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Selten hatte er sich so verwirrt gefühlt, war es ihm so schwergefallen, seine Gedanken zu sortieren, logische Schlussfolgerungen zu ziehen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Emilio saß scheinbar entspannt im Liegestuhl vor Phinas Haus, im Schatten eines Sonnenschirms. Aber in seinem Kopf ging es rund. Wobei sich wieder einmal zeigte, dass es nicht gut war, wenn Emotionen ins Spiel kamen. Das geschah bei ihm höchst selten. Die meisten Menschen waren ihm ziemlich egal. Wenn er ihnen notgedrungen eine größere Aufmerksamkeit schenken musste, stellte sich im Regelfall heraus, dass sie entweder dumm waren oder ausgesprochen unsympathisch. Sehr häufig kam beides zusammen. Bei den meisten Kriminalfällen, mit denen er in der Vergangenheit zu tun hatte, war er sich vorgekommen wie ein Insektenkundler, der unter der Lupe seltsame Gliederfüßler studierte, mit widerlichen Augen, unappetitlichen Mundwerkzeugen und höchst befremdlichen Verhaltensmustern. Irgendwann hatte er sie dann einfach aufgespießt. Aber diesmal war alles anders. Trotz ihrer bemerkenswerten erotischen Ausstrahlung war Valerie Trafoier dabei sein kleinstes Problem. Prinzipiell war er willensstark genug, solchen Reizen zu widerstehen – außer er entschied sich ganz bewusst dagegen, was er im Falle der Bozner Weinhändlerin durchaus in Erwägung zog. Nun war er wirklich kein Insektenkundler, das fehlte noch, aber ihm schoss dennoch der Gedanke durch den Kopf, dass es sich bei ihr um eine Gottesanbeterin handeln könnte, eine attraktive Vertreterin der sogenannten Fangschrecken, bei denen es seines Wissens vorkommen konnte, dass das Weibchen das Männchen nach der Paarung auffraß. Gleichwohl durfte er die Dame nicht leichtfertig aus dem Spiel nehmen. Denn immerhin hätte auch sie ein Motiv gehabt, Niki Steirowitz zu ermorden. Jedenfalls dann, wenn er sie mit einer anderen Frau betrogen hatte, was schwer vorstellbar war.

Allerdings war ihre Beziehung beendet gewesen, das hatte sie gesagt. Auf die Seychellen war er mit einer anderen geflogen. Vielleicht hatte Valerie mehr von seinen einträglichen Geschäften gewusst, als sie zugegeben hatte. Und sie hatte die Möglichkeit gesehen, nicht nur ihren untreuen Liebhaber zu beseitigen, sondern gleichzeitig auch etwas von seinem Kapital aufs eigene Konto umzuschichten und in der Vinothek fortan als Besitzerin und nicht mehr als kleine Angestellte zu wirken. Also doch eine Gottesanbeterin? Der Verdacht war zu vage, um eine Präpariernadel durch ihren hübschen Chininpanzer zu bohren.

Puttmenger, Steixner, der ominöse Erpresser … – diese seltsamen Käfer und Ameisen ließen Emilio im Augenblick völlig kalt, konnten sein Interesse nicht wecken. Sein Fokus richtete sich ausschließlich auf eine junge Winzerin. Zu Phina hatte er in kurzer Zeit eine emotionale Beziehung aufgebaut, die sicherlich kompliziert war, aber doch faszinierend und vielversprechend. Jedenfalls ganz anders als es bei einer Valerie je möglich wäre. Sollte sich jetzt herausstellen, dass er einer gefährlichen Vogelspinne ins Netz gegangen war, deren Biss tödlich sein konnte und die in der Vergangenheit schon zweimal Beute gemacht hatte? Die Niki Steirowitz vom Berg gestoßen hatte, damit er nicht das väterliche Weingut kaufen konnte. Und die später ihren Vater umgebracht hatte, um das Weingut zu erben. War das so absurd? Nein, das war es nicht, und es würde manche Reaktion von Phina erklären.

Emilio stand auf, nahm seinen Stock und machte sich auf den Weg zum Weinberg, in dem Phina auch heute wieder mit Ausdünnen beschäftigt war. Der Spaziergang tat ihm gut und durchlüftete sein Hirn. Schließlich entdeckte er Phina, wie sie mit einem Strohhut auf dem Kopf und mit drei Mitarbeitern die Rebstöcke von übermäßigen Trauben befreite, damit sich die ganze Kraft in den verbleibenden konzentrieren konnte. Als er näher kam, lächelte sie auf so bezaubernde Weise, dass er am liebsten vergessen hätte, mit welchen Gedanken und mit welcher Absicht er hierhergekommen war. Er begrüßte Phina und fragte mit Blick auf die Mitarbeiter, ob er sie alleine sprechen könne.

Natürlich, sagte sie. Sie nahm den Hut ab, steckte die Rebschere in die Erde und ging mit ihm einige Schritte. Ob es denn wichtig sei, fragte sie. Er habe sie bislang noch nie bei der Arbeit im Weinberg aufgesucht.

Emilio blieb stehen und sah sie an. Ja, es sei wichtig, ausgesprochen wichtig. Er müsse ihr zwei unangenehme Fragen stellen. Er könne verstehen, wenn sie danach kein Wort mehr mit ihm reden wolle und er seine Koffer packen müsse.

«Du machst es ja dramatisch», sagte Phina mit ernstem Gesicht, «dann ist es vielleicht besser, du lässt es sein und ich mach mit meinen Rebarbeiten weiter.»

«Würde ich gerne, geht aber nicht», sagte Emilio und berührte sie vertrauensvoll an der Schulter, sie zuckte kaum merklich zurück. «Du musst wissen, dass ich dich mag», fuhr er fort und sah ihr dabei in die Augen, «sehr sogar, auch wenn wir uns kaum kennen. Und glaub mir, ich mag nicht viele Menschen.»

Phina lächelte verkrampft. «Das wolltest du mir sagen? Ist doch gar nicht so schlimm.»

Er schüttelte leise den Kopf.

«Ach so, das waren ja keine Fragen, nur eine Feststellung. Das dicke Ende kommt also noch.» Ihr war anzusehen, dass sie nur so tat, als ob sie locker wäre. In Wahrheit stand sie unter Hochspannung.

«Phina, ich muss es einfach wissen. Stimmt es, dass Niki deinem Vater sein Weingut abkaufen wollte und unter der Hand schon einen Vorschuss bezahlt hat?»

Phinas Lippen zitterten. «Das war die erste Frage? Ja, das stimmt. Aber das mit dem Vorschuss sollte keiner wissen.»

«Meine erste Frage hat noch einen Anhang.»

«Aha!»

«Bist du sicher, dass du mit Nikis Tod nichts zu tun hattest?»

«Spinnst du? Natürlich nicht, ich meine …», stotterte sie. «Ich will sagen, natürlich hatte ich mit seinem Tod nichts zu tun. Glaubst du etwa, ich hätte Niki umgebracht?»

«Ich weiß nicht, was ich glauben soll, deshalb frage ich dich ja. Immerhin wollte er dir dein Weingut wegnehmen.»

«Hat er aber nicht. Zweite Frage.»

«Ich weiß, du willst nicht darüber sprechen. Ich kann das verstehen, will es aber dennoch wissen.»

Sie kniff die Augen zusammen. «Bitte nicht», sagte sie in Vorahnung, was nun kommen würde.

«Ich verspreche dir, dass ich dich nie mehr darauf ansprechen werde. Wie ist dein Vater mit dem Traktor verunglückt? Warst du dabei?»

Sie atmete schwer. «Eine Trockensteinmauer war unterspült. Sie ist unter seinem Traktor weggebrochen, der hat sich zur Seite überschlagen und meinen Vater unter sich begraben …» Phina schossen Tränen in die Augen, sie schluchzte und zitterte. «Ich war einige Hundert Meter entfernt und habe alles mit angesehen. Dann bin ich zu ihm gerannt, habe versucht, ihn unter dem Traktor hervorzuziehen, er hat noch geatmet. Meine Hände waren voller Blut. Dann war alles vorbei. Es war schrecklich.»

Emilio hätte sie gerne in den Arm genommen und getröstet. Aber er wusste, dass sie das nicht zulassen würde. Außerdem war er nicht fertig, das Schlimmste stand ihm noch bevor. Es half nichts, er musste da durch. «Auch meine zweite Frage hat einen Anhang», sagte er leise.

«Warum machst du alles kaputt?», fragte sie kaum hörbar.

«Phina, ich will nur die Wahrheit wissen, dann ist alles gut. Hast du bei dem Traktorunfall nachgeholfen?»

Sie sah ihn schweigend an, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Das Zittern hörte auf, sie wurde plötzlich ganz ruhig.

«Du hattest vorhin recht», sagte sie, «du kannst deine Koffer packen, ich will nie mehr mit dir reden, ich will dich nie mehr sehen.»

Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol
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