31
«Leuchtende, strohgelbe Farbe mit leicht rötlichem Reflex.» Emilio betrachtete den Wein im Glas. Der Beschreibung im Katalog mit den Weinen von Alois Lageder konnte er beipflichten. Wie ging es weiter? «Kräftiges, komplexes Aroma mit Spätlesecharakter. Tropische Früchte in Kombination mit Geruchsnoten, die an Blumen und Kräuter erinnern …» Er roch am Gewürztraminer. Doch, auch das konnte er so durchgehen lassen. Da war noch ein Zitruston. Der «Am Sand» gefiel ihm. «Trocken, mit frischer Säure und einer Bitternote im Abgang.» Einverstanden. Er nahm noch einen Schluck, schaute das Glas wehmütig an – und schüttete den Rest in einen Spuckkübel. Warum hatte er keinen Chauffeur?
Er saß in der Vineria Paradeis in Margreid, gelegen ganz im Süden der Weinstraße, der Strada del Vino, die von Eppan über Kaltern und Tramin hierherführte. Genau genommen, saß er unter einem weißen Schirm im idyllischen Innenhof, ein Bein hatte er auf einem Stuhl gelagert, es schmerzte, obwohl es sein gesundes war. Er hatte längst aufgegeben, seinen Körper verstehen zu wollen. Man könne hier bei einem guten Glas Wein einfach die Zeit vergessen, hatte er gelesen. Genau das versuchte er, in die Tat umzusetzen, allerdings fand er die Beschränkung auf ein einziges Glas wenig zielführend.
Zuvor war er durch Margreid geschlendert, der Ort hat sich den Charme vergangener Zeiten bewahrt, mit seinen malerischen Gassen und Torbögen. An einer Hausmauer hatte er der mit über 400 Jahren ältesten Weinrebe Europas seine Referenz erwiesen. Dann hatte er sich mit Alois Lageder getroffen, dem wohl bekanntesten Winzer Südtirols. Den Termin hatte er schon in München verabredet, unter Vermittlung eines gemeinsamen Bekannten. So war ihm vergönnt gewesen, von Lageder persönlich durch dessen Kellerei im Ansitz Löwengang geführt zu werden. Wie schon bei seinen Gesprächen mit Phina und auf Manincor stand wieder der biodynamische Weinbau im Fokus der Unterhaltung. Alois Lageder orientierte sich konsequent und in allen Bereichen an dieser Philosophie, für die er in Südtirol als Vorreiter galt. Natürlich war auch die Kellerei nach baubiologischen und ökologischen Kriterien errichtet. Von Alois Lageder hatte er sich den verwunschenen Park des Ansitz Hirschprunn zeigen lassen, mit uraltem Baumbestand, mit Farnen und Stauden, hergerichtet nach den Plänen eines australischen Gartengestalters. Auch hatte Lageder den Palast Casòn Hirschprunn aufgesperrt und ihm die historischen Räume gezeigt, wo bei Kerzenschein schon legendäre Weinverkostungen und Jazzkonzerte stattgefunden haben.
Währenddessen hatte Emilio wieder mal verdrängt, warum er eigentlich in Südtirol war. Obwohl er sich in diesem Punkt nicht so sicher sein konnte, schließlich hatten die Weine den Ausschlag gegeben, den Auftrag von Theresa anzunehmen. Natürlich, da war auch der Vorschuss. Dabei fiel ihm ein, dass er mit Steixner dringend einen selbigen vereinbaren und die Zahlung in die Wege leiten musste. Wenn es dumm lief, brachte sich der gute Mann doch noch um – dann stünde er mit leeren Händen da. Das wäre ausgesprochen unerfreulich. Emilio bat sich selbst um Vergebung: Ganz so emotionslos war er nicht, natürlich wünschte er Steixner auch aus menschlicher Anteilnahme ein langes Leben. Die Fixierung auf den schnöden Mammon schuldete er seiner notorisch klammen Finanzsituation. Diese wendete sich allerdings gerade zum Besseren. Zwei Aufträge zur gleichen Zeit hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Er hob das Glas mit dem nächsten Wein seiner kleinen Verkostung, einem «Cor Römigberg Cabernet Sauvignon», und stieß symbolisch auf seine positive Geschäftsentwicklung an. Er könnte es auf die Spitze treiben und Professor Puttmenger als weiteren Kunden akquirieren, schließlich wusste Emilio von Steixner, dass auch der Schönheitschirurg erpresst wurde. Die Aufklärung des einen Falles erledigte den anderen gleich mit. Warum dafür nicht doppelt kassieren?
«Konzentriertes Fruchtaroma, fruchtig, würzig und floral», las er in der Beschreibung. Er ließ den Wein im Glas rotieren und roch an ihm. «Kirsche, schwarze Johannisbeere …» Das war leicht, jeder vernünftige Cabernet hatte diese Geruchsnoten. «Tabak, Veilchen, Minze …» Warum wollte er das so genau wissen, war er bescheuert? Der Wein war kein Quiz, sondern zum genussvollen Trinken da. Er dachte nicht länger über das Bouquet nach und nahm einen kräftigen Schluck. Fast hätte er aus Vergnügen gerülpst, aber das verbot ihm seine gute Kinderstube. Wo war er stehengeblieben? Den Professor Puttmenger als weiteren Kunden anwerben und erneut einen Vorschuss kassieren? Auf einen Versuch könnte er es ankommen lassen. Es widerstrebte ihm zwar grundsätzlich, sich aktiv um Aufträge zu bemühen, aber in diesem Fall könnte es sogar der Aufklärung dienlich sein. Je mehr Informationen er bekam, umso größer die Chancen. Und wenn er mit seiner Arbeit scheiterte, was nicht auszuschließen war, dann hätte er wenigstens die Vorschüsse im Portemonnaie. «Lang anhaltendes, frisches und fruchtiges Finale …» Der Cabernet hielt die Versprechungen in der Weinbeschreibung. Wie war es mit ihm? Würde er seine Versprechungen halten? Was für Versprechungen? Seine «Tante» Theresa hatte er darauf vorbereitet, dass nach zehn Jahren sehr wahrscheinlich nichts mehr dabei herauskommen würde. Und dem Herrn Steixner hatte er auch keine Versprechungen gemacht. Er könnte genauso gut hier sitzen bleiben, Ravioli mit Salbeisauce bestellen und sein lädiertes Bein schonen. Stattdessen fragte er nach der Rechnung. Er war sich wieder einmal selbst ein Rätsel. Menschen mit preußischem Pflichtbewusstsein waren ihm zutiefst suspekt. Er wollte dieser Gattung definitiv nicht angehören. Es gab nur eine Erklärung, die gleichzeitig als Entschuldigung gelten mochte: Seine aktuellen Aufträge fingen an, ihm Spaß zu machen. Er glaubte zu spüren, wie Adrenalin durch seine müden Knochen strömte, was vermutlich eine medizinische Unmöglichkeit war.
***
Einige Stunden später betrat er das Bozner Zentralkrankenhaus. Als Erstes ging er zur Rezeption und ließ sich dort von einer jungen Frau bestätigen, dass man Anrufern oder Besuchern keine Auskünfte über Patienten geben würde. Im Anschluss fragte er, ob Ernst Steixner noch stationär im Krankenhaus sei. Als sie ihm das freundlich bestätigte und auch die Station nannte, bat er um einen umgehenden Besuch ihres Vorgesetzten in Steixners Krankenzimmer, er würde dort auf ihn warten.
Im Krankenzimmer angekommen, informierte er Steixner über den Telefonanruf des Erpressers. Dann spielte er ihm das aufgezeichnete Gespräch vor. Steixners Gesicht wurde noch blasser, als es ohnehin schon war. Emilio beruhigte ihn. Sie sollten froh sein, das hätte nicht besser laufen können. Ob ihm die Stimme bekannt vorkäme?
Steixner schüttelte verneinend den Kopf, auch könne er den Dialekt nicht zuordnen, er lebe zwar schon lange in Südtirol, sei aber kein Einheimischer. Nach einer Pause fragte Steixner, ob er das geforderte Geld beschaffen solle. Er könne das innerhalb eines Tages bewerkstelligen.
Emilio winkte ab. Noch bräuchten sie das Geld nicht. Steixner könne vorsichtshalber die nötigen Schritte in die Wege leiten, damit man im Notfall schnell handeln könne. Aber er hoffe, dass es nicht dazu kommen würde.
Während Emilio redete, ging ihm durch den Kopf, dass er Unsinn faselte. Worauf begründete sich seine Hoffnung, dass es zu keiner Zahlung kommen würde?
Apropos Zahlung, sagte Emilio, ob es sehr unhöflich wäre, auf einem kleinen Vorschuss zu bestehen, das sei in seinem Gewerbe so üblich. Er nannte einen Eurobetrag, den er doppelt so hoch angesetzt hatte wie üblich. Steixner sagte, dass das selbstverständlich in Ordnung ginge, ließ sich Emilios Bankverbindung und Kontonummer geben und versprach, die Überweisung vom Krankenbett aus in die Wege zu leiten.
Es klopfte an der Tür. Der Besucher stellte sich als Abteilungsleiter der Krankenhausverwaltung vor. Man habe ihm gesagt, es gebe ein Problem.
Ein Problem? Steixner sah ihn ratlos an.
Nein, es gebe kein Problem, sagte Emilio. Sie hätten nur eine kleine, aber wichtige Bitte. Steixner wusste immer noch nicht, worum es ging. Aus sehr privaten Gründen, fuhr Emilio fort, wäre es Herrn Steixners ausdrücklicher Wunsch, dass sein Aufenthalt in diesem Krankenhaus mit äußerster Diskretion behandelt würde. Es wäre wichtig, dass etwaige Anrufer oder Besucher keine Auskunft bekämen. Oder noch besser: Man solle sagen, dass Herr Steixner schon vor Tagen entlassen wurde. Ob das möglich sei?
Der Verwaltungsmensch sah Steixner zweifelnd an. Ob das wirklich sein ausdrücklicher Wunsch sei, fragte er. Steixner kratzte sich am Kopfverband, sah Emilio fragend an, dieser nickte auffordernd. Ja, das sei sein Wunsch, bestätigte Steixner. Wobei man ihm ansah, dass er erst langsam den Grund verstand.
Das ließe sich arrangieren, sagte der Klinikangestellte. Man könne im Belegungssystem einen entsprechenden Vermerk anbringen. Das habe es in der Vergangenheit schon häufiger gegeben, meist auf Betreiben der Polizei oder der Staatsanwaltschaft, aber durchaus auch aus rein privaten Gründen, die man selbstverständlich respektiere. Man wolle alles tun, damit die Genesung der Patienten ungestört voranschreiten könne.
Emilio und Steixner bedankten sich. Emilio fragte, ob der Klinikangestellte ein gebürtiger Südtiroler sei, er höre sich so an. Nicht nur Südtiroler, antwortete dieser lachend, sondern ein waschechter Bozner.
Ob er ihm etwas vorspielen dürfe, fragte Emilio, einem spontanen Einfall folgend. Mit leise gestellter Lautstärke suchte er eine unverfängliche Stelle. Dann spielte er sie vor: «Warum sind Sie nicht zur verabredeten Zeit ans Telefon gegangen? Sie haben doch meine Nachricht bekommen … Dann hätten Sie ans Telefon gehen müssen. Ich mache keine Witze.»
Ob er den Dialekt zuordnen könne, fragte Emilio, der Anrufer sei doch zweifelsfrei ein Südtiroler, der sich zwar bemühe, Hochdeutsch zu sprechen, der aber seine Herkunft nicht verleugnen könne. Aber irgendwie habe die Sprache eine komische Färbung. Ob er eine Vermutung habe, wo der Anrufer herkäme?
«Kann ich es noch mal hören», fragte der Klinikangestellte. Emilio spielte die Passage erneut vor.
«Alles klar. Habe ich mir gleich gedacht.»
«Was haben Sie sich gedacht?»
«Das ist ein Spaghetti», sagte der Klinikangestellte, um sich sofort für diese Wortwahl zu entschuldigen. Das sei politisch nicht korrekt, er habe vielmehr gemeint, es handele sich um einen Mitbürger mit italienischen Vorfahren, wahrscheinlich aus Bozen, die hätten diese typische Sprachfärbung. Eigentlich sehr sympathisch, diese Spaghetti.
«Sympathisch? Finde ich nicht», sagte Emilio, der an den Erpresser dachte, dem er definitiv keine Sympathien entgegenbrachte, gleichzeitig dachte er an seine italienische Mutter, die hervorragende Spaghetti machen konnte. Dass der Besucher seine Anmerkung völlig anders interpretierte, fiel ihm erst auf, als sich dieser mit einem kameradschaftlichen Händedruck verabschiedete.
Emilio blieb noch eine Weile, um seinem Klienten die weitere Vorgehensweise und die verschiedenen Optionen zu erläutern. Dann ließ er sich einen Weg beschreiben, wie er Steixners Villa unbemerkt durch den Garten und einen Schuppen betreten konnte. Er musste nur bei seinem nächsten Besuch eine Hintertür entriegeln. Später lenkte er das Gespräch auf Niki und achtete dabei genau auf Steixners Reaktionen. Entweder verstellte er sich gut, oder er hatte mit dessen Tod wirklich nichts zu tun. Ein Thema sparte Emilio aus: Mit keinem Wort ging er auf den Inhalt des Umschlags ein, auf den Tod des Mädchens und die Unfallflucht. Und umgekehrt sprach ihn Steixner nicht darauf an. Als ob sie eine stillschweigende Übereinkunft getroffen hätten.