39. Verlan – wer was?
Wie Paula sich in der Buchstabensuppe verheddert
Juliana sah aus wie eine kolumbianische Tänzerin. Sie trug riesige Kreolen, hatte verschieden lange Ketten und ein glitzerndes, buntes Tuch um den Hals. Paula war beeindruckt. »Ça te plaît?« (Gefällt es dir?), fragte Juliana, als Paula in ihr Zimmer kam. »Trop cool!« (Echt cool!) Die beiden Mädchen waren allein zu Hause. Julianas Eltern hatten sich fürs Wochenende aufs Land zurückgezogen und endlich hieß es sturmfrei. Und das wollten sie ausnutzen. Paula fand sich plötzlich ganz schön langweilig in ihrem Jeans-T-Shirt-Look und fragte Juliana, ob sie noch etwas für sie zum Anziehen hätte. Als die beiden Mädchen schließlich die Wohnung verließen, sah das Bad aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, und der teure Gin von Julianas Vater hatte für den Aperitif herhalten müssen. Heute wollten die beiden Spaß! Es war schließlich Samstag und sie waren in Paris. Das erste Ziel war die Party von François, ein langweiliger Klassenkamerad, dessen Eltern ebenfalls verreist waren und der die halbe Schule in den Partykeller eingeladen hatte. Allerdings wohnte François in Saint-Germain-en-Laye, nicht weit von der Schule, und sie hatten eine Stunde mit dem RER vor sich. Als sie den Weg zum Haus hinaufliefen, war Paula fast sprachlos. Was für ein Anwesen! Der Garten war erleuchtet, der Pool auch und das Haus selbst war einfach nur riesig. Schön oder hässlich, es war gigantisch. »Et alors?« (Na, und?), sagte Juliana und hakte sich bei Paula unter. Sie würden nur so lange bleiben, wie sie wollten. Ganz Paris lag ihnen heute schließlich zu Füßen. Der Partykeller tobte, Juliana traf gleich mehrere Leute und Paula setzte sich mit einem Cocktail auf eines der vielen weißen Sofas. Wahnsinn, dieser Luxus!
»Pas mal, la ›cinepi‹.« (Nicht schlecht, die »cinepi«.) Ein dunkelhaariger Typ mit Sonnenbrille hatte sich zu Paula aufs Sofa gesetzt. »Comment?« (Wie bitte?) »Vâchement cool, la piscine!« (Tierisch cool, der Swimmingpool!) »Ah, oui!« »Je suis Michel. T’as envie d’un ›tarpé‹?« (Ich bin Michel. Hast du Lust auf ein »tarpé«?), fragte er Paula. »Quoi?« (Was?) Der Typ reichte ihr seinen Joint und Paula, die eigentlich nie rauchte, nahm vorsichtig einen kleinen Zug. Vor diesem James Dean wollte sie auf keinen Fall wie die langweilige Austauschschülerin wirken. Und heute war Party angesagt! »Ça te plait, la ›teuf‹?« (Gefällt dir die »teuf«?) Irgendwie kam und kam Paula nicht mit. Lag das an dem Zeug oder verstand sie plötzlich kein Französisch mehr? Und wo um Himmels Willen steckte Juliana? »Désolée, il faut que je cherche ma copine!« (Entschuldige, aber ich muss meine Freundin suchen!) »C’est pas la ›meuf‹, là-bas?« (Ist das die »meuf« da drüben?) Paula verstand schon wieder nichts. Wie der redete, mit seiner albernen Sonnebrille. Das war ihr alles zu blöd, sie stand einfach auf, hauchte ein »Salut« in seine Richtung und hoffte, der würde ihr heute nicht noch einmal über den Weg laufen.
Juliana stand umzingelt von drei Jungs in der Mitte des Kellers und lachte laut und herzhaft. Paula beneidete sie um ihre Lockerheit, ihre Schlagfertigkeit und die gute Laune, die sie immer ausstrahlte. Danach konnte man fast süchtig werden. »Ça va?« Paula mischte sich in die Gruppe, ihr Kopf drehte sich leicht, aber angenehm, und Juliana stellte sie stolz als ihre beste Freundin vor. Das ging runter wie Öl. Der Abend hielt noch einiges für sie bereit, das fühlte Paula jetzt und hatte den komischen Typen mit seinen noch komischeren Begriffen schon fast wieder vergessen. Juliana schlug vor, die Party zu verlassen, um noch tanzen zu gehen. Sie wusste von ein paar Freundinnen, dass die in einem angesagten Schuppen in der Rue Oberkampf waren. Paula wollte unbedingt mit. Die schlechte Laune hatte sie bei dem Typen und seiner blöden Geheimsprache gelassen. Kurz darauf tanzten die beiden umzingelt von jungen Männern und ließen sich einen Drink nach dem anderen spendieren. Wie gesagt, ganz Paris lag ihnen zu Füßen!
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Saint-Germain-en-Laye ist einer der reichsten Vororte von Paris, eine Stadt im Westen der Hauptstadt in der Region Île-de-France. Hier wohnen mehrheitlich Diplomaten, Ärzte und Anwälte. Und eben viele Familien, die ihre Kinder auf die internationale Schule schicken, damit sie möglichst viele Fremdsprachen lernen und für die globale Geschäftswelt gerüstet sind. Daher erstaunt es überhaupt nicht, dass der Partykeller luxuriös und großzügig ausgestattet ist. So lebt man in dieser Gegend und das zeigt man gern. Die Beleuchtung rund um das Haus dient nicht nur dem Schutz vor Diebstahl, sondern ist durchaus auch dafür da, um Eindruck zu schinden. Paula war nicht nur dadurch verunsichert. Der Typ, der sie angesprochen hatte, hat mit Worten um sich geworfen, die Paula einfach nicht kannte. Kein Wunder, handelte es sich doch um Begriffe aus einer ganz eigenen Jugendsprache, dem sogenannten Verlan. Als Ausländer muss man diesen Slang richtiggehend lernen, wie ein zweites Französisch, will man sich sicher darin bewegen.
Verlan wird in Frankreich seit den Sechzigerjahren vor allem unter Jugendlichen gesprochen. Inzwischen ist es eine weit verbreitete und beliebte Form der Umgangssprache, die keineswegs in den banlieues, den Vororten von Paris, erfunden wurde, wie immer wieder behauptet wird, sondern eine lange Tradition in ganz Frankreich hat. Schon im 15. Jahrhundert wurde das Prinzip der »Buchstabenverdrehung« verwendet. Heute hat es seinen festen Platz in der Popkultur, unter Jugendlichen aus allen Schichten und sogar in den Medien. Man kommt also kaum noch drum herum.
Das Grundprinzip des Verlan beruht darauf, die Silben eines Begriffs zu vertauschen und so ein neues Wort zu schöpfen. Sogar die Bezeichnung »Verlan« ist schon in Verlan verfasst: Sie kommt nämlich vom französischen à l‘envers (umgekehrt). Die Schwierigkeit für das Verständnis des Verlan besteht darin, nachzuvollziehen, welche Silben verdreht wurden. So wird aus der métro dann tromé und aus bizarre (komisch) zarbi. Eine andere Verdrehungsmethode ist die Folgende: Man nimmt den ersten und letzten Konsonanten eines Wortes, vertauscht diese beiden und setzt ein »eu« dazwischen. So zum Beispiel bei femme (Frau), sodass am Ende meuf herauskommt. Oder auch fête, die durch dieses Prinzip zu teuf wird. Die ursprünglichen Begriffe stammen oft auch schon aus der Umgangssprache, was das Verständnis natürlich noch erschwert. Der junge Mann, der Paula etwas zu rauchen angeboten hat, ging von dem Wort pétard aus, das umgangssprachlich für Joint steht. Daraus wurde dann tarpé. Genauso wie der Begriff mec für »Typ«, aus dem dann keum wird. Dieses Spiel kann unendlich fortgeführt werden.
Was können Sie besser machen?
Paula hätte einfach die Begriffe erfragen können, die sie nicht kannte, um sich deren Bedeutung erklären zu lassen. Statt wegzurennen, hätte sie vielleicht mit dem geheimnisvollen Sonnebrillenträger am Ende sogar ein charmantes Zwiegespräch führen und nebenbei noch etwas lernen können. Aber der Abend war ja noch jung …