43. Königskuchen

Warum Paula beim Abendessen unterm Tisch landet

Die Ferien in Deutschland waren toll gewesen. Paula hatte mit ihrer Familie schöne Stunden verlebt, Eva und Manni hatten sogar plötzlich von Frankreich geschwärmt. Die ganzen negativen Erinnerungen waren entweder schon zu Legenden geworden oder ins Positive verkehrt. Paula amüsierte das. Gemeinsam waren sie im Schnee spazieren gegangen, hatten Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt getrunken, die Kerzen am Weihnachtsbaum angezündet und sich nach einer knusprigen Gans ihre Geschenke überreicht. Ansonsten hatte Paula stundenlang mit Freunden zusammen gesessen und ihnen von der französischen Etikette berichtet – wie man zu sein hat, was man nicht machen darf und den ganzen Quatsch. Sie hatten gemeinsam darüber lachen können, waren tanzen gegangen und Paula war an Silvester sogar erst um vier Uhr morgens nach Hause gekommen. Keiner hatte sich aufgeregt, sondern sie hatten alle gemeinsam ausgiebig gefrühstückt und die Wünsche für das neue Jahr besprochen. Es war fast ein wenig merkwürdig, jetzt wieder hier in Paris zu sein, so als sei nichts geschehen. Doch innerlich hatte Paula sich ein wenig distanziert und sagte sich: Du musst dich nicht mit allem anfreunden, Hauptsache du hast auch ein bisschen Spaß bei der ganzen Sache. Und schon veränderten sich die Dinge um sie herum.

Als Paula in ihr französisches Zuhause kam, bemerkte sie die lustige Stimmung der Bouchards, und fast wollte sie fragen, warum denn auf einmal alle so gut gelaunt seien, doch das würde man bestimmt als Affront verstehen – willst du etwa sagen, dass wir sonst nicht gut gelaunt sind ... Paula schwieg lieber und wunderte sich, als sogar der sonst so schweigsame Bernard beim Abendessen Witze machte, mit denen er seine Kinder und seine Frau zum Lachen brachte, die tatsächlich einen kleinen Schwips hatte, wie Paula bemerkte. Alle beeilten sich beim Essen, sodass es diesmal keine zwei Stunden dauerte, bis sie zur Nachspeise kamen, und plötzlich rief Bernard: »La galette des rois, où est la galette?!« (Der Königskuchen, wo ist der Kuchen?!) Und die Kinder stimmten ein. Claudine ließ nicht lange mit dem Kuchen auf sich warten. Er sah sehr lecker aus, aber auch nicht außergewöhnlich, ein Haufen Blätterteig, dachte Paula. »Alors, c’est qui cette année?« (Also, wer ist dieses Jahr dran?), fragte Claudine belustigt. »Mais c’est clair« (Aber das ist doch eindeutig), sagte Bernard, »c’est Paula!« (es ist Paula!) »Oui«, stimmten Stéphane und Marie sofort zu, »c’est à Paula!« (Paula ist an der Reihe!) Paula wurde aus ihren Gedanken gerissen und schaute irritiert von einem Gesicht zum anderen. Was war denn jetzt schon wieder los? »Quoi?« (Was?), fragte sie leicht verängstigt. »Alors, c’est très facile« (Also, das ist ganz einfach), begann Marie. »Tu te caches sous la table et Maman te demande pour qui sera le gâteau, et toi, tu réponds« (Du versteckst dich unter dem Tisch und Mama fragt dich, für wen das nächste Stück Kuchen ist, und du antwortest), ergänzte Stéphane. Paula verstand die Welt nicht mehr. Sie sollte unter den Tisch krabbeln? Waren die jetzt von allen guten Geistern verlassen oder wollten sie sich unbarmherzig über sie lustig machen? Paula schüttelte den Kopf. »Non, je ne vais pas sous la table« (Nein, ich gehe nicht unter den Tisch), sagte sie bestimmt. »Mais Paula!« (Aber Paula!), riefen alle Bouchards auf einmal und redeten auf sie ein. Paula war wie erstarrt und ließ sich schließlich einfach von Marie und Stéphane unter den Tisch schieben. Da hockte sie nun. »Alors, je coupe un morceau de la galette des rois. ROUDOUDOU, pour qui est ce morceau-là?« (Also, ich schneide ein Stück Kuchen von dem Königskuchen. Roudoudou, für wen ist dieses Stück?), fragte Claudine. Paula überlegte: War das jetzt ein Trick, um ihre Erziehung zu testen? Konnte sie jetzt etwas falsch machen? »Pour Bernard« (Für Bernard), antwortete sie. Der Herr des Hauses kam zuerst, das konnte nicht verkehrt sein. »Bon, et le deuxième, c’est un grand morceau. ROUDOUDOU, pour qui est ce morceau-là?« (Gut, das zweite Stück ist ein großes Stück. Roudoudou, für wen ist dieses Stück Kuchen hier?) »C’est pour vous, Claudine« (Das ist für Sie, Claudine), antwortete Paula schnell. »Mais c’est trop pour moi« (Aber das ist viel zu groß für mich), entgegnete die Dame des Hauses mit der Filmstarfigur. Doch die anderen klatschten: »Allez, Claudine!« (Los, Claudine!) Das zweite Stück schien auf Claudines Teller zu landen. Dann waren Stéphane und Marie an der Reihe und schließlich nannte Paula sich selbst am Schluss. Die Teller waren gefüllt und Paula durfte wieder unter dem Tisch hervorkommen. Man aß und alle starrten dabei auf ihr Kuchenstück, als würde dort gleich ein Geist aus dem Marzipanteig springen. Paula fand das alles ziemlich albern und überlegte fieberhaft, ob die anderen sich abgesprochen hatten, um sich über sie lustig zu machen, oder ob sie langsam selbst paranoid wurde. Während sie darüber nachdachte, biss sie plötzlich mit voller Wucht auf etwas Hartes. Es gab ein lautes Knacken und Paula schrie unwillkürlich auf, das war die Plombe! Oder der ganze Zahn? Was war denn das bloß für ein Kuchen? Alle starrten sie an: »Mais, c’est elle! C’est Paula!« (Sie ist es! Es ist Paula!), riefen die Bouchards.

Ein Champagnerkorken knallte und Gläser füllten sich. Paula nahm ihre Serviette und versuchte vorsichtig, ihre Plombe aus dem Mund zu fischen und dabei nicht den ganzen Kuchen mit auszuspucken. Doch was da auf ihrer Serviette landete, war keine Zahnfüllung, sondern eine kleine Porzellanfigur. Paula konnte es nicht fassen. Wie kam denn bitte eine Porzellanfigur in den Kuchen und wieso landete dieses Stück ausgerechnet auf ihrem Teller? Das war immerhin ein kleiner Anschlag auf ihre Zähne! Doch bevor sie aufstehen und zur Toilette eilen konnte, wurde sie auch schon von Marie und Stéphane umringt. Die setzten ihr eine Krone auf und die ganze Familie hob das Glas und rief »Vive la reine, vive la reine!« (Es lebe die Königin!). Paula spürte, wie sie rot anlief, wahrscheinlich sogar dunkelrot. Sie nahm schnell das Glas Wasser vor sich, um es auf ex zu trinken, doch kaum hatte sie zum Trinken angesetzt, da riefen auch schon alle: »La reine boit, la reine boit!« (Die Königin trinkt!) Paula verschluckte sich prompt am Wasser und begann wie wild zu husten. Sie hörte gar nicht mehr auf, die Krone fiel hinunter und Paula wollte fluchtartig den Tisch verlassen. Doch Stéphane hielt sie auf und klopfte ihr auf den Rücken. Marie setzte ihr die Krone wieder auf. Was war das nur für ein komisches Schauspiel, in das ich da geraten bin, fragte sich Paula verzweifelt. Jetzt brauchte sie dringend einen Schluck Champagner. Doch kaum hatte Paula das Glas an die Lippen gesetzt, ging es schon wieder los. »La reine boit, la reine boit!«, riefen alle belustigt und aufgeregt und hoben ihre Gläser, um ebenfalls zu trinken. Wurde sie jetzt auch noch nachgeahmt? Paula schaute in lachende Gesichter. »Qu’est-ce que ça veut dire?« (Was soll das alles bedeuten?), fragte sie schließlich und schon begannen die Bouchards mit einer Erklärung.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Am 6. Januar wird in Frankreich traditionell das Dreikönigsfest begangen: l‘épiphanie. Epiphaneia ist griechisch und bedeutet »Erscheinung«. Diese »Erscheinung des Herrn« hatten die Heiligen Drei Könige Caspar, Melchior und Balthasar, als ihnen am 6. Januar die Geburt des Christuskindes offenbart wurde. Um dieses Ereignis zu würdigen, wird in Frankreich noch heute die galette des rois, der Königskuchen, gebacken. Er besteht aus Blätterteig und Marzipan und darin wird eine fève (Saubohne) eingebacken. Das ist das kleine Etwas, auf das Paula gebissen hat. Die fève war ursprünglich wirklich eine Saubohne, heute nimmt man dafür eine kleine Porzellanfigur. Wer das Kuchenstück mit der Figur erwischt, wird zum König oder zur Königin erklärt, bekommt eine Krone auf den Kopf gesetzt und wird für den Rest des Abends als König behandelt. Die Franzosen machen daraus eine Riesengaudi, je nach Familie wird der König etwas anders gefeiert. Meistens schreien die anderen begeistert, wenn der König sein Glas an die Lippen führt, »le roi boit, le roi boit!« (der König trinkt!). Ob diese Sitte auf die Römer oder auf das Mittelalter zurückzuführen ist, bleibt ungeklärt, fest steht, dass das tirer les rois (Könige ziehen) wie ein nationales Brauchtum gehandelt wird. Ob zu Hause, bei Freunden, den Verwandten oder sogar im Büro – überall werden Könige geboren. Meistens wird daraus ein lustiges Schauspiel, denn eigentlich wird immer Champagner dazu getrunken. Einer muss unter den Tisch, denn der ist dann tatsächlich »unparteiisch« und sieht nicht, wer das Stück mit der kleinen fève bekommt. Irgendwie schaffen es die Eltern aber doch immer, dem kleinsten Kind das Figürchen und damit die Krone zukommen zu lassen.

Während früher wirklich nur am 6. Januar selbst die Könige gezogen wurden, hat man aus dieser Tradition längst ein Event gemacht und das Fest bis Mitte/Ende Januar ausgedehnt. Die schlauen Bäcker haben nämlich längst erkannt, dass die einstigen Revolutionäre doch gerne alle für einen Tag König oder Königin seien wollen, und damit auch alle drankommen können, verkaufen sie ihre Königskuchen zwei Wochen lang.

Das alles konnte Paula nicht wissen. Durch ihr Misstrauen hat sie sich selbst den Spaß an dem Fest genommen, was schade ist, denn es kann durchaus lustig sein, und eigentlich wollen alle die Figur in ihrem Kuchenstück haben und selbst König sein. Viele Franzosen sammeln die fèves sogar. Und das Beste ist: An diesem Tag kann man sehr ernste Menschen plötzlich wirklich albern erleben.

Was können Sie besser machen?

Jetzt, da Sie von dem Fest wissen, werden Sie den Spaß bestimmt nicht als persönlichen Angriff empfinden, sondern können vielleicht einfach mitmachen und lustig sein. Sie können übrigens bei jedem noch so kleinen Bäcker (boulangerie und pâtisserie!), auch am Bahnhof oder am Flughafen einen Königskuchen kaufen und selbst zu Hause einen König oder eine Königin ziehen. Der 6. Januar ist übrigens kein offizieller Feiertag.

Nach der Erklärung der Bouchards hatte sich Paula endlich entspannt zurücklehnen können. Ihre Gastfamilie einmal von der albernen Seite zu erleben, half ihr sicher auch dabei, das noch ausstehende Halbjahr in Paris wirklich zu genießen. Auf jeden Fall fühlte sie sich immer wohler, und als sie nach einem Jahr nach Deutschland zurückkehrte, erging es ihr wie ihren Eltern: In der Erinnerung wurden die schlimmsten Fauxpas zu den lustigsten Geschichten und Paula wollte kein einziges ihrer Fettnäpfchen mehr missen!

Fettnaepfchenfuehrer Frankreich
eBook_FNF_Frankreich_Cover.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-1.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-2.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-3.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-4.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-5.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-6.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-7.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-8.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-9.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-10.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-11.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-12.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-13.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-14.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-15.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-16.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-17.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-18.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-19.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-20.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-21.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-22.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-23.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-24.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-25.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-26.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-27.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-28.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-29.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-30.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-31.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-32.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-33.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-34.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-35.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-36.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-37.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-38.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-39.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-40.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-41.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-42.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-43.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-44.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-45.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-46.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-47.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-48.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-49.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-50.html