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Schloss Wadenstierna
18. Dezember 1882
Seth stand mit zusammengebissenen Zähnen in seinem Zimmer und ließ sich ankleiden. Noch nie in seinem Leben war ihm so unwohl gewesen. Er schluckte und knetete seine Finger.
«Es würde mir die Arbeit sehr erleichtern, wenn Sie aufhören würden, die ganze Zeit zu zucken», bemerkte sein Diener Ruben sarkastisch, während er ihm den Frack hinhielt. «Diese Nervosität sieht Ihnen gar nicht ähnlich.»
Seth schnaubte. Er war nicht nervös. Er war kurz vor einem Kollaps. Nachdem er die Arme in den Frack gesteckt hatte, befestigte Ruben geschickt die Manschettenknöpfe, die Seth von Beatrice bekommen hatte. Seth senkte die Schultern. Sein Nacken war hart wie Granit, und jetzt fühlte es sich auch noch so an, als würde eines seiner Augenlider anfangen zu zucken.
«Ich muss Ruben zustimmen, ich finde, er sieht nervös aus», sagte Jacques, der mit ausgestreckten Beinen in einem Lehnstuhl saß.
«Unsicher und rotwangig», stimmte Johan vergnügt zu. Er lehnte sich an den Fensterrahmen und tauschte einen vielsagenden Blick mit dem Franzosen.
Seth murrte etwas Unverständliches. Seine Freunde zogen ihn schon seit einer Viertelstunde auf. «Wenn ihr zwei nichts Vernünftiges zu sagen habt, dann könnt ihr einfach gehen», moserte er die beiden grinsenden Männer feindselig an. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, doch weder Johan noch Jacques machten Anstalten, das Zimmer zu verlassen, im Gegenteil, sie fühlten sich ganz wie zu Hause.
«Wir überwachen nur die Situation», erklärte Jacques.
«Damit du nichts Unüberlegtes tust», fügte Johan hinzu.
Jacques inspizierte seine blankgewienerten Schuhe. «Ich war gar nicht nervös, als ich Viv geheiratet habe», teilte er mit. «Aber ich bin natürlich auch ein anderes Kaliber …», sagte er. «Er mag ja groß und gefährlich aussehen, aber eigentlich ist er nur ein kleiner verliebter Junge.»
Johan krümmte sich vor Lachen und klopfte sich auf die Schenkel. Auch Jacques wollte sich schier ausschütten.
«Ich habe ihn noch nie verängstigt gesehen», fuhr der Franzose munter fort. «Von diesem Anblick werde ich noch lange zehren. Die Mördermaschine des Deutsch-Französischen Krieges, der meistgefürchtete Industriekapitalist Europas, Feind Nummer eins der Aristokratie – schlotternd wie ein neugeborenes Lamm.»
Seth machte einen Schritt auf Jacques zu, und Johan wechselte rasch das Thema. «Hast du übrigens schon das Neueste von Edvard Löwenström gehört?», fragte er.
Jacques hörte sofort auf zu lachen. «Was ist mit Edvard?», erkundigte er sich ernst und warf einen argwöhnischen Blick zu Seth, der jedoch nur den Kopf schüttelte.
«Er ist doch im Frühjahr verschwunden», begann Johan, dem die stumme Zwiesprache zwischen den beiden entgangen war. «Offenbar war er in Deutschland, und da ist es ihm so richtig schlecht ergangen.»
«Tatsächlich?» Jacques warf Seth erneut einen fragenden Blick zu, doch der sah ihn nur mit ausdrucksloser Miene an. «Inwiefern?», wollte Jacques wissen. «Wieso ist es ihm schlecht ergangen?»
Johan lehnte sich wieder an den Fensterrahmen und zog eine Grimasse. «Details weiß ich auch nicht, aber er ist in einem Gasthaus in München wohl über ein Mädchen hergefallen. Er schleppte sie in eine Gasse und vergewaltigte sie, doch als er sie zwingen wollte, ihn in den Mund zu nehmen, da biss sie ihm den … na ja … äh …» Johan machte eine bedeutsame Geste auf seinen Schritt und die drei Männer stöhnten leise auf. «Und sie war nicht nur mit ihren Zähnen bewaffnet», fuhr Johan fort. «Anscheinend hat sie anschließend auch noch ein paar Mal mit dem Messer zugestochen. Es war reines Glück, dass er überlebt hat.» Johan schauderte. «Wenn man das nun Glück nennen will. Weder sein Auge noch sein … äh … ihr wisst schon … waren zu retten.»
Es wurde ganz still im Zimmer. Jacques runzelte die Stirn, und Ruben bürstete unsichtbare Staubkörnchen von Seths Frack, ohne aufzusehen.
Seth starrte aus dem Fenster. Zwei Wochen hatten Henriksson und seine Leute gebraucht, um Edvard in einem Münchner Armenviertel aufzuspüren. Und dann war Seths handfester Diener Ruben angereist, um Edvard zu erläutern, welche Vorteile es für ihn haben könnte, Europa zu verlassen und sich vielleicht auf einer der Westindischen Inseln niederzulassen, wo er – mit finanzieller Unterstützung von Seth – für immer bleiben sollte. Doch derartige Hinweise waren gar nicht mehr notwendig gewesen.
Der sadistische Edvard war ein letztes Mal zu weit gegangen und nun doch durch seine eigene Schuld zu Fall gekommen. Er konnte froh sein, dass er überhaupt noch lebte, dachte Seth. Wenn man so etwas als Leben bezeichnen wollte … Edvard hielt sich derzeit in einem Sanatorium in der Schweiz auf. Den Arztberichten zufolge, die Seth zugeschickt worden waren, war er entmannt und auf einem Auge blind. Außerdem konnte er aufgrund einer Lungenverletzung nur mühsam atmen und litt unter Schwindelanfällen. Es gab keine Hoffnung, dass seine verletzten Körperteile jemals ihre Funktion wiedererlangen würden. Seth bezweifelte sogar, dass Edvard überhaupt jemals wieder das Sanatorium würde verlassen können.
Seine Gedanken wanderten zu Wilhelm Löwenström. Sowohl Harriet als auch Sofia wollten nichts mehr von ihm wissen, nachdem sie von seinen Taten erfahren hatten. Sein Sohn war ein allseits verhasster Krüppel, sein Haus hatte er verloren, und Seth hätte wohl ein bisschen Mitleid für den alternden Mann empfinden sollen, doch er brachte es nicht fertig. Manchmal bekam so ein Mensch eben einfach, was er verdiente. Seth nickte Ruben zu. «Danke», sagte er ernst. «Für alles.»
«Bitte sehr», antwortete Ruben. Er wischte einen letzten vermeintlichen Staubfleck vom Frack des Bräutigams und trat einen Schritt zurück. «Und wenn ich das dem gnädigen Herrn sagen darf – sehen Sie zu, dass Sie es diesmal nicht verderben.»
Seth streckte ihm die Hand hin. «Diesmal nicht. Ganz sicher nicht», sagte er, und sie schüttelten einander die Hand.
In einem anderen Flügel des Hauses streckte Vivienne die Hand nach dem nächsten Keks aus und schob ihn sich in den Mund. Stöhnend legte sie die Füße auf einen Schemel. «Bald kann ich meine Füße nicht mehr sehen», jammerte sie. Sofia kicherte, während Colette Beatrice ein letztes Mal eingehend musterte. Sie befestigte eine Haarnadel, die sich aus der Hochsteckfrisur gelöst hatte. Beatrice hatte sich dünne Diamantkettchen in die lockere Frisur flechten lassen, und einige gelockte Haarsträhnen umspielten ihren Hals. «So, jetzt ist es so weit», sagte Colette und zog die Schutzhülle vom Brautkleid. Es war das erste Mal, dass Sofia und Vivienne das Kleid zu sehen bekamen, und sie seufzten erwartungsvoll. Colette und ihre Schneiderinnen hatten in der letzten Woche rund um die Uhr genäht, um rechtzeitig fertig zu werden.
Als der letzte stoffbezogene Knopf zugeknöpft war, trat die Schneiderin einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. «Nicht schlecht», meinte sie, doch die tiefen Grübchen in ihren Wangen verrieten, dass sie äußerst zufrieden war.
«Ich freue mich so für dich», sagte Sofia und schnäuzte sich.
Vivienne wedelte beifällig mit ihrem Taschentuch. «Aber tut es dir denn gar nicht leid, deinen Gräfinnentitel wieder abzulegen?», fragte sie. «Ich hätte zu gern einen Adelstitel. Jetzt wirst du wieder eine ganz normale Frau.»
«Du bist ein Snob, Viv», gab Beatrice zurück und strich sich eine Strähne hinters Ohr. «Ich bin eine ganz normale Frau. Es hat nie zu mir gepasst, eine Gräfin zu sein.»
«Na ja, ich schätze, es ist nicht ganz unerheblich, dass dein zukünftiger Mann monströs reich ist – das sind übrigens Jacques’ Worte, nicht meine.»
«Du übertreibst», sagte Beatrice, doch Vivienne schüttelte den Kopf. «Jacques und er reden ständig von Maschinen und Apparaten, Dampfloks und Elektrizität, und ich dachte immer, das ist bloß so ein albernes Hobby wie Krawatten sammeln oder Schiffe. Wer hätte gedacht, dass Technik so lukrativ werden würde? Anscheinend gehört dein Zukünftiger zu den vermögendsten Männern Europas.» Sie wedelte mit ihrem Taschentuch. «Aber was ist mit deiner Unabhängigkeit? Bist du wirklich sicher? Vergiss nicht, was du alles aufgibst, wenn du heiratest.»
«Das ist wohl nicht der richtige Moment», mahnte Sofia. «Und ich glaube auch nicht, dass Bea irgendetwas aufgeben muss. Hör jetzt auf, du machst sie bloß noch nervöser.» Sie drehte sich zu ihrer Cousine um. «Bea, vergiss das Atmen nicht. Und wir müssen gleich los, wenn wir es noch vor dir in die Kirche schaffen wollen», sagte sie und nickte Vivienne zu, die schnaufend aufstand.
Da klopfte es, und Seth trat ein.
«Es bringt Unglück, wenn der Bräutigam die Braut vor der Trauung sieht», rief Sofia erschrocken.
Seth zog eine Augenbraue hoch und blickte Beatrice an. «Das Risiko nehmen wir auf uns», meinte er.
«Gut, dann gehen wir jetzt zur Kirche», verkündete Sofia und machte eine auffordernde Handbewegung in Richtung Vivienne und Colette.
Ein Kleidungsstück wie der Frack war für Männer wie Seth erfunden worden, dachte Beatrice überwältigt, als sie nun allein waren. Er sah so elegant aus, dass es beinahe wehtat. Sie lächelte, als sie die mattgrauen Manschettenknöpfe entdeckte, sie hatte doch gleich gewusst, dass ihre nüchterne Eleganz zu ihm passen würde. Seth hielt ihr ein flaches Samtetui hin. Es war dunkelblau und trug den Schriftzug «Zackelius» in Goldbuchstaben auf dem Deckel.
«Für mich? Liebling, wir müssen uns wohl mal über deine gar zu spendierfreudige Seite unterhalten», sagte sie lächelnd, doch insgeheim versetzte es ihr einen Stich in die Brust. Nie hatte sie in all den Jahren etwas bekommen, so oft hatte sie danebenstehen und zusehen müssen, wie Sofia Geschenke erhielt, während sie sich einredete, sie sei nicht neidisch. Sie fragte sich, ob er das gespürt haben mochte.
«Das habe ich schon vor langer Zeit für dich gekauft. An dem Tag, an dem wir auf Irislund auseinandergingen», sagte er. «Weißt du noch?»
Sie nickte mit glänzenden Augen. Natürlich erinnerte sie sich.
«Es gab eine Zeit, da war ich sicher, dass du sie niemals tragen würdest, aber sie haben immer dir gehört», fuhr er ernst fort.
Beatrice nahm das Etui entgegen. Als sie es vorsichtig geöffnet hatte, blieb ihr die Luft weg. Die blauen Steine, die auf dem dicken blauen Samt ruhten, sahen aus, als wären sie lebendig und würde nur darauf warten, von ihrer rechtmäßigen Besitzerin getragen zu werden. Ehrfürchtig strich sie mit der Hand über das blaue Feuer der wundervollen Saphire. Zackelius. Auf einmal fiel ihr wieder ein, in welchem Zusammenhang sie den Namen schon einmal gehört hatte. Tante Harriet und Leonites Mutter hatten an jenem Tag über Seth und seine Liebhaberinnen geklatscht und über den teuren Schmuck, den er bei Zackelius gekauft hätte. Doch er hatte ihn für sie gekauft, nicht für eine andere. Für sie. Zum Kuckuck, jetzt fing sie auch noch an zu weinen. Das würde bestimmt Spuren auf ihrem sorgfältig gepuderten Gesicht hinterlassen.
Die Kirchenglocken von Wadenstierna ertönten bereits, als Beatrice aus dem Schlitten stieg, in dem sie den kurzen Weg zurückgelegt hatte. Die Kirche war Mitte des 14. Jahrhunderts vom ersten Eigentümer von Schloss Wadenstierna erbaut worden, und als Beatrice nun den fordernden Klang ihrer Glocken hörte, wurde ihr auf einmal ganz flau. Tat sie wirklich das Richtige? Langsam legte sie die Hand auf die Klinke und öffnete eine Seitentür.
Sofia empfing sie. «Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du gar nicht mehr kommst», flüsterte sie. «Warum hast du denn so lange gebraucht?»
Beatrice antwortete nicht und spähte durch einen Spalt in das Mittelschiff. «So viele Leute?», rief sie erschrocken, als sie die vollbesetzten Bänke sah und das erwartungsvolle Gemurmel hörte. «Was machen die denn alle hier?» Sie starrte ihre Cousine an. Die Kirchenglocken läuteten noch immer, und plötzlich fiel ihr das Atmen schwer. «Ich weiß nicht, was das alles für Leute sind. Wir können doch unmöglich so viele Leute kennen! Die ganze Kirche ist ja voll.» Sie drückte sich den Brautstrauß fest gegen die Brust.
«In den zwei vordersten Reihen sitzen wir, deine Familie und deine engsten Freunde. Mehr muss dich gar nicht kümmern», beruhigte Sofia ihre Cousine. Sie runzelte die Stirn. «Bea? Geht es dir gut?»
Beatrice zog die Tür des Nebenraums wieder zu und sah ihre Cousine verschreckt an. «Worauf hab ich mich bloß eingelassen? Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Was, wenn ich hier einen Fehler begehe? Habe ich mir das wirklich gut überlegt? Nein, habe ich nicht. Das ging alles viel zu rasch.» Sie atmete immer schneller und sah sich um. Ihr Blick blieb an der Tür hängen, die in die Freiheit hinausführte.
«Meine Liebe, was …?»
«Tut mir leid, Sofia, aber ich glaube, ich habe es mir anders überlegt. Es ist ein Irrtum, ich bin nicht bereit. Noch nicht. Ich weiß nicht, wie ich mir das vorgestellt habe. Ich will doch gar nicht heiraten, ich wollte allein leben, das hatte ich fast schon vergessen, aber jetzt weiß ich es wieder. Selbstständig und nicht abhängig von irgendeinem Mann.»
Rasch ging Sofia auf Beatrice zu. «Komm, ich helfe dir aus deinem Pelz», sagte sie. «Hier, halt du die Blumen, während ich dir die Schleppe richte. Nicht so fest, die gehen doch kaputt. Wo habt ihr eigentlich mitten im Dezember Freesien herbekommen?»
«Mir geht es gar nicht gut, ich glaube, ich muss mich übergeben», jammerte Beatrice.
«Du siehst wahnsinnig glücklich aus», beteuerte Sofia mit gespielter Fröhlichkeit, während sie behutsam den weißen Pelz über einen Stuhl legte. «Alles wird gut», murmelte sie.
«Aber das kannst du doch gar nicht wissen», rief Beatrice gereizt. «Wie kannst du bloß so etwas Dummes sagen?»
Sie hörten, wie die Kirchenorgel zu spielen begann, und Beatrice atmete schwer.
«Ich muss jetzt reingehen und mich zu Johan setzen», sagte Sofia. Sie drückte Beatrice die Hand. «Kommst du alleine zurecht?» Ihre Cousine starrte sie wortlos an. Sie war kalkweiß im Gesicht.
«Bea?»
«Was?»
«Du musst meine Hand loslassen.»
«Es geht mir gar nicht gut.» Beatrice deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür. «Geh raus und sag es ihnen. Wir müssen die Hochzeit auf einen anderen Tag verschieben, wenn es mir wieder besser geht.»
Sofia schüttelte resolut den Kopf. «Olav Erlingsen liebt dich wie eine Tochter. Seth betet den Boden an, auf dem du gehst. Alles wird gut.»
Automatisch nickte Beatrice, ließ Sofias Hand aber immer noch nicht los.
«Bea, schau mich an.» Sofia sah ihr fest in die Augen. «Das andere war falsch. Das hier ist richtig. Alles wird gut.»
«Ja», antwortete Beatrice und schluckte verängstigt.
«Da kommt dein Mann», sagte Sofia erleichtert, als Seth die Tür öffnete und mit großen, kraftvollen Schritten den Raum betrat. Sofia nahm die Hand ihrer Cousine und legte sie in seine.
Seine grauen Augen funkelten, und seine Kraft und das Gefühl von Geborgenheit, das er ihr gab, legten sich wie ein Mantel um Beatrice. «Du hast doch wohl keine Angst, chérie?», sagte er lachend.
Beatrice schnaubte und streckte den Rücken durch. Seth musste lächeln.
«Pass auf, dass sie dir nicht entwischt», flüsterte Sofia, bevor sie leise in das Kirchenschiff trat.
«Nein, jetzt ist sie die Meine», sagte Seth.
Braut und Bräutigam schritten nebeneinander her zum Altar. Der norwegische Pfarrer mit den klugen Augen stand vorn neben dem Chor unter den bunten Glasfenstern und blickte liebevoll auf das Paar, das er gleich trauen sollte.
Zufrieden betrachtete Colette das Kleid und die lange Schleppe, an denen sie so hart gearbeitet hatte. Es war ein ausgesprochen exquisites Brautkleid, stellte sie ganz objektiv fest, vielleicht sogar das beste, das sie je angefertigt hatte.
Sie hatten lange darüber diskutiert, ob Beatrice in Weiß heiraten sollte, und hatten sich schließlich für einen vanillefarbenen Seidenstoff entschieden, der mit Steinen bestickt war, die wie nordische Sternschnuppen glitzerten. Die lange, schwere Schleppe glitt über den Gang, und die trompetenförmigen Ärmel, die ebenfalls mit Steinen bestickt waren, fielen ausgezeichnet. Die zukünftige Frau Hammerstaal hatte keinen Schleier haben wollen, was Colette für eine kluge Wahl hielt. So bildete das rote Haar mit den eingeflochtenen Diamanten einen auffälligen Kontrast zu all dem funkelnden Glanz. Colette hatte dem Kleid einen zeitlosen Schnitt gegeben, mit tiefer sitzender Hüftpartie und einem viereckigen Ausschnitt. Es sah aus wie das Kleid einer Prinzessin aus einer mittelalterlichen Sage und passte perfekt zu Beatrices apartem Aussehen. Anstelle einer Bibel trug sie einen erlesenen Brautstrauß.
Die Kirche selbst war mit den verschwenderischsten Blumenarrangements dekoriert, die Colette je gesehen hatte. Wenn Monsieur Hammerstaal mitten im Dezember ein Meer aus frischen Blumen wünschte, besorgte er sich anscheinend einfach eines.
Colette betrachtete die Saphire um Beatrices Hals. Sie waren freilich ein wenig extravagant für eine Braut, aber es war ja schon ihre zweite Hochzeit, und die Saphire standen der Schwedin ausgezeichnet. Die Schleppe knisterte leise, als das Brautpaar an ihr vorüberging, und obwohl die Schuhe von dem langen Rock verdeckt waren, wusste Colette, dass Beatrice ein Paar Seidenschuhe mit hohem Absatz trug, die mit Schneeglöckchen bestickt waren. Seth hatte sie ihr gekauft.
Das Brautpaar schritt an den Gästen vorbei auf den Pfarrer zu. Als die große Frau in dem funkelnden Kleid neben dem ernsten, schwarz gekleideten Norweger am Altar stand, begannen Colette die Augen zu brennen.
Die letzten Töne des Chorals verklangen, und der Pfarrer erhob die Stimme. «Wir sind in Gottes Angesicht zusammengekommen, um die Trauung …» Colette schauderte erneut. Sie verstand die schwedischen Worte nicht und war auch nicht vertraut mit dem singenden nordischen Tonfall, doch auf einmal kam es ihr vor, als würden Generationen von Liebespaaren, die in dieser alten Kirche getraut worden waren, aufstehen und andächtig der Zeremonie lauschen, die Seth und Beatrice für den Rest ihres Lebens miteinander verbinden würde.
Viele Stunden nach der Trauung vibrierte Schloss Wadenstierna immer noch vom Gelächter der zahllosen Gäste, den knallenden Champagnerkorken und dem Klingen teurer Kristallgläser. Flackernde Fackeln erleuchteten die Winternacht und den Schnee, der immer noch vom Himmel fiel und die Landschaft unter einer dicken weißen Decke begrub.
Beatrice und Seth zogen sich gegen Mitternacht zurück. Sie gingen durch die Flure und hörten, wie die Geräusche des Festes allmählich von den dicken Steinwänden verschluckt wurden. Schließlich blieben sie vor einer Tür stehen, die Beatrice nicht kannte. «Das ist aber nicht dein Zimmer», stellte sie fest. Doch sie war neugierig. Wadenstierna war groß und vieles für sie noch unerforschtes Territorium.
«Das ist das große Schlafzimmer, auch Fürstenschlafzimmer genannt», erklärte Seth und hielt ihr die Tür auf. «Ich glaube, dass einer der Schlossbesitzer größenwahnsinnig war. Der Raum ist so übertrieben riesig, dass ich ihn bis heute nie benutzen wollte, aber jetzt habe ich ihn für uns herrichten lassen.»
Beatrice trat ein und sah sich um. Bis jetzt hatte jeder von ihnen sein eigenes Schlafzimmer besessen. Es war durchaus üblich, dass Ehepartner getrennte Schlafzimmer hatten, und insgeheim hatte sie schon befürchtet, dass sie es auch so halten würden. «Das ist ja wundervoll», rief sie daher entzückt, als er die Tür hinter ihnen schloss. An den Wänden hingen farbenfrohe Wandbehänge, der Boden war mit dicken Teppichen bedeckt, und die Decke war in hellen Farben gestrichen. Das gigantische Himmelbett hatte man mit cremefarbenen Stoffen bezogen, und im Kamin – der gut und gern drei Meter breit war – brannte ein riesiges Feuer gegen die Kälte, die durch die Ritzen der zahlreichen Fenster hereindringen wollte. «Wer ist das?» Beatrice deutete mit einem Nicken auf das große Porträt eines dunklen, ernst dreinblickenden Mannes.
«Das ist Markus Lucifer, der erste Besitzer von Wadenstierna. Ich mag seine grimmige Miene», antwortete Seth. Er trat neben sie. «Es ist Brauch, dass die Braut eine Morgengabe bekommt, einen symbolischen Dank für ihre Unschuld. Ich schätze, ich sollte eigentlich bis zum Morgen warten, aber da es sowieso schon ein bisschen spät ist …» Er reichte ihr einen dicken Umschlag, den er die ganze Zeit hinter dem Rücken versteckt hatte.
«Was ist das?», fragte Beatrice neugierig.
Seth sah zu, wie seine frisch angetraute Ehefrau mit gerunzelter Stirn das Kuvert öffnete, die Papiere mit den Stempeln und Siegeln herauszog und sofort begriff, was die komplizierten französischen Dokumente zu bedeuten hatten.
«Wie hast du das gemacht?», fragte sie leise.
Seth lächelte und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor er sie zart küsste. «Nichts ist schwer, wenn man die richtige Hilfe hat», erwiderte er. «Ich habe meinen Sekretär und seine Assistenten suchen lassen, bis sie das Haus deiner Mutter gefunden hatten. Es stand schon lange leer. Der Besitzer war richtig froh, es loszuwerden. Und jetzt ist es auf deinen Namen eingetragen.»
«Das Haus, in dem Mama ihre Kindheit verbracht hat! Du ahnst nicht, was mir das bedeutet. Oder vielleicht doch …» Sie las die Adresse laut und begann zu strahlen. «Heißt das, dass wir Vivienne und Jacques als Nachbarn haben werden?»
«Ja», bestätigte Seth.
Beatrice legte ihm eine Hand auf die Wange. «Ich weiß deine Geschenke wirklich zu schätzen. Aber ich will im Grunde nur dich. Alles andere ist mir unwichtig, sogar Mamas Haus», flüsterte sie.
Seth schluckte. Irgendetwas an dieser Frau machte ihn völlig hilflos. Doch als Beatrice hinter dem Handrücken ein Gähnen zu unterdrücken versuchte, musste er lächeln.
«Verzeih mir, aber es war ein ereignisreicher Tag», entschuldigte sie sich.
«Und er ist noch nicht zu Ende», flüsterte er und zog sie an sich.
Beatrice hob die Hände, um sich die Diamantketten aus dem Haar zu nehmen, doch Seth hielt sie zurück. «Nein, das will ich machen», bat er. «Erlaube mir, dass ich dich ausziehe.» Langsam, fast schon ehrfürchtig begann er, ihr die Haarnadeln aus der Frisur zu ziehen. Vorsichtig löste er die dünnen Kettchen, ließ die Finger durch ihr Haar gleiten und ordnete ihre Locken Strähne für Strähne. Beatrices Lider flatterten. Als er begann, ihr die Kopfhaut zu massieren, schloss sie genüsslich die Augen. Sehnsüchtig ließ er die Hände über ihren Rücken zu den Stickereien auf ihrem Kleid wandern. Sie drückte sich an ihn, weich wie ein kleines Kätzchen. Er hörte, wie sie erneut ein Gähnen unterdrückte. «Müde?», flüsterte er.
«Entschuldige», murmelte sie und stöhnte zufrieden auf, als er ihren Nacken sanft massierte. Er zog ihr das Kleid von den Schultern und knetete sie.
«Du hast so wundervolle Hände», sagte sie leise.
«Ist das schön so?», fragte er.
Sie nickte mit geschlossenen Augen, und er begann die kleinen Knöpfe auf der Rückseite ihres Brautkleids zu öffnen. Der schimmernde Stoff glitt zu Boden, und er hörte, wie sie erleichtert seufzte, als das schwere Kleid von ihr abfiel. Er führte sie zu dem hohen Bett, ließ sich auf die weiche Matratze fallen und zog sie zwischen seine Beine. Sehnsüchtig glitten seine Hände über ihre Arme und Hüften, bevor er ihr Korsett aufzuschnüren begann. Geschickt löste er die Schnüre, und das Korsett fiel ebenfalls zu Boden. Das dünne Hemd darunter verdeckte kaum etwas, es war fast durchsichtig und reichte nur bis zu ihren Oberschenkeln. Darunter trug sie einen der hauchzartesten Schlüpfer, die er mittlerweile schon kannte. Er zog Beatrice auf seinen Schoß, nahm ihr die Saphire ab und legte die Kette auf den Nachttisch. «Komm, leg dich zu mir», forderte er sie auf, und sie kuschelte sich an ihn.
«So ein weiches, warmes Bett», seufzte sie und schloss die Augen. «Schön, so eine weiche Decke. Ich muss mich nur kurz ausruhen. Ganz kurz. Damit ich wieder munter werde.»
«Beatrice?»
«Hm?»
«Bist du wach?»
«Absolut. Ich schließe nur meine Augen ein wenig. Mach du ruhig weiter mit …» Sie brach mitten im Satz ab.
Seth betrachtete die dunklen Wimpern, die auf ihrer Wange ruhten. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig unter dem dünnen Hemd. Er legte ihr eine Hand aufs Bein. «Beatrice?»
Keine Antwort.
Seth schüttelte den Kopf. Seine Braut war eingeschlafen.
Er blieb noch eine Weile neben ihr auf dem Bett sitzen und spürte, wie sich die letzte Anspannung in seinem Körper löste. Langsam lockerte er seine Krawatte und stand auf. Beatrice atmete ganz ruhig. Er deckte sie zu und begann, ihre Kleider vom Boden aufzusammeln. Das schwere Brautkleid und das Korsett landeten auf einem Stuhl, bevor er sich wieder aufs Bett setzte. Lächelnd zog er ihr die Schuhe aus, in die sie sich so verliebt hatte und die Colette auf seinen Wunsch hin mit nach Schweden gebracht hatte. Liebevoll strich er über ihre schlanken Beine, bevor er die bestickten Strümpfe herabrollte. Sie rührte sich nicht. Sie scheint ja völlig erschöpft zu sein, dachte er und deckte sie wieder zu. Dann zog er sich auch langsam aus. Er löschte die Kerzen, legte noch einmal Holz im Kamin nach und goss ein Glas Wasser ein, das er ihr auf den Nachttisch stellte, bevor er ins Bett stieg und neben ihr unter die Decke kroch. Schlaftrunken drückte sie sich an ihn. «Schlaf nur, mein Liebling, ich bin bei dir», flüsterte er und strich ihr übers Haar. Dann ließ er sich ebenfalls in die Kissen sinken, zog sie an sich und streichelte ihre Schulter.
Draußen schneite es immer noch, doch lange nicht mehr so dicht. Vielleicht würde es doch noch eine sternklare Nacht werden. Es war spät, weit nach Mitternacht, doch im Gegensatz zu seiner tief atmenden Frau war Seth noch nicht sonderlich müde.
Aber er erwartete ja auch kein Kind. Er lächelte in sich hinein. Seit ihrer Versöhnung in der Normandie hatten sie jede Nacht miteinander verbracht, und er war ganz sicher. Seine Beatrice kam um vor Müdigkeit, weil sie ein Kind von ihm erwartete. Und sie wusste es noch nicht einmal, so klug sie sonst auch war. Mit einer Hand auf ihrem immer noch flachen Bauch und dem anderen Arm um ihre Schultern blickte er aus dem Fenster. Sie murmelte etwas, schlief aber gleich weiter, und er gab endgültig die Hoffnung auf, sie noch in der Hochzeitsnacht zu lieben.
Das Feuer im Kamin verglomm allmählich, es hörte auf zu schneien, und Wadenstierna glitzerte im Mondlicht und im Funkeln der Sterne wie ein Juwel. Schließlich schlief auch Seth ein, mit seiner frischangetrauten Frau im Arm und ihrem Duft in der Nase.
In dieser Nacht schliefen die beiden endlich ohne Albträume.