25. Fred vom Jupiter
Warum Paula nicht so leicht zu transportieren ist
»Pssst.« Marie schlich auf Zehenspitzen durch das Wohnzimmer, den salon, und öffnete ganz vorsichtig ein Fenster. Der Mond schien hell und auf der Straße war niemand zu sehen. Paula staunte nicht schlecht, als sie die brave Tochter des Hauses so verwandelt sah: Wenn sie Marie nicht kennen würde, würde sie sie glatt für eine Einbrecherin halten. Und ihre geschickte Art verriet der Deutschen, dass sich die junge Französin nicht zum ersten Mal nachts heimlich davonschlich. Die aktuelle Mode kam den beiden jungen Mädchen in diesem Fall entgegen, schon praktisch so ein weiter Minirock, wenn man sich nachts aus dem Haus schleichen musste. Auf jeden Fall besser als ein enges »kleines Schwarzes« oder ein fußknöchellanges Gewand. Marie schaute sich nervös um, als Paula mit dem Absatz an den Fensterrahmen stieß. »Fais attention!« (Pass auf!), mahnte sie im Flüsterton. Paula war ja nicht von vorgestern und im Nu landeten sie auf dem gut gepflegten Rasen, dem Vorgarten des Hauses. Marie zog von außen das Fenster zu und schon waren die beiden jungen Frauen um die Straßenecke gebogen.
»Guillaume a un petit studio à Montmartre« (Guillaume hat eine kleine Wohnung am Montmartre), schwärmte Marie von ihrem Freund, als sie auf die Metro warteten. »Il donne une super fête ce soir et ça me fait chier de ne pas pouvoir y aller.« (Er gibt heute Abend eine Superparty. Es kotzt mich an, dass ich nicht dort hin darf). Paula nickte, ja das war wirklich doof. »Moi, en Allemagne, j’ai le droit de sortir le week-end.« (In Deutschland darf ich am Wochenende ausgehen.) Marie war neidisch. »Comme ça, on y arrive aussi!« (So geht’s ja auch!), sagte Paula schelmisch. Die beiden Mädchen lächelten sich verschwörerisch zu. Die Metro war noch ziemlich voll, gerade mal halb elf am Abend, und Paula fand es sehr merkwürdig, dass sie hier etwas Verbotenes taten. Sie stiegen an der Station Pigalle aus und liefen durch eines der schönsten Viertel von ganz Paris. Kleine hügelige Gassen, viele Cafés und Bars und eine Stimmung, als wäre der Inbegriff der Romantik persönlich in die Gegenwart geklettert. Die Wohnung lag unterm Dach und die Musik hörte man schon in dem schmalen Treppenhaus. Paula mochte auf Anhieb alles, die Gegend, das Haus, die Stimmung im Flur und die Tatsache, dass sie auf dem Weg zu ihrer ersten Party in Paris war. Guillaume machte auf. Er war schon ganz gut angeheitert und umarmte Marie überschwänglich mit einem Glas in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand. »Salut, mes jolies puces« (Hallo, meine kleinen »Flöhe«), sagte er. »Ça ne va pas, non?!« (Geht’s noch?!), entgegnete Marie gespielt pikiert. Die Wohnung war brechend voll, was aber auch nicht schwierig war, denn es handelte sich lediglich um ein Zimmer mit offener Küche und einem kleinen Bad. Von wegen Wohnung. Zwei Mädchen tanzten wild zu französischer Hip-Hop-Musik, andere unterhielten sich lautstark, die Küche war ein Schlachtfeld aus leeren und vollen Flaschen, Reste von Essbarem und Zigarettenkippen türmten sich. Es wurde Bier, Whisky und Wodka getrunken – und Joints geraucht. »Das ist Paula aus Deutschland«, stellte Marie sie vor. Guillaume gab ihr links und rechts ein Küsschen und lächelte sie an. »Sehr erfreut«, flirtete er gleich. »Guten Tag, mein Fräulein«, stotterte Guillaume auf Deutsch. »J’ai appris l’allemand pendant dix ans mais c’est presque tout ce que je peux dire.« (Ich habe zehn Jahre lang Deutsch gelernt, aber das ist fast alles, was ich sagen kann.) Guillaume lachte. Eine Frau kam mit einer Flasche Champagner und zwei Wassergläsern vorbei: »Champagne?« Sie begrüßte Marie mit Küsschen und Guillaume stellte sie Paula vor: »Das ist meine Freundin Bérénice. Also, wir sind kein Paar, aber wir besuchen zusammen einen Tantrakurs.« Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus und Bérénice zog mit ihrer exklusiven Flasche weiter. Marie wollte schon trinken, doch Paula hielt ihr ihr Glas hin und die beiden stießen an. »Auf unser gemeinsames Jahr«, sagte Paula und schaute Marie in die Augen. Doch die hatte ihr Glas schon fast ausgetrunken. »Ça picole?« (Na, trinkt ihr?), fragte da eine Stimme hinter ihnen. »Moi, je suis Fred« (Ich bin Fred), stellte er sich vor. »Salut Fred«, sagte Marie, wieder Küsschen hier, Küsschen da, Paula machte es ihr nach. »Fährst du uns nachher nach Hause?«, fragte Marie. »Bien sûr – aber sicher doch. Ich kann euch doch nicht zu Fuß gehen lassen.« Er steckte sich eine Zigarette an. »Aber jetzt seid ihr ja erst mal angekommen. C’est la fête!« (Party!), rief er und tanzte um die Mädchen herum. Marie hielt ihm ihr leeres Glas hin. »Champ?« (Champagner?), fragte Fred. Marie nickte. Fred gab ihr seinen Joint und sorgte für Champagner-Nachschub, er hatte noch eine Flasche versteckt. »Fred ist ein alter Freund«, sagte Marie. »Er ist ein bisschen durchgeknallt, wahrscheinlich kifft er zu viel. Aber er ist ein herzensguter Typ!«
Sie tanzten, tranken und rauchten und überall, wo Paula war, war auch Fred, was nicht erstaunte, denn in der Wohnung trat man sich immer wieder auf die Füße. »Du tanzt richtig gut«, sagte Fred. »Merci.« Das hatte Paula schon öfter gehört. »Deutsche Frauen stellt man sich ganz anders vor«, meinte er. »Ach ja, wie denn?«, fragte Paula kess. »Na ja, nicht so hübsch und grazil und lustig. Eher etwas streng und langweilig und schlecht angezogen ...« »Was?« Paula spielte die Empörte. »Deutsche Frauen sind super«, erwiderte sie. »Offen, direkt ...« »Na ja, du auf jeden Fall.« Fred lächelte sie an. »Was machst du so im Leben?«, fragte Paula und nahm eine Zigarette aus der Packung, die Fred ihr hinhielt. Er schaute Paula lange und genüsslich an, während sie die ersten Züge nahm. »J’ai un transport amoureux« (wörtlich: Ich habe einen Liebestransport), sagte Fred und schaute ihr tief in die Augen. Paula lachte. Was auch immer das für ein komischer Beruf war, wollte sie lieber nicht so genau wissen. Marie hatte ja schon dezent darauf hingewiesen, dass Fred etwas neben der Spur sei.
Es war schon fast vier Uhr morgens, als das Auto von Fred in Maries Straße einbog. Paula saß auf dem Beifahrersitz und schaute sich verträumt die nächtliche Stadt an, Marie war hinten schon fast eingeschlafen. »On se roule une pelle?« (wörtlich: Rollen wir eine Schaufel?), fragte Fred Paula plötzlich. Was das wieder bedeutete? Wahrscheinlich wollte er einen Joint bauen. Sollte sie das jetzt machen? »Pourquoi pas« (Warum nicht), sagte sie. »Aber ich habe das noch nicht so oft gemacht, ich kann’s nur versuchen.« Fred schaute sie glücklich an. Marie war plötzlich wieder hellwach. »Alors, bonne nuit« (Also, gute Nacht), sagte sie und sprang etwas überstürzt aus dem Auto. Paula war irritiert. »Alors, une autre fois« (Ein andermal), sagte Paula zu Fred und lief Marie hinterher: »Attends moi!« (Warte auf mich!) Fred war leicht vor den Kopf gestoßen – das hatte leider nicht geklappt.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Ein paar Ausdrücke hat Paula falsch interpretiert: Der verrückte Fred wollte nicht mit Paula einen Joint rauchen, wie sie vermutet hatte. Rouler une pelle ist eine Redewendung und heißt so viel wie »knutschen«: die Zungen rollen. Eigentlich ist das kein schöner Ausdruck, für uns klingt das vollkommen unromantisch. Der verrückte Fred hatte wohl seine Verliebtheit hinter einer pseudo-coolen Fassade zu verstecken gesucht. Paula hätte das trotzdem kapieren können, wenn sie nicht schon einen anderen Ausdruck falsch verstanden hätte: transport amoureux. Das heißt so viel wie »Liebesrausch«. Man kann sich im Französischen überallhin transportieren lassen – eben auch in das Land der Liebe. Hier hatte Fred seine Verzückung für Paula bereits klar und offen ausgesprochen, was an dem vielen Alkohol und den Joints liegen musste, denn normalerweise sind Franzosen nicht so direkt. Im Französischen kann man nicht nur Waren, sondern auch Menschen transportieren. Es gibt sogar einen transport poétique, was so viel bedeutet wie: Verzückung oder ein rauschhafter Zustand durch einen poetischen Text.
Redewendungen oder »Das brennende Spültuch«
filer à l’anglaise (wörtlich: sich auf Englisch empfehlen) – die Biege machen, ohne sich zu verabschieden
il y a un cheveu (wörtlich: es gibt ein Haar) – die Sache hat einen Haken
malheureux comme les pierres (wörtlich: unglücklich wie die Steine) – todunglücklich
il pleut comme une vâche qui pisse (wörtlich: es regnet wie eine Kuh, die pisst) – es regnet in Strömen
il y a du monde au balcon (wörtlich: da sind Leute auf dem Balkon) – sie hat Holz vor der Hütte
Und wie sehr sich in Frankreich (fast) alles um das Thema Essen oder Kochen dreht, zeigen folgende Redewendungen:
tomber dans les pommes (wörtlich: in die Äpfel fallen) – aus den Latschen kippen
le panier à salade (wörtlich: der Salatkorb) – die grüne Minna: die Polizeiwanne/der Polizeibus
on ne peut pas faire d’omelette sans casser des œufs (wörtlich: man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen) – wo gehobelt wird, fallen Späne
je suis chocolat (wörtlich: ich bin Schokolade) – ich bin angeschmiert
laisser quelqu’un en carafe (wörtlich: jemanden in der Karaffe lassen) – jemanden im Stich lassen
mettre les pieds dans le plat (wörtlich: die Füße in den Teller stellen) – ins Fettnäpfchen treten
la moutarde lui monte au nez (wörtlich: der Senf steigt ihm in die Nase) – ihm platzt der Kragen
il est soupe au lait (wörtlich: er ist Milchsuppe) – er geht gleich in die Luft
le torchon brûle entre eux (wörtlich: das Spültuch brennt zwischen ihnen) – der Haussegen hängt schief.