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Ein gewisser Johann Nepomuk Huber hatte den Anfang gemacht. Er war Arzt. Ebenso wie später Franz Tappeiner, der heute nur deshalb bekannter ist, weil nach ihm eine vier Kilometer lange Promenade benannt wurde, die sich oberhalb von Meran am Küchelberg erstreckt und von Palmen und exotischen Pflanzen gesäumt wird. Der Tappeinerweg wurde 1893 eröffnet, aber schon 1837 hatte Johann Nepomuk Huber, der kein Geringerer war als der Leibarzt der Fürstin von Schwarzenberg, das heilsame Klima von Meran gerühmt. Wobei er sich dazumal zu der kühnen Behauptung verstieg, dass sich in Meran die Lebenserwartung deutlich verbessern ließe. Das sprach sich beim Adel rasch herum, und so kam es, dass Meran im 19. Jahrhundert bald als Kurort von Rang und Namen galt. 1870 sowie im darauf folgenden Jahr kam die erholungssuchende Kaiserin Sissi an die Passer – eine bessere Publicity hätte sich Meran nicht wünschen können. An der Sommerpromenade findet sich denn auch ein Denkmal, das an die Kaiserin Elisabeth erinnert.
Emilio wäre es nicht im Traum eingefallen, sich irgendwohin zur Kur zu begeben. Er glaubte nicht an die Möglichkeit, durch Einatmen von guter Luft, durch Wasserbäder, Massagen oder Fangopackungen sein Lebensende hinauszuzögern. Zudem bestand die Gefahr, auf nassen Fliesen auszurutschen, im Moorbad zu ertrinken oder gar von einem weiblichen Kurschatten bedrängt zu werden – was einen in den frühen Herztod treiben konnte. Mit dieser Auffassung stand er allerdings im totalen Widerspruch zu «Tante» Theresa. Die alte Freundin seiner längst verstorbenen Mutter führte ihre unbestrittene Vitalität ganz vehement auf ihre Vorliebe für ausgedehnte Kururlaube zurück und auf die Tatsache, dass sie mit Meran den «gesündesten Ort der Welt» als Hauptwohnsitz gewählt hatte.
Emilio, der mit Theresa an der Passer spazieren ging, wagte nicht zu widersprechen. Er hoffte, dass sie bald pausieren würden. Theresa machte im Gehen munter Konversation, das nötigte ihm Respekt ab, weil die alte Dame keine Atemnot kannte. Leider, denn die angesprochenen Themen gefielen ihm nicht, obwohl sie kaum überraschend waren. Schon seit fünf Minuten fragte sie ihn über Phina aus, wollte sie wissen, warum er sie nicht mitgebracht hatte. Sie sei doch eine ausgesprochen liebenswerte Person, fleißig, gescheit und gut aussehend. Sie müssten sich doch prächtig verstehen, oder? Emilios wortkarge und ausweichende Antworten stellten Theresa nicht zufrieden. Ihm kam der Gedanke, dass sich seine Tante als Kupplerin betätigen wollte. Wenn das stimmte, war das gehörig in die Hose gegangen.
Ihre Fragen zu Nikis Tod waren hingegen ohne Hintergedanken, waren auch legitim, schließlich bezahlte sie ihn für seine Ermittlungen. Nur konnte sie nicht ahnen, dass das eine nicht ohne das andere zu erklären war.
Emilio deutete auf eine Parkbank und fragte, ob sie sich nicht für einen Moment setzen könnten, sein Bein bereite ihm Probleme. Dann berichtete er, was er in der Causa Niki alles unternommen hatte. Er erzählte vom Bergführer Steff, von seiner Informantin in der Bozner Quästur, vom pensionierten Kriminalrat Gamper, von Gesprächen mit Nikis alten Freunden wie Professor Puttmenger und Ernst Steixner. Sogar seine Begegnungen mit Kas-Rudl verschwieg er nicht. Er nahm sich allerdings die Freiheit, alle Informationen wegzulassen, die eigentlich von Belang gewesen wären. Auch Valerie Trafoier erwähnte er. Theresa hatte keine Ahnung, dass ihr Sohn mit ihr liiert gewesen war.
Sie drängte Emilio, die entscheidende Frage zu beantworten: War Niki nun einem Bergunfall zum Opfer gefallen, oder hatte jemand nachgeholfen? Emilio dachte an die blondhaarige Phina, an einen gelben Rucksack, an ihre berechtigte Sorge, dass Niki sie um ihr Weingut bringen könnte. Ihm fiel noch vieles andere ein, um dann zu sagen: «Liebe Theresa, es spricht alles dafür, dass Niki bei seiner Bergwanderung verunglückt ist. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass ihn jemand hätte umbringen wollen.» Er nahm ihre Hand. «Deine Ahnungen haben sich nicht bestätigt. Das ist auch viel besser so. Du hast alles für Niki getan, und dafür, die Wahrheit herauszufinden. Du kannst wieder ruhig schlafen.»
Sie sah ihn zweifelnd an. «Warum sagt mein Herz etwas anderes?»
«Theresa, ich weiß es nicht. Es ist über zehn Jahre her. Du musst Niki endlich loslassen.»
«Loslassen? Das geht nicht. Emilio, sei bitte ehrlich, es gibt nicht den kleinsten Zweifel?»
Warum war sie so hartnäckig? Was brachte es, wenn er ihr die Wahrheit erzählte?
«Ich bin bei meinen Recherchen in einen anderen Fall verstrickt worden», sagte er, um vom Thema abzulenken, wobei er in der gleichen Sekunde merkte, dass er sich auf dünnes Eis begab. «In dem Zusammenhang habe ich eine Frage: Sagt dir der Name Marco etwas, Marco Giardino?»
«Marco? Aber natürlich, das ist ein alter Freund von Niki aus Kinder- und Jugendtagen. Übrigens sehr zu meinem Missfallen: Marco war für meinen Bub der falsche Umgang.»
«Warum das?»
«Na ja, er kommt aus ganz einfachen Verhältnissen, mit italienischen Eltern, nicht unser Milieu, wenn du verstehst. Und er war schon immer ein Hallodri. Aber er war Nikis bester Freund, er ist bei uns zu Hause ein- und ausgegangen, konnte auch sehr charmant sein. Wenn Niki als Kind in Schwierigkeiten war, hat ihn Marco rausgeprügelt. Sie haben immer gesagt, sie wären Blutsbrüder.»
«Wie bei Karl May?»
«Was Kinder sich halt so ausdenken. Wie kommst du auf Marco?»
Emilio konnte nicht lange überlegen, wie er aus der Nummer wieder rauskam. «Sein Name ist von Professor Puttmenger genannt worden», log er, «Niki hat die beiden wohl mal miteinander bekannt gemacht.»
«Das überrascht mich», sagte Theresa, «ich dachte, Niki und Marco hatten als Erwachsene keinen Kontakt mehr.»
«Offenbar doch, aber wohl nur selten.»
«Was ist das für ein Fall?»
«Nichts von Bedeutung», suchte Emilio nach einem Ausweg, «Marco hat in den letzten Wochen bei irgendwelchen Geschäften seine Partner übers Ohr gehauen», phantasierte er.
«In den letzten Wochen? Das kann nicht sein, Marco sitzt im Gefängnis.»
«Nein, nicht mehr. Er ist wegen guter Führung vorzeitig entlassen worden.»
Theresa schüttelte missbilligend den Kopf. «Der Strafvollzug ist viel zu lax. Man sieht ja, was dabei herauskommt. Marco ist und bleibt ein Tunichtgut.»
«Ich habe noch eine Frage», sagte Emilio. Er zeigte Theresa den Safeschlüssel. «Den habe ich in Nikis altem Zimmer gefunden. Hast du eine Ahnung, wo er schließen könnte?»
«Den sehe ich zum ersten Mal. In meinem Haus gibt es keinen Safe. Du hast den Schlüssel in Nikis Zimmer gefunden? War der auch in einer Sakkotasche?»
«Du meinst, wie der Zettel mit der Warnung? Nein, ich habe in seinem Zimmer ein Versteck entdeckt, hinter einer Wandpaneele, da war ein Modellauto drin und dieser Schlüssel, sonst nichts.»
«Ein Versteck? Das musst du mir zeigen.»
«Aber gerne. Da kann Greta in Zukunft deinen Schmuck verstecken.»
«Warum denn das?», protestierte Theresa, «Schmuck soll man nicht verstecken, sondern tragen.» Sie stand auf. «So, genug ausgeruht, jetzt gehen wir weiter. Die Bank ist ungemütlich. Hier gibt’s nichts zu trinken.»