30. Sei kein Frosch – bitte!
Paula im Land der Delikatessen
Heute Abend waren die Bouchards bei Claudines Bruder Claude und dessen Familie zum Abendessen eingeladen. Natürlich mit Paula. Als sie die Wohnung im Pariser Stadtteil Marais in der Nähe vom Place des Vosges, den Paula so liebte, betraten, herrschte große Aufregung: Die Kinder rannten brüllend durch den Flur, die Großmutter schimpfte hinterher und Claude und seine Frau entschuldigten sich ein wenig geniert für den Lärm. Paula fand das alles sehr sympathisch, endlich einmal etwas Ungezwungenes in diesen steifen Kreisen! Doch der Schein trog. Kaum saßen alle am Tisch, wurden die Kinder zurechtgewiesen und mit Regeln und Prinzipien gefüttert. Die kleine Clémentine wurde immer stiller und blasser. Ihr Bruder Sébastien ließ sich nichts anmerken und plapperte munter weiter und weiter. Bis der Vater ihn plötzlich heftig und laut ermahnte. Der Kleine stand ohne ein Wort eingeschüchtert auf und stellte sich in die Ecke des Salons.
»C’est quoi comme jeu?« (Was ist das denn für ein Spiel?), wollte Paula etwas zu neugierig wissen. Neun Köpfe drehten sich gleichzeitig in ihre Richtung. Betretenes Schweigen. Dann übernahm Claudine die Führung und erklärte Paula kurz und sachlich, dass Sébastien jetzt gerade über sein Verhalten nachdenke. »Sinon, il ne comprendra jamais« (Sonst versteht er das nie), beendete sie ihren kleinen Vortrag. Claude und seine Frau waren erleichtert, Paula perplex. Das war also bitterer Ernst, diese Eckennummer! Na, da würden ihre Eltern aber nicht schlecht staunen. Mannomann! Paula bedankte sich für die nette Erklärung und hoffte, das Essen würde die Stimmung wieder etwas heben.
Claude verkündete stolz, es gäbe eine besondere Spezialität, und trug mehrere heiße Schalen herein. »Oh, des escargots! J’adore!«, rief die Großmutter voller Entzücken. Eine niedliche alte Dame, dachte Paula. Schick und eigenwillig, ein bisschen als wäre sie einem Musical entsprungen. Aber als Paula dann die Schale mit den sechs Löchern und den kleinen, verschrumpelten Schnecken darin vor sich hatte, fand sie die Alte gar nicht mehr so niedlich. Noch nie in ihrem Leben hatte Paula Schnecken gegessen. Warum auch? Es gab doch so viele andere Köstlichkeiten. Jetzt aber hatte sie wohl keine andere Wahl. »Je les ai fait avec ta sauce préférée, Claudine« (Ich habe sie mit deiner Lieblingssoße zubereitet, Claudine), schallte es fröhlich vom anderen Ende des Tischs. »Paula, tu aimes les escargots?« (Paula, magst du Schnecken?), fragte Claudine ein wenig besorgt und zugleich durchaus herausfordernd. Ein echter Franzose musste Schnecken lieben! »Oui, oui«, gab Paula schnell zurück. Und zum Beweis stach sie herzhaft in das erste der sechs glitschigen Weichtiere. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und schob sich den Glibber in den Mund. Vorsichtig, ganz vorsichtig kaute sie darauf herum. Es fühlte sich ungewohnt, aber eigentlich gar nicht so schlimm an. Ein bisschen wie weiches Fleisch. Die Soße hatte so viel Knoblauch in sich, dass alles andere danach schmeckte. Gott sei Dank! Paula verspürte Erleichterung. Sie würde sich einfach voll und ganz auf den Knoblauchgeschmack konzentrieren. »Mmh, très bon!« Diese Blöße würde sie sich vor ihrer Gastmutter auf keinen Fall geben. Eine Schnecke nach der anderen landete in ihrem Magen und sie hoffte, dass sie sich dort auch schön ruhig verhalten würden. Alle anderen am Tisch waren ebenfalls mit ihren sechs Tierchen beschäftigt. Zufriedenheit machte sich breit. Auch Marie und Stéphane schienen absolute Schneckenfans zu sein. In null Komma nichts waren alle Vertiefungen in den Schalen blitzblank. Verrückt, wie man sich daran gewöhnen kann, dachte Paula.
Kurz darauf schritt Claude mit einem riesigen Tablett auf den Tisch zu und verkündete dabei: »Pour toi, Paula, un vrai chef d’œuvre de la cuisine française.« (Für dich, Paula, eine echte Besonderheit der französischen Küche.) Paula hoffte, dass sie jetzt für die Schneckenqual entschädigt würde und freute sich auf ein ordentliches Stück Fleisch oder einen Gemüseauflauf oder Pasta oder Fisch oder einen Reistopf oder … Oh nein, bitte, bitte nicht! In der Mitte des Tisches stand jetzt ein großer Bräter, der weder den fetten Braten noch saftige Koteletts beherbergte, sondern dünne, kleine, unförmige Beinchen: Froschschenkel! Mit einer widerlichen Selbstverständlichkeit lagen sie alle nebeneinander, reckten ihre krummen Dinger in die Luft und waren von oben bis unten mit Petersilie bedeckt. Paula wurde sofort schlecht, sie entschuldigte sich kurz und verschwand auf die Toilette. Dieser Anblick würde sie noch in ihren Träumen verfolgen! Als sie zurückkam, ein wenig erleichtert und mit frischem Kampfgeist ausgestattet, waren alle anderen bereits munter am Speisen. Marie, Stéphane und sogar die Kleinen bissen herzhaft in die dünnen Beinchen. »Ça va, Paula?«, fragte der Hausherr zwar besorgt, aber mit einem Hauch von Belustigung um die Mundwinkel. Wirklich witzig, dachte Paula. »Oui, ça va!« Was sonst sollte sie darauf antworten. Los, Paula, das schaffst du, forderte eine innere Stimme sie heraus. Ganz langsam und nicht so viel auf einmal. Der erste Bissen war der schlimmste, Paula fürchtete, sie würde gleich im hohen Bogen den Tisch bespucken. Aber nichts dergleichen geschah, sie würgte von einem Froschschenkel zum nächsten und schwor sich, nie wieder irgendwelche Spezialitäten der französischen Küche zu probieren.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Es ist gewissermaßen eine Ehre, dass Paula mit zum Bruder ihrer Gastmutter eingeladen wird. Denn die Familie ist in Frankreich geradezu heilig und ein Universum für sich. Da muss Paula neben den ganzen Fettnäpfchentritten also auch das eine oder andere richtig gemacht haben.
Als eines der Kinder nicht pariert, wird es in die Ecke gestellt, um dort über die »falsche« Handlung nachzudenken. Das ist ein in Frankreich weit verbreitetes Erziehungsmittel, über das Paula verständlicherweise erstaunt war und daher naiv fragte, was das für ein Spiel sei. Damit hat sie sich, ohne es zu wissen, ein wenig zu weit hinausgelehnt und zunächst unangenehmes Schweigen hervorgerufen. Denn auf ihre Erziehungsmethoden lassen die Franzosen nichts kommen. Die sind zwar manchmal streng, aber notwendig, denn sie führen zu guten Ergebnissen. Auch, wenn das andere anders sehen. Hier ist Paula also in ein Fettnäpfchen getreten, das aber durch Claudines Vortrag wieder versachlicht wurde.
Sowohl Schnecken als auch Froschschenkel sind für Paula Neuland, sodass ihre – berechtigte – Unsicherheit zu spüren war. Sie hat sich tapfer geschlagen, indem sie beides probiert und nicht gleich verweigert hat. Dass die Gastgeber ihr damit tatsächlich eine Freude machen wollten, lässt sich daran ablesen, dass alle anderen mit großem Genuss gespeist haben. Ganz nach der Maxime: Man bietet seinen Gästen an, was man selbst am liebsten isst. Und ein klein wenig »erzieherischer« Wille gesellte sich vielleicht auch noch dazu – Franzosen überzeugen ihr Gegenüber einfach zu gern.
Was können Sie besser machen?
Hätte Paula nicht nach einem »Spiel« gefragt, sondern sich ernsthaft erkundigt, warum der kleine Sébastien auf einmal in die Ecke musste, wäre das Schweigen vermutlich noch schneller in eine sachliche Erklärung übergegangen. Mit ihrer Frage aber hat Paula die Eigenwilligkeit dieser Maßnahme mehr als deutlich gemacht und das hat die gesamte Familie als Angriff empfunden. Hier hätte Paula etwas respektvoller auf die konkrete Situation eingehen können. Denn dass es sich nicht um ein Spiel handelt, wurde ziemlich schnell klar. Letztendlich wollte Paula natürlich auch ihr Unverständnis zum Ausdruck bringen. Denn diese Form der Erziehung hat sie selbst nie erfahren, und sie ist in Deutschland auch keineswegs üblich. Das Fünkchen Provokation hätte sie sich, zumal als Gast innerhalb der Familie, allerdings verkneifen können.
Wer partout keine Schnecken oder Froschschenkel essen möchte, kann seinem Gastgeber höflich und freundlich zu verstehen geben, dass diese französischen Spezialitäten einfach zu speziell sind, und dafür umso mehr den guten Rotwein und den herrlichen Nachtisch loben.
Im Land der »Frogs« – Froschschenkel und Schnecken
Franzosen haben den Ruf, begeisterte Schnecken- und Froschschenkelesser zu sein und werden deshalb auch gern von den Angelsachsen als »Frogs« oder »Froggies« bezeichnet. Zwar stehen Schnecken und Froschschenkel nicht auf jeder Speisekarte und auch die Geschmäcker der Franzosen gehen an dieser Stelle tatsächlich auseinander, aber sie zählen nach wie vor zu den beliebtesten landestypischen Delikatessen. Frankreich ist mit rund 150 Millionen konsumierten Froschschenkeln im Jahr der größte internationale Abnehmer. Geliefert werden diese liebreizenden Exemplare vor allem aus Indonesien, Indien und Bangladesch. Im Elsass gehört der Froschschenkel sogar mehr oder weniger zur Alltagsverpflegung. Das Fleisch erinnert in Geschmack und Konsistenz an das von jungem Huhn, das mit Knoblauch und Petersilie zubereitet wird.
Und auch beim Schneckenkonsum ist Frankreich – mit über 500 Millionen Schnecken pro Jahr – eines der führenden europäischen Länder. Am beliebtesten sind die Weinbergschnecken, die meist in einer Soße aus gehackter Petersilie, Kräutern, Weißwein und Knoblauch in der Pfanne gebraten und dann in speziellen Schalen mit kleinen Einbuchtungen – für jede Schnecke eine – serviert werden.