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Dem heutigen Tag sah Emilio mit großem Misstrauen entgegen. Was er vorhatte, widersprach fundamental seinen Überzeugungen. So hatte er in aller Frühe aufstehen müssen. Gab es einen logischen Grund, warum Bergwanderer beim ersten Hahnenschrei losmarschierten? Litten sie alle unter Schlafstörungen? Des Weiteren stand zu befürchten, dass er eine längere Strecke bergauf gehen musste, nur um irgendwann umzudrehen und dieselbe Strecke talwärts in umgekehrter Richtung zu absolvieren. Am Schluss war man wieder genau dort, wo man angefangen hatte. Wo lag da der tiefere Sinn? Wenn man Pech hatte, gelangte man nicht an den Ausgangspunkt zurück. Dann war man entweder abgestürzt oder hatte sich verlaufen. Weder das eine noch das andere schien erstrebenswert. Immerhin konnte er auf einen guten Ausgang der Exkursion hoffen, denn mit Steff hatte er einen erfahrenen Bergführer an seiner Seite.
Emilio hatte Steff in Partschins abgeholt, jetzt folgte er den Anweisungen des Bergführers, steuerte über eine Forststraße und parkte schließlich an einer Stelle, wo nach Steffs Einschätzung mit großer Wahrscheinlichkeit auch Niki sein Auto abgestellt hatte – vor über zehn Jahren. Jedenfalls konnte man auch mit einem Sportwagen wie mit einem Porsche hierher gelangen. Emilio zog die Wanderstiefel an, die ihm Phina zur Verfügung gestellt hatte, ihr Vater hatte die gleiche Schuhgröße gehabt, jedenfalls so ungefähr. Steff fragte, ob Emilio die Trekkingstöcke verwenden wolle, die der Bergführer am Rucksack befestigt hatte. Emilio sah ihn vorwurfsvoll an. Er würde sich doch nicht zum Affen machen, wobei Affen bestimmt keine albernen Blechstöcke verwendeten, um sich fortzubewegen. Außerdem hatte er seinen Gehstock, der musste reichen. Steff schmunzelte, er schien die Entscheidung zu begrüßen. Sie gingen los. Schon nach wenigen Minuten stellte der Bergführer fest, dass sein Begleiter längst nicht so fußlahm war, wie er zunächst geglaubt hatte. Sein zügiges Tempo hielt er mühelos mit, konnte sich dabei ohne Atemnot im Plauderton unterhalten, machte aber ein Gesicht, als ob es zur Schlachtbank ginge. Steff erklärte ihm, dass dies der einzig brauchbare Weg zum Gipfel sei, ganz sicher habe Niki damals diese Route gewählt.
«Die Frage ist, ob hier außer Niki zur selben Zeit noch jemand unterwegs war», sagte Emilio. Dass Steff darauf keine Antwort hatte, war klar.
«Da vorn, das ist der Kas-Rudl», sagte Steff einige Zeit später. Gerade hatten sie einen rutschigen Steig überquert, der Emilio erneut an der Sinnhaftigkeit des Unternehmens zweifeln ließ. Tatsächlich entdeckte er auf der anderen Seite einer Almwiese eine knorrige Gestalt, die langsam näher kam. Rudl sei Senner, erklärte Steff, ein wortkarger Eigenbrötler, der hier am Berg mit seinen Kühen und Ziegen seit Jahrzehnten den Sommer verbringe und in seiner kleinen Almhütte einen gefragten Rohmilchkäse herstelle.
«Griasti, Rudl», sagte Steff.
«Hoi», erwiderte dieser die Begrüßung.
Kas-Rudl hatte eine dicke knubblige Nase, abstehende Ohren und eine wettergegerbte Haut, die an einen Elefanten erinnerte. Auf Steffs Frage, wie es ihm ginge, antwortete Rudl mit einem knappen «guat». Durch seine Augenschlitze musterte er Emilio, der mit seinem abgewetzten englischen Kaschmirsakko und dem polierten Gehstock mit Silberknauf nicht gerade dem Bild des üblichen Bergwanderers entsprach.
Steff erzählte ihm, warum sie hier waren, dass sie sich anschauen wollten, wo vor zehn Jahren der Mann vom Berg gefallen sei, dessen Leiche Steff später gefunden habe.
«Asou», sagte der Senner. Dabei wirkte er nicht so, als ob ihn das besonders interessierte.
Dann erklärte ihm Steff, dass Emilio an kein Bergunglück glaube und gerne herausfinden würde, was damals wirklich passiert sei. Aber nach zehn Jahren sei das natürlich nicht mehr möglich.
«Hmmm.»
Man wisse ja nicht einmal den genauen Tag, sagte Steff, er habe ja die Leiche erst sehr viel später gefunden. Man werde nie erfahren, ob am Unglückstag auch andere Wanderer unterwegs gewesen seien oder wie das Wetter gewesen sei …
«Guat», sagte der Alte unvermittelt.
Steff sah ihn überrascht an. Ob er meine, dass das Wetter am Unglückstag gut gewesen sei, fragte er.
«Sowieso», sagte Rudl.
Wie er das wissen könne, fragte Steff, nach so langer Zeit, außerdem kenne man das genaue Datum nicht.
Emilio beschränkte sich aufs Zuhören, versuchte aber, im Gesicht des Senners zu lesen, was aufgrund der tiefen Falten und Furchen fast unmöglich war. Die Augenschlitze unter den buschigen Brauen wurden jetzt noch schmaler, Kas-Rudl schmatzte und pulte sich im rechten Ohr. Eine Erklärung gab er nicht. Stattdessen verabschiedete er sich mit einem «Pfiat enk», drehte sich um und ging davon.
«Was hatte das zu bedeuten?», fragte Emilio.
Steff wischte sich mit der Hand über die Augen. Der Kas-Rudl sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Der spreche nur mit seinen Kühen, Ziegen und Gänsen. Am besten gingen sie jetzt weiter, sie hätten erst einen kleinen Teil der Strecke geschafft.
Eine halbe Stunde später hob Emilio die Hand und blieb stehen. Er machte nicht den Eindruck, als ob er eine Atempause brauchte.
«Das geht jetzt so weiter?», fragte er.
«Ja, noch etwas über eine Stunde.»
«Und oben ist dann das Gipfelkreuz. Deshalb die ganze Mühe?»
«Der Gipfel und eine herrliche Aussicht.»
«Gibt’s davon Fotos?»
«Natürlich, ich hab einen schönen Bildband zu Hause.»
«Ich schaue mir lieber die Fotos an», entschied Emilio, «wir drehen um.»
«Wollen Sie nicht sehen, wo der Steirowitz abgestürzt ist?»
Emilio überlegte. «Nein, nicht wirklich. Sie sagen, es kann ein Unfall gewesen sein, weil es gleich hinter dem Kreuz steil in die Tiefe geht. Ich glaube Ihnen!»
«Es kann ihn aber auch jemand runtergestoßen haben», sagte Steff, dem es zunehmend gefiel, an einem Kriminalstück mitzuwirken.
«So ist es», bestätigte Emilio, «aber dieser Fußmarsch wird diesbezüglich keine weiteren Erkenntnisse liefern.»
«Sie entscheiden, also drehen wir um.»
«Dort wo Sie den Leichnam gefunden haben, das ist doch unten in einem Tal?»
«Ja, auf der anderen Seite des Berges.»
«Kann man da mit dem Auto hinfahren?»
Steff grinste. «Sie laufen nicht gerne, oder?»
«Wenn es alternative Möglichkeiten der Fortbewegung gibt, kann ich darauf verzichten.»
«Mit Ihrem Land Rover könnten wir zwei Drittel fahren. Das ist zwar verboten, aber das ginge. Der restliche Weg ist ziemlich eben.»
«Klingt gut, dann machen wir das.»
Als sie einige Zeit später das Ziel erreicht hatten, setzte sich Emilio auf einen Stein und sah die steile Felswand hinauf. Er beglückwünschte sich zur Entscheidung, den «Gipfelsturm» abgebrochen zu haben. Sonst hätte er von oben in die Tiefe blicken müssen. Kein verlockender Gedanke für einen Akrophobiker, dem es schon auf einem Hocker stehend beim Einschrauben einer Glühbirne schwindlig wurde. Dass Niki hier aus Versehen runtergefallen war, schien ihm ausgesprochen unwahrscheinlich. Als Einheimischer wusste Niki von diesem steilen Abbruch, da begab man sich nicht in Gefahr. Noch dazu bei schönem Wetter. Bei schönem Wetter? Ihm ging der Kas-Rudl nicht aus dem Kopf. Obwohl sein «guat» überhaupt keinen Sinn machte, auch nicht das «sowieso».
Steff hob den Zeigefinger vor die Lippen und gab ihm ein Zeichen, leise zu sein. Er deutete zu einigen windschiefen Bäumen in der Nähe. Emilio strengte sich an, konnte aber nichts entdecken. «Ein Auerhahn», flüsterte Steff. Jetzt sah auch Emilio den Vogel. Der Bergführer legte zum Schein an wie mit einem Gewehr, kniff ein Auge zu und krümmte den Zeigefinger. «Peng», sagte er leise.
«Sind Sie Jäger?», fragte ihn Emilio mit gedämpfter Stimme.
«Freilich», bestätigte Steff. «Aber leider dürfen Auerhähne nicht geschossen werden, zu keiner Jahreszeit. Schade, das ist ein besonders schönes Exemplar.»