16. Wollen oder müssen

Wie Eva auf der Toilette Türkisch lernt

»Halt mal an«, sagte Eva, »ich muss mal.« Manni kannte das schon. »Gerade mal ’ne Stunde aus Paris raus und schon ...« Paula mischte sich von hinten ein: »Ich muss auch.« Und Anton rief: »Ja, cool, ich will Chips.« »Nix da!« Manni war wieder ganz Familienoberhaupt hinter seinem Steuer. »Ich halte am nächsten Parkplatz, da gibt’s bestimmt auch Toiletten. Große Rastplatzpause mit Essen gibt’s nachher. Schließlich wollen wir auch noch mal ankommen!« Es dauerte dann natürlich doch viel zu lange, bis es soweit war, und Manni die romantisch anmutende Ausfahrt Aire de Beauville als Parkplatz mit einem Toilettenhäuschen identifizierte und anpeilte. Das Ganze machte einen etwas düsteren Eindruck, doch Eva und Paula sprangen eilig aus dem Wagen, sie mussten dringend. Das WC war für den gemeinen Deutschen ein Ort der Ruhe und Gemütlichkeit, auf so einer Parkplatztoilette musste man natürlich Abstriche machen. Doch was die beiden hier vorfanden, überstieg ihre Vorstellungskraft. »Da ist ja gar keine Toilette«, wunderte sich Eva. Paula hatte das schon einmal erlebt. »Man muss im Stehen pinkeln und die Füße auf die weißen Vorrichtungen stellen«, erklärte sie ihrer Mutter die »türkische Toilette«. Eva war nicht gerade begeistert. »Du musst ziemlich in die Hocke gehen und gut zielen, sonst spritzt das wieder hoch«, erklärte Paula, noch während sie die Tür hinter sich schloss. »Na toll, das ist ja die reinste Akrobatik«, beschwerte sich Eva auf der anderen Seite der Wand. Paula musste grinsen. Tja, Mama, so sehen Abenteuer aus, dachte sie sich. »Gibt’s bei dir Klopapier?«, rief sie zu ihrer Mutter hinüber, da hörte sie einen lauten Schrei, gefolgt von einem »Igitt!«. Jetzt wäre Paula fast selbst ausgerutscht. Als sie aus ihrer Toilette schaute, kam ihr schon ihre Mutter entgegen. Sie war von den Füßen aufwärts bis zu den Knien pitschnass. »Diese Spülung ist einfach angegangen, obwohl ich noch gar nicht ...«. »Ist doch nur Wasser«, versuchte Paula sie zu beruhigen. »Wer weiß, wenn die schon solche Toiletten haben, womit die dann spülen!« Eva war total aufgelöst. »Ich bin klitschnass!« Paula durchsuchte die Toiletten nach Papier, ohne Erfolg. Am Waschbecken gab es nur Heißluftautomaten. »Du könntest deine Hose ausziehen und hier trocknen«, schlug Paula vor. Doch die Waschbecken waren für Männer und Frauen gleichermaßen und nicht wirklich blickgeschützt. Eva schüttelte entschieden den Kopf: »Ich zieh mich doch nicht einfach so auf einer Autobahntoilette aus! Am Ende bekomme ich eine Anzeige wegen versuchter Prostitution«, schimpfte sie. Paula musste sich schwer zurückhalten, um nicht laut loszulachen. Da hörte man auch schon die Hupe vom Campingbus. Manni war ungeduldig. Eva ging wütend auf das Auto zu, Paula folgte ihr. »Schau dir mal diese Sauerei an«, schimpfte Eva, kaum hatte sie die Tür geöffnet. Manni sah nichts. »Na hier, ich bin klitschnass!« Anton konnte sich hinten ein Lachen nicht verkneifen und die beiden Geschwister hielten sich eine Decke vors Gesicht, um nicht loszuprusten. »Ich muss dringend auf eine Raststätte. So fahre ich bestimmt nicht den ganzen Weg!« »Aber es ist doch Sommer, das trocknet doch sofort wieder«, entgegnete Manni pragmatisch. »Ja, meinst du, ich bin überhaupt noch dazu gekommen, mein Geschäft zu verrichten, nachdem diese Fußklospülung da einfach angegangen ist?« Manni schaute sie irritiert an. »Fußklospülung? Hab ich was verpasst?« Paula und Anton konnten sich vor Lachen nicht mehr halten. »Ha, Manni, das hast du! Du hast wirklich was verpasst, geh doch auch mal aufs Klo, bitte!« Eva war auf Hundertachtzig. »Nee, danke. Ich fahr dich zu deiner Raststätte«, erwiderte er geschlagen.

Nach vierzig Kilometern kam sie endlich. Die Familie stieg aus, allen voran Eva. Wortlos eierte sie zur Tankstelle und folgte dem Toilettenschild. Dann stand sie vor einer einzigen Toilette und die war verschlossen. Empört wandte sie sich ans Personal hinter der Kasse: »Toilet women?« »Oui, oui.« Man zeigte auf das Schild. Eva wartete. Sie pochte genervt an die Tür. Anton kaufte sich Chips, Paula eine Zeitschrift, Manni schaute sich bei den Straßenkarten um. Eva hämmerte jetzt an die Tür: »Hallo?!« Die Familie war schon wieder ins Auto gestiegen, als die Tür endlich aufging und sich ein überdimensional großer und breiter Mann herauszwängte, eine enorme Stinkwolke hinter sich zurücklassend. »Excusez-moi, Madame«, sagte er abwesend und schob Eva ein wenig zur Seite. »Toilet women?«, fragte sie erneut. Der Mann schaute sie fragend an. »No, no toilet women«, antwortete er dann. Eva hätte jetzt am liebsten losgebrüllt. Hier gab es nur eine einzige Toilette und das war die Männertoilette! Warum hatten denn die Frauen hinter der Kasse einfach gelogen? Wahrscheinlich war ihnen das, im wahrsten Sinne des Wortes, »scheißegal«. Na, ihr könnt mich alle mal, dachte sie sich, warf noch einen Blick zurück – niemand schaute – und verschwand auf der Herrentoilette. Das war wirklich eine dreckige Angelegenheit. Bremsspuren in der Schüssel, die Klobrille nass und dreckig, das Toilettenpapier lag in Fetzen auf dem feuchten Boden verteilt. Doch Eva war jetzt alles egal. Hauptsache Erleichterung.

Was ist diesmal schiefgelaufen? oder Betrachtungen eines stillen Ortes

À la turque heißen die Toiletten, die die Fischers auf dem Rastplatz vorgefunden haben. Doch die Türken wollen mit dieser Erfindung nichts zu tun haben und nennen sie à la grecque. Die Griechen wiederum behaupten, die Toiletten wären in Bulgarien erfunden worden. Und die Bulgaren haben von dieser Anschuldigung entweder noch nichts mitbekommen oder sie haben keinen schwarzen Peter mehr gefunden. Die Japaner nennen diese Toilette übrigens à la chinoise, was noch am einleuchtendsten ist, wenn man an Akrobatik und Schlangenfrauen denkt. Denn man muss schon ein wenig Übung haben, um mit diesen Toiletten zurechtzukommen. Was die Spülung angeht, hatte Eva einfach Pech. Denn die war kaputt und das kann schon mal passieren. So eklig und absurd uns diese Toiletten auch erscheinen mögen, haben sie doch den Vorteil, dass man dadurch, dass man nichts berühren muss, sich auch nicht dreckig machen kann. Das Wasser der Spülung war ganz bestimmt sauberes Wasser. Eva hätte sich davon nicht so schnell ins Boxhorn jagen lassen sollen.

Die Toilette an der Raststätte ist ein typischer Ort der Kulturunterschiede: Während man in Deutschland gesetzeshalber immer Herren- und Damentoiletten voneinander getrennt vorfindet, gibt es in Frankreich oft nur eine einzige Toilette für beide Geschlechter. Der Mann, der Eva da entgegenkam, wollte ihr nicht verbieten, auf die verstunkene Toilette zu gehen, sondern einfach nur mitteilen, dass dies die einzige und keine reine Damentoilette ist. Auch hinsichtlich der Sauberkeitsvorstellungen einer öffentlichen Toilette existieren deutliche Unterschiede zwischen den beiden Ländern: In Frankreich kann man des Öfteren böse Überraschungen erleben, dafür ist man in Privathaushalten meist umso penibler. Eine deutsche Bekannte berichtete, dass ihr französischer (Ex-)Freund ihr mitgeteilt hätte, ein Grund für ihre Trennung sei, dass sie den Klodeckel nicht nach jeder Benutzung wieder geschlossen habe. Das sei auch seiner Mutter sehr unangenehm aufgefallen ...

Das sind natürlich Extremfälle. Was man aber in Frankreich auf keinen Fall findet, sind die beliebten Hinweisschilder für Männer, sich doch bitte beim Urinieren hinzusetzen. Auch nach langwieriger Integrationsarbeit wird sich ein Franzose nur schwer durchringen, beim Pinkeln in die Hocke zu gehen. Das entspricht einfach nicht seiner Vorstellung von Männlichkeit. Auch oder gerade nicht zu Hause auf der heimischen Toilette. Das »stille Örtchen«, auf das sich der eine oder andere gerne mal zum Lesen zurückzieht, hat in Frankreich nichts von dieser Gemütlichkeit. Doch trotzdem, so zeigt unsere private Studie, gehen Franzosen gern zur Toilette, schließlich sagen sie »J’ai envie d’aller à la toilette« (Ich möchte/Ich habe Lust zur Toilette zu gehen) – von »müssen« keine Spur!

Fettnaepfchenfuehrer Frankreich
eBook_FNF_Frankreich_Cover.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-1.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-2.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-3.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-4.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-5.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-6.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-7.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-8.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-9.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-10.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-11.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-12.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-13.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-14.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-15.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-16.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-17.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-18.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-19.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-20.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-21.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-22.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-23.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-24.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-25.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-26.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-27.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-28.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-29.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-30.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-31.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-32.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-33.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-34.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-35.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-36.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-37.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-38.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-39.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-40.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-41.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-42.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-43.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-44.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-45.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-46.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-47.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-48.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-49.html
eBook_FNF_Frankreich_Innenteil-50.html