam er nicht klar, er hatte es versucht, es gelang ihm nicht. Er konnte die Trauer überspielen, in Gesellschaft ging das ganz gut, da konnte er sogar lachen. Aber wenn er alleine war, holte ihn die Depression wieder ein, kam hervorgekrochen aus einem finsteren Loch, wie ein hinterhältiges Tier, das dort nur auf ihn gewartet hatte, das sich nicht abschütteln ließ.
Auch die Erinnerung ließ sich nicht abschütteln, weder jene an seine verstorbene Frau, dafür war er sogar dankbar, noch die Erinnerung an die schrecklichsten Sekunden in seinem Leben. Steixner spürte, wie sich sein Puls beschleunigte, sein Atem ging schneller, gleichzeitig bekam er immer weniger Luft, glaubte zu ersticken. Warum konnte er nicht vergessen? Nach so vielen Jahren? Dabei war der einzige Zeuge gar nicht mehr am Leben, Niki war schließlich tot. Aber es wusste noch jemand von diesem traumatischen Ereignis, jemand, der ihm nicht von der Seite wich – nämlich er selbst!