37. Regen und Sonnenschein

Wie Katja an der hohen Kunst der Konversation scheitert

Paula lehnte sich gemütlich auf den Stufen vor Sacré-Cœur zurück – Katja hatte eine Decke mitgebracht –, ließ ihren Blick über die Dächer von Paris schweifen und lauschte weiter ihrer deutschen Freundin.

»Seit zwei Wochen waren wir in der Normandie und es regnete und regnete«, erzählte Katja. »Längst hatte ich die Innenstadt von Rouen besichtigt, la ville aux cents cloches (die Stadt der hundert Glocken), mit ihren unzähligen Kirchen und der berühmten Kathedrale Notre-Dame de Rouen. Da musst du unbedingt mal hinfahren, Paula. Ich war besonders von den kleinen Gässchen beeindruckt, in denen man sofort ohne Umbauten einen historischen Mittelalterfilm drehen könnte. Ganze Straßenzüge stammen aus dem 13. und 15. Jahrhundert und faszinieren durch ihr farbiges Fachwerk. Obwohl sehr viel im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, besitzt Rouen noch ungefähr zweitausend mittelalterliche Fachwerkhäuser. Es ist fantastisch, sich ein wenig im Herzen dieser Stadt treiben zu lassen. Ich habe sogar den Turm bestiegen, auf dem sich le gros horloge befindet, eine große astronomische Uhr aus dem 14. Jahrhundert. Danach habe ich das sogenannte Pest-Beinhaus L’aître Saint-Maclou besichtigt, dessen Totentanzschnitzereien mir Gänsehaut bereitet haben. Kein Wunder, dass die Franzosen nicht besonders gut auf die Engländer zu sprechen sind: Bereits 1419 hatten diese die Stadt erobert, und auf der Place du vieux marché (Alter Marktplatz) ist noch der Stein zu sehen, auf dem die britische Krone am 30. Mai 1431 die französische Heilige Jeanne d’Arc verbrennen ließ. Ich konnte mir den Scheiterhaufen bildlich vorstellen, fast, schien mir, waren die Schreie noch zu hören. Und auch die Deutschen haben überall sichtbare Narben hinterlassen: Eine für Jeanne d’Arc errichtete Kirche aus dem 16. Jahrhundert wurde bei Bombenangriffen 1944 zerstört, doch die klugen Normannen haben vorher die originalen Kirchenfenster gerettet und in die neue Kirche Sainte-Jeanne-d’Arc 1979 eingebaut. Als Deutsche habe ich mich doch ein bisschen komisch gefühlt, obwohl mir das gleichzeitig albern vorkam. Ich versuchte, meinen Akzent zu verbergen, wollte lieber als Holländerin durchgehen. Ich glaube, die Franzosen hätten den Unterschied wohl nicht mal bemerkt, aber na ja.

Zwischen all den kleinen Reisen in die Vergangenheit saß ich dann mit der Familie meines Mannes am Tisch, bei diesem schlechten Wetter viel und lang. Die Geselligkeit hat mir gefallen und auch das gute ausgiebige Essen. Nur wollte es mir einfach nicht gelingen, einen interessanten Beitrag zur allgemeinen Kommunikation beizusteuern. Es wurde über Tennis gesprochen und hauptsächlich übers Essen und das Wetter. Oder über Bekannte, die ich nicht kannte. Ich schwieg und manchmal langweilte ich mich. Und ich habe mich gefragt, ob es an mir lag, dass sich keiner traute, in meiner Gegenwart über politische Themen, über Umweltschutz oder berufliche Entscheidungen zu sprechen? Das war doch schließlich kein Geschäftsessen, dachte ich. Dass da andere Regeln galten als in Deutschland, hatte ich ja mittlerweile verstanden.

Ich nahm mir vor, den anderen endlich das Gefühl zu geben, dass sie mit mir ganz offen sein konnten, indem ich einfach von selbst ein mir wichtiges Thema ansprach. Ich suchte also krampfhaft nach einem geeigneten Gesprächsthema für das bevorstehende Mittagessen und entschied mich für den neuen Skandal des französischen Präsidenten. Dazu konnten wenigstens alle etwas beisteuern, und ich kam nicht so neunmalklug daher. Es gab Bohnen und Kartoffeln – ehemals tiefgefroren und vorgewürzt – und dazu ein großes Stück Entrecôte, für alle roh und blutig und für mich gut durch, also ziemlich hart. Sofort wurde über das Fleisch gesprochen, wo es gekauft worden war und dass es sehr gut schmeckte, was es wohl zum Abendessen gäbe und was es neulich bei Freunden gab. Ich versuchte einzustimmen, dass es köstlich sei, doch es kam mir vor, als glaubte man mir nicht. Niemand ging auch nur ansatzweise auf meinen Kommentar ein. Als eine Pause entstand, fasste ich mir ein Herz und fragte schnell, aber so, dass es alle gut hören können: »Qu’est-ce que vous pensez de Sarkozy?« (Was halten Sie eigentlich von Sarkozy?) Befremdliche Stille. Auch Matthieu war plötzlich intensiv mit seinem Essen beschäftigt. Da keiner antwortete, richtete ich mich direkt an den Vater, den Herrn des Hauses. »On a entendu en Allemagne qu’il y avait ce grand scandale.« (In Deutschland hat man von diesem großen Skandal gehört.) Matthieus Mutter errötete. Und dann, endlich, ein leises »Ah« seitens meines Fast-Schwiegervaters, der dabei keine Sekunde von seinem Teller aufschaute, sondern ruhig fortfuhr: »On entend beaucoup de choses. Je ne sais pas. Je ne peux pas juger.« (Ach, man hört so einiges. Ich weiß nicht. Ich kann es nicht beurteilen.) Und kaum hatte er das zu Ende gesprochen, fügte er hinzu. »Elle est vraiment bonne, cette viande!« (Es ist wirklich gut, dieses Fleisch!) Ich konnte es nicht fassen, Paula! Es musste doch um Himmels willen möglich sein, ein einigermaßen gehaltvolles Tischgespräch zu führen? Wir waren doch in Frankreich, dem Land der Philosophen, der großen Dichter und Denker. Das erste, was ich im Französischunterricht gelernt hatte, war, wie sehr die Franzosen ihre Sprache liebten. Warum in Gottes Namen sprachen sie dann hier ständig nur über Fleisch und Regen?

Ich wagte einen zweiten Versuch: »Et que dites-vous par rapport à la nourriture biologique?« (Und wie stehen Sie zu biologischer Ernährung?) Mein Freund schaute mich leicht verärgert, fast flehend an. Ich hörte also auf zu fragen und stocherte energisch in meinem Entrecôte herum. Wieder nur allgemeines Schweigen, und als ich mich auf die inzwischen kalten Bohnen konzentrierte, war man auch schon wieder beim Wetter. Wie lange es wohl noch so regnen würde und dass am Nachmittag wieder Tennis im Fernsehen zu sehen sei. Das Tournoi de Roland-Garros, der offizielle Name der French Open, das wollten sie alle zusammen schauen. Ich wusste nicht, ob ich wütend oder einfach nur irritiert sein sollte. Wie konnte man denn so gar keine Meinung haben? »Pour moi, il n’y a pas moins d’intéressant que regarder un match de tennis à la télé« (Für mich gibt es nichts Langweiligeres, als ein Tennisspiel im Fernsehen anzuschauen), sagte ich provokativ. Keiner reagierte auf meinen Beitrag. »Je vais chercher la salade« (Ich werde den Salat holen), sagte meine Fast-Schwiegermutter. Und als sie gegangen war, unterhielten sich Matthieu und sein Vater darüber, wer wohl das Tennismatch gewinnen würde. Den Nachmittag, beschloss ich, würde ich wieder in der Altstadt und in den herrlichen Dessousläden von Rouen verbringen.«

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Hier prallen deutsche Direktheit und französische Vornehmheit geradezu köstlich aufeinander. Mit jeder Frage, die Katja stellt, die nicht das Essen, das Wetter oder das letzte Tennismatch betrifft, katapultiert sie sich ins Aus der Tischunterhaltung. Denn zum einen ist sie noch nicht offiziell Teil der Familie und damit auch keineswegs befugt, die Themen am Tisch auf so direkte Art und Weise vorzugeben. Auch wenn das keineswegs bestimmend oder tonangebend von ihr gemeint war. Und zum anderen sind die Themen, die Katja in ihrer Verzweiflung ausgewählt hat, genau die falschen. Weder Politik noch Bionahrung sind in Frankreich eine willkommene Mittagstischablenkung. Zu dieser Tageszeit, besonders im Urlaub, möchte man sich leicht und unverfänglich unterhalten, das Gute und Schöne loben und den weiteren Verlauf des Tages beplaudern. Da haben Sarkozy und biologische Trends, die ohnehin in Frankreich unbeliebt sind, genauso übrigens wie die Frage der Mülltrennung, einfach nichts zu suchen. Deshalb wird darauf auch kaum oder gar nicht eingegangen. Selbst Katjas Freund sitzt hier zwischen den Stühlen, denn er hat die Lage sofort durchschaut, möchte aber seine Liebste auch nicht vor den anderen zurechtweisen. Zumal er weiß, dass sie sich das als gleichberechtigte Frau auch nicht gefallen ließe. Also hat er ihr durch seinen Themenwechsel zu verstehen gegeben, dass sie sich thematisch auf einem Holzweg befindet. Zurückhaltend und dennoch bestimmend, so wie es die Höflichkeit der Franzosen verlangt.

Was können Sie besser machen?

Es gilt also größte Sorgfalt sowohl bei der Themenauswahl als auch bei der Art und Weise des sich Einbringens, wenn man in Frankreich zu Tisch gebeten wird. Hätte Katja angefangen, über die aktuelle Filmlandschaft zu sprechen und dann von ihrem Lieblingsfilm erzählt, locker, charmant und unterhaltsam, und anschließend gefragt, ob jemand den Film auch mag oder einen anderen empfehlen könne, wäre das für alle etwas »bekömmlicher« gewesen. Ob mit oder ohne Katja, ob privat oder geschäftlich, gewisse Themen werden bei Tisch einfach nicht angesprochen.

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La conversation

La conversation ist in Frankreich eine hoch bewertete Kunstform. Für die Franzosen bedeutet sie nicht nur, dass man jemanden von seiner Idee überzeugen kann, sondern es geht vor allem darum, sowohl in der Schriftsprache als auch im mündlichen Ausdruck besonders eloquent zu sein. Um Meister dieser Kunst zu werden, beginnen die Franzosen damit bereits im Kindergarten; sie lernen, bei jeder Gelegenheit hübsch »danke, Mama« und »bitte, Mama« zu sagen, nicht laut zu sein, immer zu gehorchen und auf Fragen stets höflich und geistreich – soweit es für ein Kindergartenkind möglich ist – zu antworten. Schule und Universität dienen in erster Linie dazu, den Umgang mit der französischen Sprache zu perfektionieren. Während in der Schule vor allem das Schriftliche geschult wird, legt man in der Universität großen Wert auf die akkurate mündliche Beherrschung des Französischen. Dafür gibt es feststehende Redewendungen und Formulierungen, die sich jeder Student anzueignen hat.

Dabei dient die Kunst der Konversation in erster Linie dazu, eine gute Figur zu machen, nicht um Ansichten und Meinungen auszutauschen. Während Deutsche oft eine Kommunikation mit der Frage beginnen »Was machen Sie beruflich?« oder »Wie heißen Sie?«, kann eine solche Frage in Frankreich schnell unhöflich und indiskret wirken. Franzosen sprechen zunächst am liebsten über das Wetter, über Regen und Sonnenschein: la pluie et le beau temps. Wenn sich die Kommunikation als gut erweist, geht man langsam zu persönlicheren Themen über. Doch auch hier geht es wieder darum, selbst eine besonders gute Figur abzugeben. Ideen werden in die Runde geworfen, man kommt vom Hundertsten ins Tausendste (passer du coq à l’âne; wörtlich: vom Gockel zum Esel kommen), antwortet auf ernste Fragen mit Witzen oder unterbricht seinen Gesprächspartner mitten im Satz – wenn man die hohe Kunst der Konversation beherrscht. Es ist die ewige Lust am Spiel. Gewonnen hat der, dem beim verbalen Schlagabtausch das letzte Wort gehört und dabei äußerst diskret und entspannt geblieben ist. Le bon mot (das schöne Wort) ist, was zählt, auf die Verpackung kommt es an. Und wenn man das einmal weiß und am besten ein paar Mal beobachtet hat, kann die verspielte Leichtigkeit, mit der dann auch ernstere Dinge des Lebens auf den Tisch kommen, großen Spaß machen.

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