11. Nicht Fisch, nicht Fleisch
Warum die Fischers und die Bouchards am gleichen Tisch doch nicht zusammen essen
Nachdem alle in den vielen Sesseln des Salons Platz genommen hatten, begann eine etwas schwierige Kommunikation, bei der Paula immerzu übersetzen musste. Sie saß praktisch in der Mitte und gleichzeitig zwischen den Stühlen. Die Herzlichkeit und Offenheit ihrer Eltern stand der etwas distanzierten und strengen Art ihrer Gastfamilie gegenüber. Sie fragte sich, warum ihre eigentlich etwas biederen Eltern in diesem Ambiente plötzlich wie Hippies wirkten. Doch nicht nur, weil sie keine Schuhe anhatten. Ihre ganze Art, die sie immer als angenehm empfunden hatte, wirkte zwischen den schweren Louis-quartorze-Möbeln und durch »die Brille« der Bouchards auf seltsame Art hilflos und einfach. Bernard begann, als Herr des Hauses, eine Konversation »Hatten Sie denn eine gute Fahrt?« »Ja, ja, schon«, begann Manni eifrig, »aber der Verkehr hier in Paris, da wird man ja wahnsinnig! Übersetz doch mal: Bei uns in Deutschland fahren die Leute viel disziplinierter. Die Franzosen fahren wie die Wilden!« Manni ereiferte sich, Paula lächelte ihn an und übersetzte: »Oui, merci, ils sont bien arrivés, il y avait un grand embouteillage, comme toujours.« (Ja, danke, sie sind sehr gut angekommen, es gab einen großen Stau, wie immer eben.) »Oui, oui, ça c’est Paris« (Ja, ja, das ist Paris), lächelte Bernard gelassen, »toujours embouteillé.« (immer verstopft.) »Was hat er gesagt?«, fragte Manni. »Er kann euch gut verstehen«, übersetzte Paula absichtlich etwas falsch. »Paris ist immer verstopft. Aber man gewöhnt sich dran.« »Da könnte ich mich nie dran gewöhnen«, entgegnete Manni. »Frag ihn doch mal, wie lange er so jeden Tag zur Arbeit fährt.« Während Paula noch überlegte, wie sie die etwas unangenehme und zu direkte Frage ins Französische übersetzen könnte, kam ihr Claudine zuvor: »Ist das nicht ein merkwürdiges Wetter?«, sagte sie lächelnd »Sonne, Regen und für die Jahreszeit viel zu kalt.« Paula nickte und übersetzte. Eva nickte auch höflich. »Oui, Oui«, sagte sie. Dann herrschte ein kurzes Schweigen, das Madame Bouchard mit einem Excusez-moi unterbrach: »Je vais regarder dans la cuisine. Asseyez-vous à table, s’il vous plâit!« (Entschuldigen Sie mich. Ich sehe kurz in der Küche nach dem Essen. Nehmen Sie doch bitte schon am Tisch Platz!)
Alle erhoben sich, um am Tisch Platz zu nehmen. Da kam Madame Bouchard auch schon mit der Vorspeise. Monsieur Bouchard füllte edle kleine Gläser mit Wein aus einer ebenfalls kleinen Flasche Weißwein und seine Frau reichte den Antipasti-Teller herum. »Was ist das?«, fragte Eva ihre Tochter leise. »Das ist Entenleberpastete«, sagte Paula. »Wirklich sehr lecker. Probier doch wenigstens mal!« Doch Eva reichte den Teller weiter. »Vous ne vous servez pas?« (Möchten Sie nicht?), fragte Madame Bouchard erstaunt. »Non, merci. Je suis Vegetarierin. Was heißt denn Vegetarierin?«, fragte Eva ihre Tochter. Alle Augen lasteten nun auf Paula, während sie kurz überlegte und etwas verlegen »végétarienne« sagte. »Ça veut dire que ta mère ne mange pas de la viande du tout?« (Heißt das, dass deine Mutter gar kein Fleisch isst?), fragte Monsieur Bouchard. »Oui«, entgegnete Paula etwas kleinlaut. Ihre Gasteltern fingen sofort an zu überlegen, was denn Paulas Mutter überhaupt essen könne. »Je vais faire une omelette« (Ich werde ein Omelette machen), sagte Claudine und stand sofort auf. »Nein, nein«, sagte Eva, »bitte keine Umstände! Essen Sie doch erst mal!« Doch Claudine war schon auf dem Weg. Paula hielt sie auf. »Je vais le faire, Claudine« (Lassen Sie mich das machen, Claudine), sagte sie und die Dame des Hauses setzte sich wieder. »Ich kann dir doch helfen«, sagte Eva und wollte schon aufstehen. Doch Paula winkte schnell ab: »Bleib lieber sitzen.« Sie verschwand leicht genervt in der Küche und die Mutter tat ausnahmsweise, was ihre Tochter sagte. Während Paula in der Küche stand und das Omelette für ihre Mutter zubereitete, fingen die anderen an zu essen. Nur Eva wartete.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Sicher hat Paula es versäumt, ihrer Gastfamilie zu erzählen, dass ihre Mutter Vegetarierin ist. Aber auch wenn sie daran gedacht hätte, hätte das an der Menüfolge wenig geändert. Für Vegetarier ist eine Reise nach Frankreich wirklich kein kulinarischer Genuss, denn ein Essen ohne Fleisch existiert praktisch nicht, und niemals hätte die Familie Bouchard Eva zuliebe auf ihre foie gras und ihren Braten verzichtet. Das Konzept des Vegetariers ist für Franzosen sehr fremd. Bestimmte Speisen bei einer Essenseinladung abzulehnen, gilt als unhöflich, außer jemand ist allergisch oder krank. Sich zum Vegetarier zu erklären, hält der überwiegende Teil der Franzosen für übertriebenes Gehabe. Als Vegetarier muss man sich in Frankreich an Käsebrot, Fisch (wenn man denn Fisch isst) und Beilagen halten.
Schon bei den alten Ägyptern galt die Leber von Gänsen und Enten als Delikatesse, und so bildete sich der Brauch, diese Tiere mit speziellem Futter so weit zu stopfen, dass sich die Leber von den üblichen etwa 300 Gramm auf bis zu 1.000 oder 2.000 Gramm vergrößert. Durch das Römische Reich verbreitete sich die Technik bis nach Frankreich, das heute als Heimatland der foie gras (der »fetten Leber«) gilt. Den fünf bis sechs Monate alten Enten oder Gänsen wird mit Hilfe eines Rohres ein Futterbrei aus 95 Prozent Mais und fünf Prozent Schweineschmalz direkt in den Magen gepumpt, die Leber verfettet. 80 Prozent der Weltproduktion der foie gras kommt heute aus Frankreich. 2005 wurde die Stopfleber von der französischen Nationalversammlung in einem Zusatz zum Landwirtschaftsgesetz zum »nationalen und gastronomischen Kulturerbe« erklärt und damit von Tierschutzgesetzen ausgenommen. Foie gras gilt als typische Vorspeise zu besonderen Anlässen, z.B. beim Weihnachtsessen.
Was können Sie besser machen?
Wenn Sie als Vegetarier in Frankreich zum Essen eingeladen sind, ist es gut, dies vorab dem Gastgeber mitzuteilen. Man wird sie dann genau fragen, was Sie essen und was nicht. Sie werden den Koch oder die Köchin des Hauses mit dieser Nachricht vermutlich in ein Dilemma stürzen, denn viel bleibt praktisch nicht mehr übrig – außer Beilagen. Und vielleicht Fisch. Sagen Sie unbedingt, wenn Sie auch keine Schnecken, keinen Hummer, keine Austern oder dergleichen essen. Wahrscheinlich kommt dann, aus Sicht des Kochs, nur noch eine Quiche, Ratatouille oder Gemüselasagne für Sie in Frage. Auch wenn es für Sie nicht weiter schlimm ist, wenn Sie sich »nur von Beilagen« ernähren, wird der Gastgeber viel schwerer darüber hinwegkommen. Wahrscheinlich wird man Sie das niemals spüren lassen und Sie werden einen schönen Abend haben. Aber erwarten Sie kein Verständnis von ihren Gastgebern für Ihre Entscheidung, auf Fleisch zu verzichten.