32. Film ab!

Paula geht zum ersten Mal alleine ins Kino

Paula wusste aus ihrem Französischunterricht, wie bedeutend Paris für den Film und der Film für Paris war. Eine Liebe, die alle Franzosen teilten, die sie sozusagen mit der Muttermilch aufsogen. François Truffaut, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol, Eric Rohmer – und wie sie alle hießen. Sie hatten den französischen Film groß gemacht, ihn in die Welt getragen und verteidigt, wo auch immer sie konnten. Paula hatte von diesen Namen gehört, aber nie auch nur einen einzigen Film gesehen. Sie überlegte fieberhaft, wie sie endlich mit dieser Welt in Berührung kommen konnte. Ins Kino zu gehen, wäre doch ein guter Anfang. Gedacht, getan.

An einem Samstagmorgen blätterte Paula im Pariscope, dem wöchentlich erscheinenden Pariser Stadtmagazin, und fand auch gleich eine Nachmittagsvorstellung in einem kleinen Kino am Jardin du Luxembourg. Der Regisseur hieß Jean Epstein – was für ein himmlischer Name! Sie war noch nie allein ins Kino gegangen, aber sie freute sich auf ihren Paris-Tag und wollte ihn mit niemandem teilen. Also rief sie Claudine nur zu, dass sie nicht mit dem Abendessen auf sie warten solle, sie sei unterwegs. »Amuse-toi bien!«, rief Claudine auffällig aufgesetzt und schaute ihr etwas missmutig hinterher. Paula wusste, dass ihr das nicht recht war, sie hätte lieber eine Vorzeige-Gastschülerin mit Supernoten und einer akzentfreien Aussprache. Aber Paula wollte mehr – oder etwas anderes, sie wollte Paris entdecken, für sich allein und ganz auf ihre Art.

Kaum war sie am Jardin du Luxembourg angekommen, waren alle Zweifel wie weggewischt. Kinder jagten um die Fontäne herum, die Alten schauten ihnen dabei zu, die Jungen saßen auf Stühlen daneben und kicherten, was das Zeug hielt. Paula hatte extra an eine dicke Decke gedacht, um sich auf die Wiese zu legen. Es war noch warm genug in diesen ersten Herbsttagen. Sie suchte sich ein idyllisches Plätzchen und machte es sich bequem. Der Himmel über ihr war atemberaubend klar und weit. Paula lauschte dem Kreischen der Kinder, den Vögeln und sich selbst. Was für ein Glück sie hatte, das alles erleben zu können. Paris, die Schule, die neuen Freunde, dieses Gefühl, etwas zu schaffen, das sie vorher nicht für möglich gehalten hatte. Berlin kam ihr unendlich weit weg vor, obwohl sie engen Kontakt mit ihrer Clique hielt. Was die wohl gerade machten? »Mademoiselle, s’il vous plaît!« (Bitte sehr, Fräulein!) Mit einem schrillen Pfiff wurde Paula aus ihren Gedanken gerissen. Vor ihr stand ein Parkwächter in Uniform. Paule richtete sich sofort auf. »Vous ne pouvez pas rester là« (Sie können da nicht bleiben), fuhr der Uniformierte fort und machte Gesten, die an eine Dampflok erinnerten. »Pourquoi?« (Warum?), wollte Paula forsch wissen. Und sie wurde auf ein kleines grünes Schildchen verwiesen, auf dem in Minischrift stand, dass die Wiesen nicht zu nutzen sind. Paula zeigte, dass sie verstanden hatte, und machte sich daran, ihre Siebensachen zusammenzusuchen. Der Trillerpfeifenmensch wich dabei nicht von ihrer Seite. Haben die keine anderen Probleme in Paris?, fragte sich Paula genervt. Adieu, ihr schönen, wohltuenden Gedanken.

Sie lief in die andere Richtung des Parks und stellte fest, dass von irgendwoher Orchestermusik kam. Paula folgte den sinnlichen Tönen und staunte nicht schlecht, als sie mitten im Park einen Pavillon entdeckte, der mit einem kleinen Orchester besetzt war. Menschentrauben hatten sich davor versammelt und es herrschte eine andächtige, den Moment auskostende Stimmung. Paula war beglückt – es war eben doch ein wunderschöner Tag. Ihr Tag! Als sie genug zugehört hatte, schlenderte sie weiter und suchte sich gleich am Park ein Café, um ihren Eltern eine Postkarte zu schreiben. Manni und Eva sollten wissen, wie gut es ihr hier ging und wie dankbar Paula für all das war. Sie fand gleich gegenüber vom Park einen wunderschönen Teesalon und gönnte sich eine große chocolat chaud. Als sie bezahlen wollte, antwortete der Kellner auf Englisch und Paula war enttäuscht. Sie gab sich doch alle Mühe und fand, dass man ihren deutschen Akzent eigentlich kaum noch hörte. Dafür ließ sie wenig Trinkgeld zurück und beeilte sich, aus dem Café zu kommen. Sie freute sich jetzt riesig auf ihren ersten französischen Film.

Das Kino war winzig, aber alle Stühle hatten einen wunderschönen dunkelroten Samtüberzug. Der Vorhang fiel mächtig und schwer auf die Bühne. Kaum saß sie auf ihrem Platz, wurde es auch schon dunkel. Eine kleine ältere Dame saß eine Reihe vor ihr. Sonst hatte niemand den Weg hierher gefunden. Für diese Anzahl würde in Deutschland wohl kaum eine Leinwand bespielt. Aber so war das eben im Land des Films. Und Paula fühlte sich pudelwohl in diesem Universum, der Welt in der Welt. Sie beschloss, ab jetzt viel öfter ins Kino zu gehen. Und es tat gar nicht weh alleine. Als die Musik einsetzte, war sie wie in Trance. Wunderschöne Schwarz-Weiß-Bilder, kunstvolle Kameraeinstellungen und ausdrucksstarke Gesichter. Aber: kein Ton! Oh je, deshalb nur diese alte Dame und sie. Sie war in einem Stummfilm gelandet. Der erste französische Film und dann gleich stumm. Paula zwang sich, das alles mit Humor zu nehmen und das Schauspiel zu genießen, das es in dieser Form heute gar nicht mehr gab. Als der Film zu Ende war, schnarchte es laut aus der Reihe vor ihr, und Paula schlich sich leise aus dem warmen samtigen Saal. Draußen wurde es inzwischen dämmrig, ein laues Windchen wehte und sie spazierte beflügelt zur nächsten Metrostation. Der erste Schritt in die Filmwelt war getan! Paula wusste jetzt, dass Jean Epstein ein bedeutender Stummfilmregisseur war. Und sie würde sogar ein wenig mitreden können, wenn auf der nächsten Fete wieder alle nur übers Kino sprachen.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Parkanlagen werden in Paris mit einer besonders aufwendigen Hingabe und Pflege bedacht und daher gezielt vor eventuellen Beschädigungen geschützt. Es ist deshalb grundsätzlich verboten, die Wiesen für Freizeittätigkeiten zu nutzen. Weder für Picknicke noch für Mittagsschläfchen, Zwiegespräche oder spielende Hunde. Deshalb gibt es unzählige Stühle und Bänke in den Parks, die die Liegeflächen ersetzen sollen. Um kontinuierlich darauf zu achten, dass das auch geschieht, sind täglich mehrere Parkwächter mit Trillerpfeifen im Einsatz. Sie haben die undankbare Aufgabe, all den Touristen, die diese Regel natürlich nicht kennen, hinterherzupfeifen und sie dazu zu bewegen, ihren gemütlichen Wiesenplatz zu verlassen. So wie Paula.

Wer in einem Café am Jardin du Luxembourg einkehrt, darf sich nicht wundern, wenn hier mehrheitlich Englisch mit den Gästen gesprochen wird. In einer der touristischsten Ecken von ganz Paris sind die Kellner vor allem eins: schnell und genervt. Da ist es vollkommen egal, ob Mademoiselle gut oder sogar besser Französisch spricht. Sie wird allein aufgrund ihres Äußeren als Touristin wahrgenommen und entsprechend behandelt.

Auch dass Paula an einem Samstagnachmittag in einem Stummfilm gelandet ist, überrascht keineswegs. Denn in Frankreich zeigen viele kleine Programmkinos regelmäßig, insbesondere nachmittags am Wochenende, Retrospektiven von wichtigen französischen und internationalen Regisseuren. Das entspricht dem goût (Geschmack) einer Nation, die mehr will als die aktuellen Blockbuster und Filmfestivalgewinner. Die Kinos können sich ein so exquisites Programm jedoch nur leisten, weil der Staat diesen Kultursektor großzügig unterstützt. Paulas Kinobesuch ist also nicht schiefgelaufen, sondern zeigt, wie vielfältig und speziell dieser Bereich in Frankreich sein will und kann.

Was können Sie besser machen?

Die unschöne Situation im Park hätte sich Paula ersparen können, wenn sie aufmerksam und in Ruhe das Drumherum wahrgenommen hätte. Da sie aber in Gedanken versunken war, ist ihr das kleine Hinweisschild einfach nicht aufgefallen. Unabhängig davon hätte sie natürlich trotzdem bemerken können, dass niemand außer ihr auf der Wiese lag und alle anderen sich auf den bereitstehenden Stühlen und Bänken eingerichtet hatten. Da sie es aber aus Deutschland gewohnt ist, jede Wiese in einem öffentlichen Park nutzen zu können, kam sie nicht auf die Idee, dass das in Frankreich anders sein könnte. Den Stummfilm hätte Paula vermutlich nicht ausgesucht, aber sie wollte sich auf den Namen des Regisseurs und ihr Gefühl verlassen. Umso überraschender und schöner wurde dann die Vorstellung.

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Der französische Film

Frankreich gilt als Geburtsstätte des Films und spielte die wohl bedeutendste Rolle bei der Entwicklung und Etablierung dieses Mediums. Am 28. Dezember 1895 führten die Brüder Auguste und Louis Lumière, beide Ingenieure aus Lyon, im Grand Café in Paris ihren ersten selbst gedrehten Film mit einem Cinématographe vor. Dieser Apparat war Filmkamera, Kopiergerät und Filmprojektor in einem und damit allen bisherigen Erfindungen überlegen. Als das Publikum die bewegten Bilder auf der Leinwand sah, die einen fahrenden Zug zeigten, sprangen etliche von ihren Stühlen auf und verließen den Saal, aus Angst überrollt zu werden. Diese Urvorführung wird gern als Geburtsstunde des Kinos bezeichnet und die Lyoner Brüder als die ersten Regisseure innerhalb der Filmgeschichte gefeiert.

Nach wie vor nimmt Frankreich in puncto Film eine Ausnahmestellung in Europa ein: Kein anderes Land produziert so viele Filme im Jahr und kein anderer Staat unterstützt die Filmproduktion so kontinuierlich. Nicht zuletzt deshalb, weil der französische Film einen wesentlichen Teil des nationalen Prestiges ausmacht. In der frühen Stummfilmzeit errichteten französische Unternehmen in ganz Europa Kinos und Tochtergesellschaften zur Verbreitung ihrer Filme. Mehrere neue Stilrichtungen des Films gingen von Frankreich aus. Allen voran die Nouvelle Vague, eine Generation von jungen Regisseuren wie Jean-Luc Godard, Claude Chabrol, François Truffaut und Eric Rohmer, die Ende der Fünfzigerjahre das französische Kino revolutionierten, indem sie mit neuen ästhetischen und technischen Mitteln eine »Poesie des Alltags« schufen. Sie etablierten den Ruf des Neuen Französischen Films. Als Auslöser gilt Truffauts »Sie küssten und sie schlugen ihn« (französischer Originaltitel: Les Quatre Cents Coups) aus dem Jahr 1959.

Nach wie vor genießt der französische Film in Frankreich einen hohen Stellenwert. Der Marktanteil an eigenen Produktionen liegt zwischen 35 und 50 Prozent, in Deutschland sind das nur rund 15 Prozent. Etwa 200 französische Filme werden im Jahr produziert. Jährlich fließen rund 700 Millionen in die Filmförderung, das ist dreimal so viel wie in Deutschland. Ein Teil dieser Gelder generiert die Filmindustrie durch den Verkauf von Kino-Eintrittskarten: Mit einem Aufschlag von elf Prozent auf jede Eintrittskarte, auch die für US-Blockbuster-Vorstellungen, werden die Filme der nationalen Regisseure subventioniert.

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