24. Die Zugfahrt

Warum der schnelle TGV für Paula nicht schnell genug sein kann

Der Bahnhof von Lamballe war wesentlich kleiner, als Paula gedacht hatte. Der Bahnsteig ein Provisorium, kein Fahrstuhl weit und breit, sodass sie die vielen Stufen mit ihrem dicken Rucksack auf dem Rücken mühsam erklimmen musste. Im Auto war dann plötzlich doch nicht mehr genug Platz dafür, weil Eva ganze Säcke voll Mitbringsel verstaut hatte. Das gute Salz aus der Bretagne in rauen Mengen – als gäbe es keins in Berlin –, alle »echten« Zutaten für die süßen Crêpes und salzigen Galettes und etliche Flaschen Cidre. Mon dieu! Aber Eva wollte eben unbedingt, dass die gesamte Verwandtschaft ihre Reise durch und durch »nachempfinden« konnte. Trotzdem freute sich Paula irgendwie, dass ihre Eltern die Bretagne so mochten. Und sie glaubte auch zu spüren, dass die beiden inzwischen nachvollziehen konnten, warum Paula dieses Jahr unbedingt in Frankreich verbringen musste. Ein niedlicher Regionalzug kam angefahren und hielt nur ganz kurz in Lamballe, sodass Paula sich wahnsinnig beeilen musste. Viele deutsche, englische und belgische Touristen saßen in Paulas Abteil, das rundum nach Urlaub roch. Ihre Eltern waren sicher längst auf der Landstraße, als sich der Zug schleppend in Bewegung setzte. Paula freute sich ein bisschen, endlich wieder allein zu sein, und genoss den weiten Blick auf Felder und Wälder aus ihrem Fenster. Plötzlich spürte sie, wie sehr sie Paris vermisst hatte. Ihre Freundin Juliana, ihre Klasse, Marie und sogar die gemütlichen Abende im Wohnzimmer der Bouchards. Claudine war zwar immer wieder streng mit ihr, aber sie verstand es trotzdem, Paula ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. »Rennes, ici Rennes.« (Rennes, hier Rennes) Oh Gott, ich muss raus, dachte Paula, hievte sich mit einem Arm den Rucksack auf den Rücken und verließ panisch das volle Urlaubsabteil. »Au revoir!«, hörte sie es noch hinter sich herrufen. Wie nett, diese entspannten Urlauber. Daran konnte man sich wirklich gewöhnen.

Jetzt hieß es, das richtige Gleis zu finden. Der Bahnhof von Rennes war doch um einiges größer, und auf der Anzeigetafel suchte Paula vergeblich nach ihrem TGV, dem train à grande vitesse, dem französischen »Zug mit großer Geschwindigkeit«. Dabei fuhr er doch schon in einer Viertelstunde! Paula fragte einen gut aussehenden jungen Mann nach dem Paris-Zug. »Ah, vous avez le temps. Dans vingt-cinq minutes. C’est pour ça qu’il n’est pas encore indiqué.« (Ach, Sie haben noch fünfundzwanzig Minuten Zeit. Deshalb ist er auch noch nicht angeschlagen.) Paula wunderte sich, war aber auch erleichtert, bedankte sich und kaufte sich gleich noch eine Flasche Wasser und ihre neue Lieblingszeitschrift. Eigentlich mochte sie Frauenzeitschriften gar nicht so, aber in Frankreich war sie total scharf darauf und fast süchtig danach, von einer Mode-Verzückung zur nächsten zu blättern. Als sie das nächste Mal auf die Tafel schaute, war ihr TGV tatsächlich angeschrieben und sie marschierte direkt zum Gleis. Das Ticket hatte sie sich schon vorab besorgt, sodass sie jetzt nur noch ihren Platz finden musste. Der Zug war rappelvoll, halb Frankreich schien aus dem Urlaub zu kommen und nach Paris zurückzuwollen. Paula quetschte sich durch die Massen, fand ihren Sitzplatz und ließ sich endlich richtig fallen. Jetzt gab es nur noch sie und die Zeitschrift. Von mir aus können wir auch zehn Stunden fahren, dachte Paula entspannt und fühlte sich plötzlich ganz schön erwachsen. Das Leben hatte noch viel zu bieten und sie war gerade erst am Anfang. Der TGV rollte sanft aus Rennes heraus, um sie herum vertrautes Stimmengewirr und plötzlich versank Paula in einen süßen Halbschlaf.

»Mademoiselle! S’il vous plaît!« (Fräulein! Darf ich bitten?), schnitt es mit einem Mal scharf durch ihren Traum. Gerade hatte sie ein junger Bretone auf einer stürmischen Klippe vor dem tobenden Meer retten wollen. Aber das hartnäckige Rütteln an ihrer Schulter gehörte woanders hin. Paula schlug die Augen auf und sah in das gerötete Gesicht des Schaffners. »Oui, Monsieur?« Sie war sofort hellwach. »Votre ticket, s’il vous plaît!« (Ihre Fahrkarte, bitte!) Hastig wühlte Paula in ihrer Tasche, fand, was sie suchte, und reichte das längliche Ticket erleichtert weiter. »Voilà!« Wenigstens war sie jetzt wieder wach und konnte sich endlich der Mode widmen. »Le ticket n’a pas été composté«, (Die Fahrkarte wurde nicht entwertet), fuhr der Schaffner Paula entrüstet an. Aber die verstand gar nichts. »Quoi?« »Votre ticket, il faut le composter à la gare.« (Sie müssen Ihre Fahrkarte am Bahnsteig entwerten.) Er hielt Paula das Zugticket vor die Augen und zeigte immer wieder energisch darauf. Paula begriff überhaupt nicht, worum es hier gerade ging. »Mais, ça c’est mon ticket!« (Aber das ist doch meine Fahrkarte!) Sie verwies auf das Datum und die Richtung und alles, was das Ticket eben ausmachte. Der Schaffner wurde immer ungeduldiger, blickte sich hilfesuchend um, aber niemand schien sich für diese Situation zu interessieren. Bis plötzlich eine amerikanische Touristin dazukam und Paula freundlich erklärte, dass sie das Ticket immer noch entwerten müsse, bevor sie in den Zug steige. Das sei so üblich in »la belle France«. Na toll, dachte Paula, das hätte ihr ja auch vorher mal irgendjemand sagen können. »Mais je ne savais pas, Monsieur. Je suis vraiment désolée!« (Das habe ich nicht gewusst, Monsieur. Das tut mir wirklich sehr leid!) Paula versuchte, den Herrn Schaffner mit ein wenig Mitleid zu bezirzen und hoffe inständig, er würde noch ein Auge zudrücken. Und tatsächlich schien er darauf einzugehen, ließ es sich aber nicht nehmen, einen kleinen Vortrag über das französische Ticketsystem, seine Besonderheiten und die Bedeutung des Zugfahrens im Allgemeinen zu halten. Obwohl Paula nicht einmal die Hälfte davon nachvollziehen konnte, nickte und lächelte sie so eifrig, wie sie nur konnte. Mit theatralischer Geste und Mimik entwertete der Schaffner schließlich Paulas Ticket und reichte es ihr fast vorwurfsvoll zurück. »Merci beaucoup, Monsieur«, stammelte sie sichtlich erleichtert und wünschte noch einen angenehmen Tag. Mit einem lauten Seufzer lehnte sie sich wieder zurück, starrte erschöpft in die schnell vorbeiziehende Landschaft und dankte dem Schicksal, dass es so gut zu ihr war. Kurz vor Paris erinnerte sie sich an ihre Zeitschrift und blätterte ein wenig geistesabwesend die Seiten mit der bunten Herbstmode durch.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Bahnfahren ist in Frankreich doch etwas anders als in Deutschland. Kleinere Bahnhöfe sind oft nur spärlich ausgerüstet, es gibt weder einen Zeitungskiosk noch ein Bistro und auch keine Anzeigetafeln. Dafür sind die größeren Bahnhöfe eher unübersichtlich und vor allem voll. Neben Paris gibt es nur ein paar wenige Knotenpunkte und die sind entsprechend überlaufen, da sich die reisenden Massen weniger gut auf das ganze Land verteilen. So auch Rennes: Hier ist es immer voll und hektisch. Und trotzdem werden die Züge grundsätzlich in Frankreich erst kurz vor Abfahrt auf der Übersichtstafel angezeigt. Sie müssen also nicht eine halbe Stunde vorher anfangen, nach Ihrem Zug zu suchen. Dann wiederum müssen Sie sich beeilen, denn jetzt strömen fast alle auf ein- und denselben Zug zu. Das ergibt ein heftiges Gerangel und teilweise unschöne Anschuldigungen. Daher beinhaltet das Ticket für den TGV grundsätzlich immer einen Sitzplatz. Und, es gibt nur so viele Tickets wie Sitzplätze. Deswegen kann es in Frankreich sein, dass ein Zug ausverkauft ist – dafür müssen Sie, wenn Sie ein Ticket ergattert haben, wenigstens nicht stehen.

In Frankreich werden Zugtickets vor der Reise entwertet. Dafür stehen am Eingang zu jedem Gleis gelbe oder orangefarbene Entwertungsmaschinen, die den Berliner U-Bahn-Entwertern nicht unähnlich sind. Hier schiebt man das Ticket kurz hinein und schon ist die Fahrkarte gültig. Aber eben erst dann! Paula hatte Glück, dass sie an einen wirklich netten Schaffner geraten ist, der ihr immerhin geglaubt hat und das Ticket trotz fehlender Entwertung voll gelten ließ. Denn eigentlich ist sie, obgleich sie im Besitz eines Tickets war, schwarzgefahren. Vielleicht spielte hier tatsächlich der Ausländerbonus (in diesem Fall ein Bonus) eine gewisse Rolle, vielleicht aber auch nicht. Das liegt natürlich, wie immer, ganz im Ermessen des Hoheitsbefugten.

Was können Sie besser machen?

Paula hätte sich da, wo sie das Ticket gekauft hat, auch erkundigen können, ob sie noch irgendetwas zu berücksichtigen habe. Nur zur Sicherheit. Allerdings hätte das ein aufmerksamer Verkäufer auch gleich von sich aus tun können, denn dieses System ist kein international verbreitetes, sondern ein eher landestypisches. Vermutlich hat es der- oder diejenige auch genau deswegen vergessen. Denn das Entwerten lernt man in Frankreich von der Pike auf, es ist ein Automatismus. Und: Wenn Paula nicht so in Eile gewesen wäre, hätte sie die leuchtenden Maschinchen vermutlich von alleine wahrgenommen und jemanden dazu befragen können. So aber ist sie hektisch an ihnen vorbeigerannt, ganz auf ihren Sitzplatz konzentriert, auf all die Menschenmassen und nicht zuletzt auf ihre Modezeitschrift.

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