44
Unter der Kunststoffschiene am Arm juckte es, auch hatte er häufig Kopfweh, trotz der schmerzstillenden Medikamente, er hatte Probleme beim Atmen – aber davon abgesehen ging es Ernst Steixner nicht so schlecht. Die Ärzte machten sich Sorgen um seine Lungenfunktion, einige Rippen waren gebrochen. Deshalb durfte er nicht nach Hause. Letztlich war ihm das egal. Wahrscheinlich war es sogar besser so. Hier wurde für ihn gesorgt, er war für den Erpresser nicht erreichbar, er konnte nicht in Versuchung geführt werden, die Dokumente im Umschlag zu studieren, die alten Zeitungsausschnitte und die Fotos, die ihn belasteten. Er lief nicht Gefahr, sich auf ein Bahngleis zu stellen und auf den nächsten Zug zu warten. Im letzten Augenblick erst hatte er sich zur Seite geworfen.
Hier im Krankenhaus konnte er in Ruhe nachdenken. Über sein Leben, das ihm viele schöne und glückliche Augenblicke beschert hatte, aber auch einige schlimme Momente und Tragödien.
Seit dem Tod seiner Frau hatte er keinen wirklichen Antrieb mehr, konnte keine echte Freude mehr empfinden, hielt sich viel in seinem Haus auf, hörte klassische Musik und pflegte seine Depressionen. Begab er sich unter Menschen, konnte er sein Stimmungstief überspielen, wirkte auf andere fast normal, er lachte sogar und nahm an den oberflächlichen Gesprächen teil. Wenn er aber alleine war, brach die schöne Fassade zusammen. Er kam sich vor wie ein janusköpfiger Mensch. Mit einem zweiten, verborgenen Gesicht, das nach hinten gerichtet war, rückwärts blickend und von großer Schwermut erfüllt. Er hatte gehofft, aus dem Loch wieder herauszufinden – dann war dieser Umschlag gekommen, der hatte ihm den Rest gegeben. Wie ein Schlag in die Magengrube, der einem die Luft zum Atmen nimmt. Wie oft hatte er von dem zwölfjährigen Mädchen geträumt, das in jener Nacht den Tod gefunden hatte? Er empfand tiefe Schuld, weil er einfach weitergefahren war. Dabei hätte er den Unfall sogar im nüchternen Zustand wohl kaum vermeiden können. Das Mädchen war plötzlich von der Seite in seinem Scheinwerferkegel aufgetaucht, war vor Schreck mitten auf der Straße stehen geblieben – seinen entsetzten Blick würde er nie vergessen. Er hatte voll gebremst, mit blockierenden Rädern hatte er gleichzeitig versucht, auszuweichen. Ein dumpfer Schlag, hektische Lenkbewegungen, um den schleudernden Wagen auf der Straße zu halten. Schließlich die schicksalhaften Sekunden, in denen er eine Entscheidung treffen musste. Er hatte damals Angst gehabt, zurückzulaufen und ein zerschmettertes Kind vorzufinden. Aber er hatte auch Skrupel empfunden, einfach weiterzufahren. Den Ausschlag hatte Niki gegeben, der ihn angebrüllt hatte: «Nichts wie weg! Gib Gas!» Beide hatten sie zu viel Alkohol getrunken, ihr Verstand war vernebelt und der Mut zum Risiko übersteigert gewesen. Nachdem er sich entschieden hatte, war alles zu spät, gab es kein Zurück mehr. Mit Tränen in den Augen war er weitergebrettert, hatte mit überhöhter Geschwindigkeit die Flucht angetreten.
Bei realistischer Betrachtung trug das Mädchen die Hauptschuld. Wie konnte es in stockfinsterer Nacht vor einem rasch näher kommenden Auto die Straße überqueren und dann plötzlich stehen bleiben? Sein Sportwagen hatte einen lauten Motor gehabt und eine infernalische Auspuffanlage. Das Mädchen hätte schon taub sein müssen, um ihn zu überhören. Natürlich war er zu schnell unterwegs gewesen und seine Reaktionszeit durch den Alkohol womöglich verzögert. Aber auch sonst hätte er den Unfall nicht vermeiden können, davon war er überzeugt. Aus den Zeitungsberichten wusste er, dass das Mädchen sofort tot gewesen war. Es wäre also vergebens gewesen, wenn er gestoppt hätte, um zu ihm zurückzulaufen, die Polizei und die Rettung zu verständigen. Aber diese Überlegungen nahmen ihm nicht den Druck, der seitdem auf seiner Seele lastete. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, ein Mädchen hatte wegen ihm sterben müssen. Heute wäre es eine junge Frau, die ihr Leben immer noch vor sich hätte.
Ernst Steixner dachte an den Baron, den er beauftragt hatte, den Erpressungsversuch irgendwie abzuwenden. Es war ihm unerklärlich, wie ihn die Vergangenheit nach so vielen Jahren hatte einholen können. Niki Steirowitz war als Beifahrer der einzige Mitwisser gewesen, hatte ihn sogar zur Fahrerflucht überredet. Aber Niki lebte nicht mehr, seit seinem Tod hatte sich Steixner sicher gefühlt.
Er hatte keine Ahnung, wie ihm der Baron helfen konnte, aber der Mann hatte einen souveränen Eindruck gemacht, auch wenn er so gar nicht seiner Vorstellung eines Privatdetektivs entsprach. Der Baron war kultiviert, wirkte ruhig und entspannt, vielleicht etwas exzentrisch und zerstreut. Sicher war er jemand, der jeder körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg ging. Außerdem brauchte er einen Gehstock. Aber im Gespräch hatte Steixner zu ihm Vertrauen gefasst. Er glaubte, dass es der Baron irgendwie schaffen würde, die Angelegenheit zu regeln. Auch war er zuversichtlich, dass dieser sein Geheimnis für sich behalten würde. Und wenn nicht? Steixner dachte lange darüber nach. Eine Schwester kam herein, um seinen Blutdruck zu messen, Temperatur, Puls und den Sauerstoffgehalt seines Blutes. Dann war er wieder alleine. In ihm reifte ein Entschluss. Noch war er nicht so weit, aber er hoffte, dass er den Mut aufbringen würde.