42. Zäpfchen, Saft und Babypopel
Katja lernt, was Deutschsein heißen kann
Die Idee, auf einem Friedhof spazieren zu gehen, fand Paula irgendwie sentimental. Wahrscheinlich würden sie da lauter alte Leute treffen, die ihr Efeu pflegten. Aber eigentlich war es ihr auch egal, wo sie sich mit Katja traf. Es war immer lustig und überraschend. Noch überraschender fand sie es allerdings, als plötzlich eine Gruppe junger Leute um die Friedhofsecke kam, die alle ungefähr Paulas Alter hatten. Sie waren ziemlich modisch gekleidet, redeten laut und überholten sie. Ohne die Deutsche eines Blickes zu würdigen, gingen sie an ihr vorbei durch das Friedhofstor, an dem Katja bereits auf sie wartete. »Wahrscheinlich pilgern sie zum Jim-Morrison-Grab«, meinte Katja, die Paulas verwundertem Blick gefolgt war.
Eine Zeitlang schlenderten sie schweigend durch die Grabreihen, beide wurden sehr nachdenklich. »Es ist schon merkwürdig, wie sehr man mit dem Land seiner Herkunft in Verbindung gebracht wird. Ich frage mich, ob man das jemals hinter sich lassen kann«, sagte Paula in Gedanken versunken. »Wozu denn?« Katja war ebenfalls nachdenklich geworden. »Wichtiger ist doch, dass es positive Dinge sind, die einen ausmachen. Meistens hat das ja sowieso nichts mit den Vorurteilen zu tun, die andere dir gegenüber haben.« Katja schien schon öfter darüber nachgedacht zu haben. »Wie meinst du das genau?«, wollte Paula wissen. »Die Franzosen haben ein merkwürdiges Bild von den Deutschen. Mir fällt ad hoc ein Erlebnis ein, das ich mal hatte.« Paula konnte von Katjas Geschichten nicht genug bekommen. »Schieß los!«, sagte sie.
»Also, jedes Mal, wenn wir in den Urlaub fahren, wird unsere kleine Tochter krank.« Jetzt konnte Katja darüber lachen, die Kinder waren in der Ecole maternelle (Kindergarten und Vorschule) und sie saß gemütlich mit Paula beim Thermoskannenkaffee in dickem Schal und Mütze auf einer Friedhofsbank. »Wir kamen aus einem Urlaub zurück und wollten gleich weiter zu Matthieus Bruder André und dessen Familie. Im Flieger nach Paris bekam die Kleine Durchfall, ich verbrachte den Flug praktisch vor und in der Toilettenkabine. Trotz des Kleinkindes in meinen Armen wurde ich argwöhnisch beäugt, der Eingang zum Cockpit befand sich schließlich gleich neben der Toilette. Aber die einzige Form von Terrorattacke ging von dem Gestank der Windeln aus.« Sie musste lachen und Paula lachte mit. »Als wir dann bei Matthieus Bruder ankamen, hatte ihr die Klimaanlage im Flugzeug arg zugesetzt, sie hustete und hatte eindeutig Bronchitis. Andrés drei Kinder hatten sich sehr auf die halb-französische Cousine gefreut, die jetzt allerdings mit übelster Laune nur noch auf dem Arm getragen werden wollte. Verständlich. Aber so ein kleines heulendes und schreiendes Kind kommt gar nicht gut an. André und seine Familie wohnen in Buc, das liegt in der Nähe von Versailles. Die etwas noblere Elite von Paris hat sich hier ihre Vorstadthäuschen erkämpft – mit Garage, Garten und Heckenrosen.« »Ja, ich kenne Buc«, warf Paula ein, »zumindest weiß ich, wo das ist.«
»Dort kommt man sich vor wie in den Staaten: weit und breit keine Geschäfte, Kneipen oder öffentliche Einrichtungen. Selbst zum Briefkasten muss man mit dem Auto fahren. Schließlich fuhr mich meine Schwiegermutter zur Apotheke, während sich Matthieu zu Hause mit dem Rest der Familie schon mal auf die gemeinsame Zeit einstimmte. Warum wir die Aufgaben nicht anders verteilt hatten, fragte ich mich, als ich der Apothekerin gegenüberstand und ihr versuchte zu erklären, was meine Tochter denn nun für Krankheitssymptome aufwies. Fieberzäpfchen, das heißt suppositoire. Doch die Apothekerin wollte das Krankheitsbild genau beschrieben haben. Ich fing also an zu erklären: Durchfall ... – bei diesem Wort half mir meine Schwiegermutter –, Husten, Bronchitis. ›Elle a un nez qui coule?‹ (Läuft auch die Nase?) Ein bisschen. ›Avez-vous déjà utilisé un mouche-bébé?‹ (Benutzen Sie bereits ein mouche-bébé?) Mouche heißt Fliege. Die Babyfliege? Für die Nase? Ich schaute sie ratlos an, schüttelte den Kopf. Sie blickte mit großen Augen zurück: ›Vous n’avez pas de mouche-bébé?‹ (Haben sie gar kein mouche-bébé?) Die Frage klang wie: ›Wie, Sie haben gar kein fließendes Wasser zu Hause?‹ und ärgerte mich. Dabei überschlug sich die Apothekerin in Freundlichkeit und lächelte mich gleichzeitig mitleidig an. Ohne zu zögern holte sie jetzt eine Schachtel aus dem Regal, öffnete sie und zeigte stolz eine Plastikapparatur. Dort war an einer Saugvorrichtung ein Plastikschlauch angebracht, und durch einen Unterdruck konnte man damit Babys und Kleinkindern Popel aus der Nase ziehen. ›Merci‹, sagte ich freundlich und versuchte, höflich zu bleiben. ›Je n’ai pas besoin d’un mouche-bébé.‹ (Vielen Dank, aber ich brauche kein mouche-bébé). Die Apothekerin ließ das nicht gelten. ›Mais tous les enfants en France ont un mouche-bébé. C’est vraiment pratique!‹ (Aber alle Kinder in Frankreich haben ein mouche-bébé. Das ist wirklich praktisch!) Sie schaute jetzt Verständnis heischend zu meiner Schwiegermutter, die bestätigend nickte. Ich merkte, wie sich unterschwellig Wut in mir aufbaute: Da hatte meine Tochter Durchfall und Bronchitis und man versuchte mir mit allen Mitteln, einen Haufen Plastik zur Nasenpopelentfernung zu verkaufen. ›J’avais eu un mouche-bébé, mais je l’ai jeté à la poubelle.‹ (Ich hatte so ein Ding und habe es in den Mülleimer geworfen.) Ich hoffte, dass das Thema damit erledigt war. Doch weit gefehlt! ›C’est dommage, parce qu’il n’y a pas mieux.‹ (Das ist schade, denn es gibt nichts Besseres.) Wieder schaute sie meine Schwiegermutter an, als suche sie Hilfe, und meine Schwiegermutter wiederum schaute mich an, als sei ich ein kleines bockiges Kind. ›Ma pédiatre disait que ce n’était pas bien de l’utiliser.‹ (Meine Kinderärztin hat mir von dem Gebrauch abgeraten, das sei sehr unangenehm fürs Kind.) Das stimmte auch! Wir hatten so eine ähnliche Vorrichtung, ohne Schlauch und den ganzen Klimbim, aber vom Prinzip her dasselbe. Meine Kinderärztin in Deutschland zeigte mir, wie man Nasenschleim ausstreichen kann, indem man mit den Fingern von der Stirn die Nase des Kindes bis nach unten gleitet. Das mal am Rande bemerkt. Die Apothekerin fühlte sich jetzt anscheinend in ihrer Apothekerinnenehre gekränkt. Während sie ihre Freundlichkeit noch steigerte, wurde ich immer unfreundlicher und ungeduldiger. ›Peut-être‹, sagte ich gereizt, ›mais je ne suis pas Française, alors ...‹ (Vielleicht, aber ich bin keine Französin, also ...) Darauf hatte die Dame im Kittel nur gewartet, schließlich hatte sie schon an meinem Akzent gehört, dass ich keine Französin war. ›Ah, vous n’êtes pas Française, alors, vous venez d’où?‹ (Ah, Sie sind keine Französin. Woher kommen Sie denn?) Meine Schwiegermutter lächelte. ›D’Allemagne‹ (aus Deutschland), antwortete sie stellvertretend für mich. Es klang wie eine Entschuldigung. ›Ah, d’Allemagne‹, antwortete die Apothekerin hocherfreut. ›Ça m’étonne! Vous êtes tellement naturelles et bio là-bas. Et vous aimez les choses simples. Ça m’étonne vraiment que vous n’aimez pas le mouche-bébé en Allemagne.‹ (Das wundert mich! Sie sind doch derart natürlich und auf Bio bedacht da drüben. Und Sie mögen doch einfache Dinge. Es wundert mich wirklich, dass Sie da nicht auch den mouche-bébé lieben.) Aus diesem Satz sprach hinter der freundlichen Fassade eine derartige Überheblichkeit, dass mir der Kragen platzte: ›Ça me fait vraiment chier que vous essayez de me vendre ce truc en plastique et je dis que je ne le veux pas! J’ai besoin de quelque chose contre la bronchite, un sirop.‹ (Es kotzt mich an, dass sie mir hier die ganze Zeit etwas zu verkaufen versuchen, was ich nicht haben will! Ich brauche etwas gegen Bronchitis, einen Saft, und keinen Plastikschlauch gegen Babypopel!)
Jetzt fühlte ich mich besser, auch wenn mir noch mehr Mitleid und Ablehnung entgegenschwappten. Ich ahnte, dass ich den Kampf gegen die Apothekerin schon lange verloren hatte. Meine Schwiegermutter und die Apothekerin wechselten jetzt auch schweigende Blicke und die Apothekerin antwortete ebenso freundlich wie zuvor: ›En France, c’est interdit de vendre du sirop pour les bébés. Ça ne se fait plus.‹ (In Frankreich sind mittlerweile alle Hustensäfte für Säuglinge und Kleinkinder vom Markt genommen worden. Die dürfen nicht mehr verkauft werden.) Ausgerechnet Hustensaft! Das nahmen doch alle Kinder, da gab’s doch rein pflanzlichen. Diese Apothekerin tat ja gerade so, als ob der Rest der Welt in Dummheit verkam! ›Nous, on vend les suppositoires contre le mal à la gorge.‹ (Wir hier in Frankreich verkaufen Zäpfchen gegen Halsschmerzen.) Aha, Zäpfchen gegen Halsschmerzen, das hatte ich auch noch nie gehört. ›Okay‹, sagte ich, ›geben Sie mir diese Zäpfchen und welche gegen Fieber.‹ Ich wollte hier bloß noch raus. Denn gegen diese Waffen der Freundlichkeit kam ich ja doch nicht an. Mit jedem Satz wurde ich nur unfreundlicher und genervter und bestätige damit nur weitere Vorurteile gegenüber den Deutschen. Von denen ich jetzt ahnte, dass sie ganz schön tief saßen. Am Ende rang ich mir noch ein halbwegs freundliches Merci, au revoir! ab und fragte mich, wie man sich ausgerechnet mit einer Apothekerin so streiten konnte. Eins wusste ich sicher: In diese Apotheke würde ich nie wieder einen Fuß setzen. Im Auto sagte ich zu meiner Schwiegermutter: ›Elle était insupportable. Elle m’a perdu comme cliente.‹ (Diese Frau ist unerträglich. Sie hat mich als Kundin verloren.) Meine Schwiegermutter warf mir einen verständnislosen Blick zu und schwieg höflich.«
Paula schüttelte den Kopf. Jetzt waren sie an Jim Morrisons Grab angekommen. Das war unschwer daran zu erkennen, dass eine Horde pubertierender Jungs und Mädels davor saß und weinend »This Is The End« aus einem Ghettoblaster hörte, während sie einander fest an den Händen hielten.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Hier treffen verschiedene Höflichkeitsvorstellungen und natürlich Vorurteile aufeinander. Die Apothekerin war wahrscheinlich selbst noch nie in Deutschland und hat ihre Vorurteile, die es in dieser Form in Frankreich nach wie vor gibt (genauso übrigens wie wir uns »den Franzosen« stereotyp vorstellen), anhand von Katja bestätigt gesehen. Deutsche essen Bionahrung, was so viel heißt wie verschrumpeltes Essen. Sie machen einen auf natürlich, sind also einfach in ihrer ganzen Art, schminken sich kaum, entfernen sich nicht die Haare, kleiden sich wenig elegant und sind kulturell noch nicht da, wo die Franzosen sind ...
Freundlichkeit und Höflichkeit werden in Frankreich besonders groß geschrieben und gelten als positive Charaktereigenschaften. Wer freundlich bleibt, ist praktisch unantastbar. Auch wenn er oder sie sich dabei bis hin zur kompletten Naivität verstellen muss. Wer nicht mehr freundlich ist und sich gehen lässt, der lässt seinen »animalischen Trieben« freien Lauf und hat damit schon verloren. Höflichkeit und Freundlichkeit können Franzosen, besonders Französinnen, durchaus als Waffe einsetzen.
Die Apothekerin hat zunächst nur helfen wollen. Wenn man einer französischen Apothekerin von einem kranken Kleinkind erzählt, dann versucht sie automatisch, den Arzt zu ersetzen und in diesem Fall die Mutter mit der »Grundausstattung« zu versorgen, um ihr dadurch eine Sicherheit zu geben. Dass Katja diese »Grundausstattung« und damit die gesamte Elternschaft Frankreichs in Frage stellt, kann sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Hustensaft für Babys und Kleinkinder ist übrigens tatsächlich mittlerweile umstritten und kommt in Kinderkliniken auch in Deutschland kaum noch zum Einsatz.
Was können Sie besser machen?
In Deutschland ist es genau umgekehrt: Wer unfreundlich ist, hat meistens recht. Überspitzt formuliert natürlich. Ob das der Busfahrer oder die Kassiererin ist – wenn jemand unfreundlich wird, schüchtert er damit den anderen ein. In Frankreich funktioniert das nicht so. Wenn jemand unfreundlich wird, ist es eher ein Zeichen dafür, dass er die Contenance verliert und sich dem Gespött preisgibt. Wenn man das weiß, kann man sich vielleicht in manchen Situationen ein wenig besser zusammenreißen und versuchen, höflich zu bleiben, auch wenn einem innerlich der Kragen platzt. Am besten ist es, sich nicht auf Grundsatzdiskussionen zum Thema »Wer ist besser?« einzulassen. Katja hätte auf diese mouche-bébé-Diskussion einfach nicht einsteigen müssen.
Die Franzosen meinen, sie seien den Deutschen überlegen, und die Deutschen finden im Gegenzug die Franzosen arrogant und eitel. Ganz wird man diese Vorurteile nicht aus der Welt schaffen können, aber man kann sein Gegenüber mit untypischen Reaktionen überraschen. Das kann sogar noch mehr Spaß machen und befriedigender sein, als wütend zu werden.