13. Zelten mitten in der Stadt

Wie die Fischers ein etwas anderes Paris entdecken

An der Seine war es wirklich schön, da hatte Paula Recht gehabt. Schade, dass sie nicht hatte mitkommen können, aber Eva und Manni mussten akzeptieren, dass ihre Tochter ihnen nicht mehr so gehörte wie früher. Sie wollten die Zeit nutzen, um etwas von der Welt zu verstehen, in der sie sich so gerne aufhielt, die sie gegen die ihre eingetauscht hatte. In Gedanken versunken schlenderten sie am Flussufer entlang, bis Anton sie aus der melancholischen Stimmung herausriss. »Cool«, sagte er, »die zelten hier alle mitten in der Stadt!« Tatsächlich standen viele rote Zelte in einigem Abstand in einer Reihe. »Das hätten wir vielleicht auch machen können. Dann hätten wir nicht ins Hotel gemusst.« Eva und Manni schauten erstaunt zu den Zeltenden hinüber. »Vielleicht sind das ja auch Pfadfinder«, meinte Anton, der selbst mal einer war. In dem Moment kam eine etwa fünfzigjährige Frau aus einem Zelt und eilte davon. »Die ist ’n bisschen alt, um den Pfad zu finden«, meinte Manni witzelnd. »Na hör mal! Pass bloß auf, was du sagst«, scherzte Eva zurück. »Wusste gar nicht, dass die schicken Franzosen so eine zeltfreudige Hauptstadt haben.« Manni war einfach gut drauf. »Vielleicht sollten wir die mal fragen, ob es überall erlaubt ist, seine Zelte aufzustellen«, sagte Eva. »Wir wollten doch nach dem Bretagne-Urlaub eh noch mal einen Abstecher für Shopping und Sightseeing in Paris machen. Ich könnte mir das gut vorstellen, hier so romantisch an der Seine ...« Eva war schon auf dem Weg zur Zeltgruppe. »Lass doch«, hielt Manni sie auf. »Willst du die auf Englisch fragen oder meinst du, du verstehst das, wenn die französisch reden? Ich habe keine Lust, jetzt wildfremde Leute anzuquatschen.« »Darum mache ich es ja auch!« Eva war wieder ganz die Alte und näherte sich einem Zelt. Anklopfen ging schlecht. Also stellte sie sich vor den Eingang und rief freundlich: »Excusez-moi! Hello! Sorry!« Ein paar Leute blieben stehen. Da ging der Reißverschluss auf und jemand fragte sehr verschlafen und unfreundlich: »Mais qu’est-ce qu’il y a? Laissez-moi tranquille!« (Was ist los? Lassen Sie mich in Ruhe!) Unglaublich, diesen Menschen hatte sie offensichtlich am helllichten Tage geweckt.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Was die guten Fischers nicht wissen konnten, ist, dass es sich bei dieser Zeltgruppe weder um Pfadfinder noch um irgendwelche Touristen handelte, sondern um Clochards, also Wohnsitzlose. Von ihnen gibt es auffällig viele in Paris. Dem französischen Wort haftet fälschlicherweise etwas Romantisches an, doch das Leben als Obdachloser in Paris ist natürlich alles andere als idyllisch. Eine französische NGO hat daher in einer groß angelegten Aktion Zelte an Obdachlose herausgegeben. Dabei hatte man anscheinend nicht damit gerechnet, wie viele davon Gebrauch machen würden. Als die Stadt plötzlich voller Zelte war, wurde die Zeltverteilung schnell wieder eingestellt, um das Straßenbild nicht gänzlich zu zerstören.

Clochards gehören in Paris praktisch zum Stadtbild, und auch im französischen Kino gab es mehrere Versuche, das Leben der Obdachlosen darzustellen: 1958 verkörperte Jean Gabin den eher glücklich-romantischen Clochard Archimède in dem Film »Archimède le clochard« (deutscher Titel: »Im Kittchen ist kein Zimmer frei«). Mit dieser verkitschen Darstellung vom Clochard hat Eric Rohmer in seinem Debütfilm »Le signe du lion« (»Im Zeichen des Löwen«, 1959) aufgeräumt. Eine der bekanntesten Kinodarstellungen des Lebens von Pariser Clochards ist wohl der international erfolgreiche Film »Les Amants du Pont-Neuf« (»Die Liebenden von Pont-Neuf«, 1991) des französischen Regisseurs Leos Carax.

Was können Sie besser machen?

Prinzipiell gilt immer: Man sieht nur das, was man kennt, oder das, was man sehen will. Eva und Manni, die ein romantisches Paris erleben wollen, schlendern Arm in Arm an der Seine entlang. Das Leid von Obdachlosen kommt ihnen nicht im Geringsten in den Sinn. Und das ist auch gut so. Aber trotzdem sollte man in fremden Ländern auch zwischendurch die Augen aufmachen und sich der Realität stellen. Und wer weiß, vielleicht hätte sich Eva sogar mit dem Obdachlosen unterhalten – wenn sie besser französisch gesprochen hätte.

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Obdachlose in Paris

SDF (sans domicile fixe – ohne festen Wohnsitz) ist der politisch korrekte Begriff; clochard gilt in Frankreich als Schimpfwort. 2010 wurden über 100.000 Obdachlose allein in Paris registriert. Man sieht sie überall: auf den Prachtboulevards und am Seine-Ufer, neben den Eingängen zu sündhaft teuren Kleider- oder Delikatessengeschäften. Hinzu kommt eine halbe Million Menschen ohne langfristig festen Wohnsitz – sie leben in Obdachlosenheimen oder Wohnwagen. Die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher sein. Grund für die vielen Wohnsitzlosen ist zum einen der Wohnungsnotstand in der Pariser Innenstadt, zum anderen sind die Hürden, auf dem freien Markt eine Wohnung zu mieten, sehr hoch: Mieter brauchen meist einen Bürgen und müssen mindestens das Dreifache ihrer Miete verdienen. Die Kommunen sind zwar vom Staat verpflichtet, günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, aber keiner möchte Sozialbauten in seiner Nachbarschaft haben. Viele Pariser arrondissements (Bezirke) ziehen es daher vor, ein Strafgeld für das Versäumnis der Wohnraumbeschaffung zu bezahlen. In Paris gibt es mittlerweile viele Menschen, die sich trotz Arbeit keine Wohnung leisten können, wegen horrender Mieten und mangelnder Sozialwohnungen. Das Statistikamt schätzt, dass jeder dritte Obdachlose Arbeit hat.

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